Sachsens Ministerpräsident im Wahlkampf: Er will mit Feuer löschen
Michael Kretschmer möchte gegen die AfD gewinnen. Unermüdlich zieht er vor der Landtagswahl von Biertisch zu Biertisch – auf einem sehr schmalen Grat.
Das sei Unfug, antwortet Kretschmer. Niemand sage, alle AfD-Wähler seien rechtsradikal. „Aber ich bin der festen Überzeugung, dass Björn Höcke ein Nazi ist.“ Und wer „Volksverräter“ auf Plakate schreibe, der meine das so. „Solchen Leuten darf man keine Verantwortung geben.“
Michael Kretschmer, 49, Christdemokrat, seit 2017 Ministerpräsident von Sachsen, ist seit Monaten im Dauerwahlkampf. Am 1. September wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt, in den Umfragen liefert sich die CDU mit der AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz eins. Seit 1990 stellt sie hier den Ministerpräsidenten; bei der Landtagswahl nicht vorn zu landen, wäre ein harter Schlag. Deshalb zieht Kretschmer scheinbar unermüdlich durchs Land und spricht mit den Menschen, auffallend intensiv.
An diesem Abend ist er in Eibau, im Faktorenhof, einem schön restaurierten Dreiseithof, in dem es ein Restaurant, ein Heimatmuseum und ein Hochzeitszimmer gibt. Bratwürste brutzeln auf dem Grill, Bier wird gezapft, 200 Leute sind gekommen. Erst spricht der Direktkandidat vor Ort ein paar Worte, dann Kretschmer, dann ziehen die beiden von Tisch zu Tisch. Schlägt man so die AfD?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Grenzpolizei statt Sprachpolizei“
Kretschmer versucht wohl, die Landtagswahl mit Stimmen rechts von der Mitte zu gewinnen. Ständig haut er neue Forderungen raus, auch mal alte, die provozieren: eine Obergrenze für Geflüchtete, eine Beweislastumkehr für Bürgergeldempfänger, Friedensverhandlungen mit Russland. Gerne prügelt er auch auf die Ampelkoalition im Bund ein. Auf den CDU-Plakaten geht es um Bildung und Handwerk, vor allem aber um Sicherheit und Migration: „Recht und Ordnung durchsetzen“, „Kriminelle hassen die CDU“, „Grenzpolizei statt Sprachpolizei“.
Manche sagen, dass Kretschmer dem Druck der Straße nachgibt, den Leuten nach dem Mund redet. Aber so einfach ist das nicht. Wer mit ihm von Biertisch zu Biertisch zieht, hört nicht nur, dass Björn Höcke ein Nazi ist. Was eine Zusammenarbeit mit der AfD angeht, steht die Grenze für ihn auf der Landesebene. Bei dem allerdings, was sich davor abspielt, auf kommunaler Ebene, ist Kretschmer geschmeidig und scheut auch das Populistische nicht.
Man kann nun sagen: Anders geht es nicht, wenn man hier für die CDU gewinnen will. Die sächsische CDU ist traditionell rechts, viele der Wähler*innen sind es auch, denen muss man entgegenkommen. Doch es ist eben ein schmaler Grat, auf dem sich Kretschmer bewegt. Wann bindet man noch die eigenen Leute? Wann betreibt man das Geschäft der AfD? Und zahlt die Diskursverschiebung langfristig nicht unweigerlich bei den Rechtsextremen ein? So war es vielerorts, in Großbritannien, Frankreich, Italien.
„Mit Blick auf die AfD ist Kretschmer Opfer und Täter zugleich“, sagt Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. „Im Wahlkampf kämpft er mit jeder Pore seiner Existenz gegen die AfD. Aber weil er Wähler von dort zurückgewinnen will, ist er auf der inhaltlichen Seite bereit, Zugeständnisse zu machen.“ Michael Kretschmer versuche, den AfD-Wählern zu suggerieren, sie könnten doch auch bei der CDU sein, manche Ziele seien ähnlich, aber der Weg unterschiedlich. „Das trägt zur Normalisierung der AfD bei.“
Kretschmer lebe von der Defensive
Schroeder meint, dass Kretschmer auch einen ganz anderen Wahlkampf machen könnte. Am Dienstag war dieser beim Spatenstich für die erste europäische Chipfabrik der taiwanesischen Firma TSMC, die mit Milliardenzuschüssen der Bundesregierung bei Dresden im „Silicon Saxony“ entstehen soll. Sachsen habe ein großes Investitionsvolumen, es stehe an der Schwelle zur zweiten Transformation. Man könne auch diesen Erfolg ins Zentrum stellen und wie man das Personal dafür zusammenbekommt, meint der Politikprofessor. „Aber der Mann lebt von der Defensive.“
Seit Kretschmer 2017, nach 15 Jahren im Bundestag, sein Direktmandat in Görlitz an den heutigen AfD-Chef Tino Chrupalla verlor, setzt er auf Bürgernähe, und das exzessiv. Seine politische Karriere schien vor dem Aus, dann trat der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich zurück und empfahl ihn als Nachfolger.
Lange hat Kretschmer mit jedem geredet und denen viel Gehör verschafft, die am lautesten schrien, oft standen sie weit rechts. Ohnehin hat die Sachsen-CDU vor der rechtsextremen Entwicklung im Land ausgiebig die Augen verschlossen; legendär ist der Ausspruch des ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus. Kretschmer ging selbst auf Coronaleugner*innen zu, die ihn 2021 vor seinem Privathaus beim Schneeschippen überraschten. Er suchte den Dialog, sie wollten ihn vor allem beschimpfen.
Als jüngst Rechtsextreme beim CSD in Bautzen aufmarschierten, blieb Kretschmer still, erst auf Nachfrage auf einem Wahlforum äußerte er sich dazu. „Die Verharmlosung von Klimaradikalen muss aufhören“, postete die CDU stattdessen. Kretschmer wird häufig bedroht, laut ZDF sogar mit Mord.
Bloß keine Thüringer Verhältnisse
In der CDU hofft man, dass die Sächs*innen diesmal anders votieren als etwa bei der Europawahl, als die AfD vorne lag. Weil es ums Konkrete geht, darum, wer in Dresden künftig für Schulen, Polizei und die Gesundheit zuständig ist. Die letzten Wahlen, das seien alles Protestwahlen gewesen, sagt Kretschmer in Eibau. Protest gegen Migration, das Gebäudeenergiegesetz, den Russlandkrieg, Bürokratie und „den übergriffigen Staat“. Eine Protestwahl dürfe es jetzt nicht geben.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, heizt Kretschmer mit seinen ewigen Attacken gegen die Bundesregierung doch die Proteststimmung kräftig mit an. „Wer eine bürgerlich-konservative Regierung will, wer will, dass die CDU die stärkste Kraft im Landtag ist und wir nicht in unklare Verhältnisse wie in Thüringen kommen, wo nichts mehr geht, der muss bei dieser Wahl strategisch wählen“, sagt er dann. Soll heißen: CDU.
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.
Beim letzten Mal hat das funktioniert, da haben auch Menschen, die links von der CDU stehen, für diese gestimmt, um die AfD als stärkste Kraft zu verhindern. SPD und Grüne haben Kretschmer erneut zum Ministerpräsidenten gemacht, seitdem regieren sie gemeinsam in einer Keniakoalition. Aber kann das noch einmal so gehen? Seit Monaten tut Kretschmer alles, um fortschrittliche Wähler*innen gegen sich aufzubringen.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass der Staat nicht vorgeben soll, wie wir heizen sollen, wie wir reden sollen, welches Auto wir fahren sollen“, sagt er auch in Eibau. Sein Ziel sei eine Regierung ohne Grüne, „weil die niemand mehr will“. Da klatschen die Leute.
Meint der Mann wirklich, was er sagt?
Scharf gegen die Grünen vorzugehen, auch wenn man mit ihnen in der Regierung sitzt, ist Strategie der sächsischen CDU. Die Grünen, heißt es, seien auf dem Land so verhasst, dass man sich von ihnen abgrenzen müsse, wolle man der AfD nicht in die Hände spielen. Manche Christdemokraten meinen sogar, eine Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht sei leichter zu vermitteln.
Die Attacken Richtung Berlin und Grüne haben für Kretschmer auch strategische Tücken: Sie feuern die Wut und die Protesthaltung weiter an, die sich bei der Wahl auch gegen die CDU richten könnten. Und sie könnten dazu beitragen, dass nicht nur Linke und FDP, sondern auch SPD und Grüne an der Fünfprozenthürde scheitern. Die Folge wäre ein Parlament, in dem nur noch AfD, CDU und BSW vertreten wären. Strategisch wählen heißt für die kleinen Parteien deshalb etwas ganz anderes als für die CDU. Aus Eigeninteresse, aber auch, weil der Einfluss der AfD steigt, je weniger Parteien im Landtag vertreten sind.
Was Michael Kretschmer bei der Wahl nützen dürfte, ist seine Haltung zum Krieg. Waffenlieferungen an die Ukraine, die Forderung des SPD-Verteidigungsministers nach Kriegstüchtigkeit, die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen: All das wird nicht nur an den Eibauer Biertischen heftig kritisiert. Kretschmer dagegen will Verhandlungen mit Putin, eine Reparatur der Nord-Stream-Pipeline, weniger Waffenlieferungen und eine Volksbefragung zur Raketenstationierung. Manchmal drängt sich die Frage auf, ob der Mann wirklich meint, was er da sagt – und ob er das wohl bis zum Ende durchdacht hat. In der sächsischen CDU aber heißt es, dass dies alles Kretschmers tiefe Überzeugung sei.
Für viele in seiner Partei ist das schwer zu ertragen. Kretschmer ist nicht nur Ministerpräsident und Chef des sächsischen Landesverbands, er ist auch stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender. In der Berliner Zentrale heißt es, dass die CDU als Volkspartei unterschiedliche Postionen aushalte. Doch immer mehr meinen, dass Kretschmer der CDU und ihren Werten schade. Ihnen ist aber klar: In Sachsen kann nur Kretschmer die AfD schlagen. Deshalb hält man still, zumindest bis September.
In Eibau gibt etwa eine Handvoll Leute im Gespräch zu verstehen, dass sie letzthin für die AfD gestimmt haben. Einer sagt, er könne sich vorstellen, jetzt wieder sein Kreuz bei der CDU zu machen. Der Mann mit der Fragenliste wirkt nicht überzeugt. Aber eines will er dann doch noch loswerden: dass Michael Kretschmer „gegen Berlin“ unbedingt seine Position zu den Waffenlieferungen durchhalten müsse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene