Eskalation im Nahen Osten: Angst vor dem großen Krieg
Iran droht Israel mit Angriffen. In der Region wächst die Angst, während viele Iraner auf das Ende des Regimes hoffen.
D er iranische Revolutionsführer Ajatollah Chamenei kann sich nicht entscheiden, ob Israel ein „tollwütiger Hund“ oder eher ein „blutrünstiger Wolf“ ist. So bezeichnete der Kopf des islamistischen Regimes, das die iranischen Frauen unterdrücken, schlagen, verhaften, vergewaltigen, foltern und hinrichten lässt, den jüdischen Staat am Freitag, als er zum ersten Mal seit fünf Jahren das Freitagsgebet in Teheran leitete. Das letzte Mal war Chamenei ans Mikrofon getreten, nachdem Kassem Soleimani, Kommandeur der Kuds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, bei einem amerikanischen Luftschlag in Baghdad getötet wurde.
Der Kampf der Palästinenser gegen das „Usurpatoren-Regime“ sei legitim. Israel das Werkzeug der USA, um die Ressourcen der Region zu kontrollieren. Jeder Schlag gegen dieses Regime sei daher ein Dienst an der Region und an der gesamten Menschheit, meint der Ajatollah. Der „Al-Aksa-Sturm“, also das Töten, Vergewaltigen und Entführen von Juden und Beduinen am 7. Oktober, habe das israelische Regime um 70 Jahre zurückgeworfen, es kämpfe um sein Überleben.
Welch drastische Folgen die iranische Staatsdoktrin, Israel müsse um jeden Preis zerstört und Jerusalem „befreit“ werden, auch für die Menschen in Gaza und im Libanon hat, verschwieg der Revolutionsführer. Er drohte stattdessen mit einem erneuten Angriff Irans auf Israel.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
In der Nacht auf Mittwoch hatte Teheran 181 ballistische Raketen auf Israel abgefeuert, anders als im April ohne Vorwarnung. Zwar lässt sich dieser Angriff kaum als Erfolg verkaufen: Die meisten Geschosse wurden abgefangen oder schlugen weitab von jedem Ziel in unbewohntem Gelände ein, einige allerdings sollen Armeestützpunkte getroffen haben. Im von Israel besetzten Westjordanland wurde dabei ein Palästinenser getötet. Dennoch hat Regierungschef Netanjahu sofort einen harten Gegenschlag angekündigt.
Währenddessen ist Bir Hassan zur Geisterstadt geworden. Das Viertel liegt am nördlichen Rand der zusammen Dahiyeh genannten Vorstädte von Beirut. Die Straßen scheinen ausgestorben, und die Fenster der teuren Wohnblöcke bleiben auch am Abend dunkel. Selbst die Straßenkatzen, die sonst zwischen den geparkten Autos umherhuschen, scheinen verschwunden – ebenso wie viele der Autos. Das Brummen einer israelischen Drohne begleitet die wenigen, die noch in Bir Hassan geblieben sind, durch den Tag.
Begonnen hat die Eskalation am 7. Oktober 2023
Eine ältere Frau, die Wangen wettergegerbt, das schwarze Kopftuch tief in die Stirn gezogen, blickt von einem der Balkone hinunter und verschwindet dann schnell wieder in der Wohnung. Wenn sie von ihrem Balkon aus Richtung Osten blickte, würde sie in der Ferne zwei Dinge erkennen: den gigantischen Gebäudekomplex der Botschaft der Islamischen Republik Iran, mit ihren unverkennbar persischen Mosaiken und dem Plakat, das an der Außenwand zur Straße hängt. Darauf das „Who’s who“ der Revolutionsgarden und der iranisch angeführten „Achse des Widerstandes“: Kassem Soleimani, Hassan Nasrallah. Und richtete sie den Blick etwas weiter die Straße hinauf, sähe sie ein Gebäude, dessen obere beide Stockwerke nur noch Gerippe sind. Ein israelischer Luftangriff, der wohl einer Hisbollah-nahen Person galt, hat es zerstört.
Begonnen hat diese Eskalation des Nahostkonflikts am 7. Oktober 2023, als Mordkommandos der Hamas Israel überraschen konnten, den Sperrzaun zwischen Gaza und Israel durchbrachen, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge ermordeten und nach Gaza entführten. Die israelische Armee brauchte Stunden, um Herr der Lage zu werden. Die israelische Regierung hatte nun zwei Optionen, die Wahl zwischen Pest und Cholera. Option Nummer eins: eine begrenzte militärische Antwort gegen Protagonisten und Gebäude der Hamas, dann eine Waffenruhe, um die Geiseln gegen palästinensische Gefangene auszutauschen. Iran und alle anderen Islamisten in der Region hätten das als Triumph gefeiert. Der beispiellose Terrorangriff von Irans Truppe in Gaza wäre belohnt, weitere solche Operationen ermutigt worden.
Option Nummer zwei: der Hamas ernsthafte Verluste zuzufügen, das Leben der Geiseln hintanstellen und massiv militärisch gegen die Infrastruktur der Hamas vorgehen, was angesichts der Schutzschildstrategie der Terroristen absehbar zu sehr vielen zivilen Opfern führen und dem Image Israels in der Welt schweren Schaden zufügen würde. In beiden Fällen konnte Israel nur verlieren.
Die israelische Regierung entschied sich für für Option Nummer zwei, unter anderem auch, weil Premier Benjamin Netanjahu keine Strategie für eine Deeskalation hat oder haben will. Er war es ja selbst gewesen, der die Hamas in den vergangenen Dekaden groß werden ließ, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. Die Hamas-Strategen bekamen also, was sie wollten, Zehntausende starben durch Bomben in Gaza. Und doch hatte sich die Terrororganisation verschätzt, weil sie nicht mit einer so massiven Operation rechnete.
Weiter ging die Eskalation einen Tag später, am 8. Oktober 2023, als die Hisbollah Israel mit Raketen angriff. Unter dem Aufmerksamkeitsradar der Weltöffentlichkeit ist seitdem kein Tag vergangen, an dem keine Raketen aus dem Libanon auf Israel abgefeuert wurden. Hisbollah-Führer Nasrallah verknüpfte seine Raketenkampagne mit der Bedingung, er werde erst damit aufhören, wenn es einen Waffenstillstand in Gaza gebe. Auch er hatte sich verschätzt. Israel gab nicht klein bei und attackierte schließlich die Führungsebene und das mittlere Management des militärischen Flügels der islamistischen Organisation. Auch im Libanon leiden nun die Menschen, über tausend sind bereits gestorben, viele sind als Binnenflüchtlinge gestrandet.
Viele in Israel haben den Tod von Nasrallah begrüßt
Spätestens seit dem 27. September leert sich die Beiruter Vorstadt Bir Hassan. An jenem Freitag erschütterte eine Explosion die Vorstadt: Mit bunkerbrechenden Bomben zielte Israel auf Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, der in einem Bunker unter Wohnblöcken im Viertel Haret Hreik sitzt. Einige Tage später war klar: Der Hisbollah-Chef ist tot. In der Nacht rief das israelische Militär an verschiedenen Orten Dahiyehs zur Evakuierung auf. So ging es seitdem weiter: In der Nacht, meist gegen Mitternacht, kommt die erste Evakuierungsaufforderung. Nach einer halben Stunde ertönt die erste Explosion. Das bisherige Maximum waren fünf verschiedene Aufforderungen in einer Nacht. Etwa eine Woche nach dem Tod Nasrallahs erschütterte erneut eine Explosion Dahyieh. Dem Geräusch der Explosion zufolge kamen wohl auch hier bunkerbrechende Bomben zum Einsatz. Das Ziel war nach Angaben Israels Hashem Safieddine, der Nachfolger Nasrallahs. Immerhin waren zu diesem Zeitpunkt wohl kaum noch Zivilistinnen und Zivilisten in Dahiyeh.
Viele in Israel – und einige in den benachbarten Staaten – haben den Tod von Nasrallah begrüßt. Auf dem regierungstreuen Kanal 14 wurde mit Musik und Israel-Fähnchen gefeiert, im moderateren Kanal 12 lud der Talk-Show-Host Amit Segal seine Gäste ein, mit Arak anzustoßen. Die meisten lehnten ab. Der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir verteilte bei einer Sitzung mit Parteimitgliedern Baklava. „Lasst uns so viele von ihnen unter die Erde bringen, wie wir können“, sagte er. In den Straßen von Tel Aviv und Jerusalem erlebte ein Song aus dem Libanonkrieg 2006 ein Comeback. Darin heißt es über Nasrallah: „Wir schicken dich zu Allah, und mit dir die Hisbollah.“ Mit seiner modernen Luftwaffe und Raketentechnik ist Israel der Hisbollah, die ebenfalls über moderne Raketen und insgesamt über ein geschätztes Arsenal von 150.000 Raketen verfügt, noch immer voraus.
Schlecht hingegen läuft offenbar die Bodenoffensive des israelischen Militärs im Südlibanon, weswegen die Ausgelassenheit in Israel nicht lange anhielt. Schon in den ersten 24 Stunden nach dem israelischen Vorrücken in den Libanon am Dienstag wurden laut der israelischen Armee bereits acht Soldaten bei Gefechten mit der Hisbollah getötet. Mindestens neun sind es inzwischen, nach Angaben der Hisbollah deutlich mehr, über 20. Das Gelände ist Medienberichten zufolge vermint, die Hisbollah hat sich tief in die Dörfer und die hügelige Landschaft des Südlibanon eingegraben – teils wortwörtlich. Wer in einem bekannten Gelände auf Angreifer wartet, hat den militärischen Heimvorteil. In dem Guerillakrieg, der im Süden wohl ins Haus steht, hat Israel weniger strategische Vorteile. Technologische Überlegenheit ist hier tendenziell weniger kriegsentscheidend. Die Meldungen aus der Kampfzone befeuern in Israel die Angst vor einem langen und verlustreichen Krieg.
Die Lage im Libanon entwickelt sich derweil zur humanitären Katastrophe – und beginnt in manchen Punkten an Gaza zu erinnern. Aus drei Gebieten im Libanon sind die Menschen bereits geflohen: aus Südbeirut, aus dem Südlibanon und aus der Bekaa-Ebene im Ostlibanon, in allen drei Gebieten ist die Hisbollah stark präsent. Der Libanon ist ein flächenmäßig kleines Land, dazu noch seit 2019 von einer schweren Wirtschaftskrise betroffen. So verdienen nach dem Währungscrash in den Jahren 2019 und 2020 etwa Soldaten der libanesischen Armee Berichten zufolge noch etwa 200 US-Dollar im Monat – während die Mietkosten für eine kleine Wohnung in einem der als sicher geltenden Viertel von Beirut oft bei 400 US-Dollar beginnen.
Der Libanon hat – im Gegensatz zu Israel – kaum Ressourcen, um seiner Bevölkerung zu helfen. Fast jeder hier kennt Geschichten von Betroffenen. Eine junge Frau namens Rayan etwa lebt in Dekweneh, einem christlich geprägten Viertel in Ostbeirut. Es gilt als sehr sicher. Ihr Freund lebte mit seiner Familie in Dahiyeh – bis zur vergangenen Woche. Das Haus der Familie existiert nicht mehr. Sie alle sind nun bei Rayan untergekommen, in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Eine andere junge Frau flüchtete mit ihrer Familie aus dem Südlibanon in die südliche Großstadt Saida – nur um dort erneut vor Luftschlägen um ihr Leben zu fürchten und die Weiterflucht zu planen.
In den sicheren christlichen Vierteln Beiruts wächst bei so manchen das Misstrauen: Was ist, wenn unter den aus dem Süden Flüchtenden Hisbollah-Mitglieder sind? So manche Wohnung dort bleibt leer. Die Besitzer weigern sich, an Flüchtlinge aus dem Süden zu vermieten.
Die Region steht am Rande eines großen Krieges
Weil Israel nun schon zum zweiten Mal einen Luftangriff auf Beirut und nicht nur auf die südlichen Vororte flog, wächst die Sorge vor einer erneuten Welle an Flüchtenden. Was, wenn immer mehr Orte im Libanon – denn das israelische Militär weist immer mehr Dörfer im Süden, teils über zwanzig Kilometer tief im Landesinneren, zur Evakuierung an – zum Kriegsgebiet werden? Die UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, warnt: Die fast 900 verfügbaren Notunterkünfte im Libanon sind nun gefüllt.
Die israelischen Luftangriffe der vergangenen zwei Wochen seien weltweit die „massivsten der vergangenen 20 Jahre, abgesehen vom Gazastreifen“, sagte die Chefin der britischen NGO Airwars der Washington Post. Binnen zwei Wochen sind mehr als 1.200 Menschen getötet worden. Nach libanesischen Angaben wurden 1,2 Millionen vertrieben. Am Montag drangen israelische Truppen erstmals seit fast zwei Jahrzehnten in den Libanon ein. Die Armee spricht von „begrenzten, gezielten Vorstößen“. Doch die stetig wachsende Liste an Evakuierungsaufforderungen lässt einen groß angelegten Einmarsch befürchten.
Die Region steht am Rande eines großen Krieges und sowohl mit Blick auf den Libanon als auch auf Iran stellt sich für Israel die Frage: Was will man erreichen? Und lässt es sich überhaupt militärisch erreichen?
Als Ziel der Operation im Libanon gilt zum einen, die rund 60.000 aus dem israelischen Grenzgebiet vertriebenen Bewohner zurückzubringen und die Hisbollah-Kämpfer von der Grenze zurückzudrängen. Die auf Israel gerichteten Raketen und die Kämpfer der Hisbollah-Eliteeinheit Radwan hinter der Grenze waren für viele Israelis schon vor dem 7. Oktober eine ständige Bedrohung. Nach den Massakern der Hamas ist man sich im ansonsten tief gespaltenen Israel einig, mit dieser Bedrohung nicht länger leben zu können. Das erklärt die breite Unterstützung in der Bevölkerung für die Offensive gegen die Hisbollah. Selbst der Parteichef der linken „Demokraten“, Jair Golan, ist dafür und fordert gar eine „temporäre Besatzung“ eines schmalen libanesischen Grenzstreifens.
Regierungschef Netanjahu aber hat weitreichendere Ziele. Er kündigte bei einer Rede vor den Vereinten Nationen vergangene Woche erneut an, die Hisbollah müsse „besiegt“ werden. Dieses Ziel wurde zwar schon gegen die wesentlich schlechter ausgerüstete Hamas im Gazastreifen nicht erreicht, wo nach einem Jahr und an die 41.000 toten Palästinensern, darunter viele Frauen und Kinder, noch immer gekämpft wird. Doch für Netanjahu könnte das kein Widerspruch sein: Seine Kritiker werfen ihm schon lange vor, dass er den Krieg bewusst in die Länge ziehe. Der Schlag auf Nasrallah kam laut der libanesischen Regierung, kurz nachdem die Hisbollah ihre Bereitschaft für eine 21-tägige Waffenruhe erklärt hatte.
Die Frage ist nicht, ob Israel zurückschlägt, sondern wann
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das militärische Vorgehen Israels im Libanon in der Vergangenheit Bedrohungen höchstens kurzfristig beseitigt hat. Die Hisbollah selbst konnte nach ihrer Gründung an Macht gewinnen, nachdem Israel im Libanonkrieg 1982 die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) von Jassir Arafat aus dem Land vertrieb. Der getötete Nasrallah nahm seinen Platz an der Spitze der Organisation ein, nachdem sein Vorgänger Abbas al-Musawi 1992 von einem israelischen Kampfhubschrauber getötet wurde. Und auch diesmal scheint es wie schon in Gaza keinen Plan für den Tag danach zu geben.
Israel habe seine „geheimdienstliche und militärische Überlegenheit bewiesen“, schreibt Sanam Vakil, die Leiterin der Nahost- und Nordafrika-Abteilung des britischen Thinktanks Chatham House. Doch obwohl das Land erfolgreich die Ausschaltung von Bedrohungen vorantreibe, habe die Geschichte gezeigt, dass militärische Siege Israel nie die Sicherheit gebracht hätten, die es suche. „Sowohl die Hisbollah als auch die Hamas sind zwar geschwächt, aber noch lange nicht am Ende. Die Fortsetzung der Kämpfe wird zweifellos eine neue Generation von Kämpfern mobilisieren, wenn nicht sogar radikalisieren.“
Auch mit Blick auf den Iran ist weniger die Frage, ob Israel zurückschlagen wird, sondern wann und wie. Vorstellbar sind Angriffe auf militärische oder wirtschaftliche Ziele oder ein Schlag auf das iranische Atomprogramm. Letztere Option wurde in Israel nach dem Raketenangriff am Dienstag mehrfach gefordert. Experten bezweifeln jedoch, dass die israelische Armee die übers Land verteilten und oft unterirdisch geschützten Anlagen in einem einzigen Angriff erreichen könnte. Ein Angriff auf weniger geschützte Anlagen könnte hingegen den Iran weiter in seinen Bestrebungen befeuern, eine Atombombe herzustellen. Auch militärische Ziele wie die iranischen Drohnen und Raketenstützpunkte sollen laut Medienberichten unterirdisch gebaut und darauf ausgelegt sein, Luftangriffen zu widerstehen.
Andere Aufrufe zur Zurückhaltung aus der internationalen Gemeinschaft dürften in Israel auf taube Ohren fallen. Die wachsende Kritik an der israelischen Kriegsführung und der humanitären Katastrophe im abgeriegelten Gazastreifen haben das Land zunehmend isoliert. Erst am Donnerstag warf der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell israelischen Soldaten wegen Angriffen auf Sanitäter in Beirut eine Verletzung des humanitären Völkerrechts vor. Die Verhängung eines Einreiseverbotes gegen UN-Generalsekretär António Guterres am Mittwoch verstärkt diese Entwicklung weiter. Dieser habe den Raketenangriff des Iran nicht eindeutig genug verurteilt, sagte Außenminister Israel Katz. Guterres hatte auf Twitter geschrieben: „Das muss aufhören, wir brauchen eine Waffenruhe.“
Verkalkuliert hat sich aber neben Hamas und Hisbollah auch das Regime in Teheran. Bis zum April konnte es seinen Stellvertreterorganisationen in der „Achse des Widerstands“ die Arbeit an der Zerstörung Israels überlassen. Angesichts der Tötung des Hamas-Führers Ismael Hanijeh in einem Gästehaus der Revolutionsgarden durch Israel mitten im Iran sah sich das Regime aber genötigt, zum ersten Mal selbst Israel anzugreifen. Am 13. April waren 300 Raketen und Drohnen in Richtung Israel gestartet. Der Angriff war vorher angekündigt worden, wurde zu 99 Prozent abgewehrt und noch in der Nacht von der Nachricht des iranischen Regimes auf Twitter begleitet, die Sache sei damit „abgeschlossen“.
Ein Schlag gegen die iranische Öl-Infrastruktur wird diskutiert
Der Angriff markierte eine Zäsur. Erstmals in der Geschichte beider Staaten hatte der Iran Israel offen attackiert. Nach der Tötung Nasrallahs und der empfindlichen Verluste von Hisbollah folgte in dieser Woche der Angriff mit ballistischen Raketen. Das setzt nun aber den amerikanischen Präsidenten Joe Biden unter Druck, den lautstarken Forderungen der amerikanischen Rechten nachzugeben und Israel auch bei einem Angriff auf den Iran Rückendeckung zu geben.
Sehr wahrscheinlich wird der israelische Gegenschlag härter ausfallen als im April. Aktuell wird laut US-Präsident Joe Biden zwischen den USA und Israel bereits ein Schlag gegen die iranische Öl-Infrastruktur diskutiert.
Lediglich einen Angriff auf das iranische Atomprogramm lehnt Washington ab. Doch Netanjahu hat sich im vergangenen Jahr so häufig über die Forderungen seines engsten Verbündeten hinweggesetzt, dass diese Ansage eher als Ratschlag denn als strikte Vorgabe gelten kann.
Beobachter in Israel weisen darauf hin, dass der Premier sich schon lange eine militärische Eskalation mit dem Iran wünsche, welche die USA zu einer Teilnahme zwingen und möglicherweise zu einem amerikanischen Angriff auf Teheran würde. Zugleich wird befürchtet, dass Putin seine Verbindungen zum iranischen Regime vertieft und Öl ins Feuer gießt, um noch mehr Chaos und Flüchtlingströme zu erzeugen, die den Westen destabilisieren sollen.
Bereits vor dem iranischen Angriff auf Israel hatte sich Netanjahu in einer Ansprache an die Iraner gerichtet und gesagt, das Regime, das sie unterdrücke, könne früher fallen, als sie sich das vorstellen könnten. Für die Regimetreuen im Iran erscheint angesichts dessen die Anwesenheit von Revolutionsführer Chamenei beim Freitagsgebet als Zeichen seiner Furchtlosigkeit und als „Demütigung des Feindes“. Auf sozialen Netzwerken spekulierten vorab manche, dass Israel das Gebetsgelände, den „Mossalla“ in Teheran, direkt angreifen könnte.
Viele haben das Vertrauen in eine friedliche Veränderung verloren
Während Regimeanhänger*innen die jüngsten iranischen Raketenangriffe auf Israel in großen und kleinen Städten feiern und eine weitere Eskalation fordern, hat die Realität der Bedrohung die gesamte iranische Gesellschaft erfasst. Die sozialen Netzwerke spiegeln zunehmend Sorgen vor einem verheerenden Krieg wider. Diese Angst ist allgegenwärtig und steht im Kontrast zu den offiziellen Staatsmedien, die den Konflikt und die angebliche Unbesiegbarkeit des Iran verherrlichen. In einer Umgebung, in der kritische Stimmen zum Thema Israel systematisch verfolgt werden, bleibt nur wenig Raum für öffentliche Debatten über die Gefahren eines Krieges.
Doch in privaten Gesprächen und auf den sozialen Plattformen zeigt sich ein anderes Bild. Farid*, ein 27-jähriger Ingenieurstudent aus Teheran, äußert seine Bedenken: „Auf der einen Seite haben wir die regierungstreuen Hardliner, die so verblendet sind, dass sie glauben, im Krieg gegen Israel und seine westlichen Verbündeten eine Chance zu haben. Auf der anderen Seite gibt es einige Regimegegner*innen, die meinen, dass das Regime um jeden Preis gestürzt werden muss – selbst auf Kosten eines Krieges, der das Land zerstören und ungezählte Leben kosten könnte. Was fehlt, ist eine Antikriegsbewegung, die aber gleichzeitig regimekritisch ist.“
Sepideh*, eine 35-jährige Englischlehrerin, sieht die Dinge anders: „Krieg ist verheerend und fordert unschuldige Menschenleben. Aber es scheint, als könnten wir Iraner*innen dem Regime alleine nicht mehr entgegentreten. Wenn ein israelischer Angriff das Ende dieser Herrschaft bedeuten würde, wäre es das vielleicht wert.“
Viele Menschen hätten angesichts von Armut, Korruption und der repressiven Herrschaft der Mullahs das Vertrauen in eine friedliche Veränderung verloren, sagt Fariba*, eine Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie fügt hinzu: „Es ist tragisch, aber einige Menschen sind so verzweifelt, dass sie sagen: Wenn der Preis für die Freiheit der Krieg ist, dann sind wir bereit, ihn zu zahlen.“ Diese Haltung mag naiv erscheinen, doch sie ist ein Teil der Realität im Iran von heute.
Dennoch bleibe die Macht über das Schicksal des Landes fest in den Händen von Ayatollah Khamenei und den Revolutionsgarden, sagt Fariba. Während die Opposition und die Bevölkerung über die Zukunft des Landes streiten, liege die Entscheidung über eine Eskalation des Konflikts letztlich bei den Führern des Regimes. Für Khamenei zählen weder die Sorgen der Opposition noch die Ängste der einfachen Menschen – entscheidend sind allein die strategischen Interessen der Revolutionsgarden und ihrer fanatischen Anhänger.
*Die Namen der iranischen Gesprächspartnerinnen wurden von der Redaktion geändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene