Deutsche Asyldebatte: Einfach mal übergehen

Grenzkontrollen wecken im Nachbarland Polen ab einem gewissen Alter düstere Erinnerungen. Absprachen hätten dem bilateralen Verhältnis gutgetan.

Schwarz-weiß-Aufnahme eines Grenzbeamten an der deutsch-polnischen Grenze. Er blickt durch sein Fernglas nach Polen

Görlitz, 16. November 1993: ein Grenzschützer beobachtet die Grenze an der Neiße Grenze zwischen Deutschland und Polen Foto: Sepp Spiegl/imago

Die Briten wissen, dass die Schließung der Grenzen das Migrationsproblem nicht löst. Doch in Deutschland soll genau diese Grenzschließung stattfinden. Im Osten und Westen Europas wird das ganz unterschiedlich wahrgenommen. Für Generationen von Menschen, die wie wir hinter dem Eisernen Vorhang im kommunistischen Polen geboren wurden, haben die offenen deutschen Grenzen eine nicht zu überschätzende symbolische Bedeutung.

Als Teenager besuchten wir in den 1990er Jahren Sprachschulen in England und Frankreich. Die endlos langen Busreisen wurden noch mal deutlich verlängert durch die Stunden des Wartens an der deutsch-polnischen Grenze. Wir empfanden es als einen Angriff auf unsere Würde – die Würde der Bürger, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs durch Europa reisen wollten.

Der einfache deutsche Grenzbeamte schien bei der Prüfung unserer Pässe eine geheime Macht auszuüben – schließlich trug er die Schlüssel zu den Abenteuern in den westeuropäischen Ländern, von denen wir träumten. Er konnte uns weiterreisen lassen oder uns wieder nach Hause schicken. Die Öffnung dieser Grenze, den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zum Schengen-Raum, empfanden wir wie einen frischen Wind. Es war die Wiederherstellung von lang ersehnter Freiheit und Würde.

Diese Grenze jetzt zu schließen, ohne die Nachbarn zu konsultieren, erscheint wie eine populistische Geste in Reaktion auf das Erstarken der AfD. Eine Geste, die so übereilt wie unwirksam ist. Europa bräuchte heute etwas ganz anderes. Wir erleben die langsame Agonie der Europäischen Union – sagte vor Kurzem einer der größten Europaenthusiasten, der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi.

Vorsicht vor Abschottung

Er kündigte einen umfassenden Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Vergleich zu den USA und China an. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Die EU liegt weit hinter den mächtigsten Ländern der Welt zurück. Um daran etwas zu ändern, bräuchten wir sofort umfassende Investitionen. Aber wie soll das gehen in einer Zeit, in der alles darauf hindeutet, dass Deutschland eher in Isolationismus versinken wird, als die europäische Kooperation zu vertiefen?

Dem Motor Paris/Berlin ist schon lange die Puste ausgegangen. In Frankreich bricht das Haushaltsdefizit neue Rekorde. In Deutschland kämpft die kreative staatliche Haushaltsführung mit den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, steigenden Gas- und Ölpreisen und der Abschottung des chinesischen Marktes. Die Ohnmacht wird jedoch von Ungeduld begleitet. Vielleicht ist das der Grund, warum Lösungen zunehmend in den Programmen der Populisten gesucht werden. Es gibt jedoch ein grundlegendes Problem mit dieser Copy-and-Paste-Strategie.

Populisten werden in der Migrationspolitik immer radikaler sein. Wenn die derzeitige Regierung über Grenzkontrollen spricht, wird die radikale Rechte über den Bau einer Mauer oder die Ausweisung bereits in Deutschland lebender Migranten sprechen. Wollen die deutschen Politiker wirklich die Strategie aufgreifen, die in Europa zum Beispiel schon Polen und Dänemark praktizieren? Und die Elemente des Programms der populistischen Parteien übernehmen, um sie zu schwächen?

Unmöglich wäre das nicht, aber es erforderte Nachdenken und Vorsicht. Zu schnelle, unüberlegte Lösungen können die Idee der liberalen Demokratie bedrohen. Und auch noch etwas anderes. Am Ende dieses Wettrennens um schnelle Lösungen steht ein Austritt aus der Europäischen Union.

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ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.

ist Chefredakteur des polnischen Online-Wochenblatts Kultura Liberalna und Pop-Back-Fellow an der Universität Cambridge.

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