Schutz vor Geschlechtskrankheiten: Freie Liebe auf Rezept
Neue Medikamente machen Hoffnung auf ungeschützten Sex, vor allem in der schwulen Szene. Doch ohne Nachteile geht es nicht.
Z wei junge Männer stehen eng beieinander. Der eine mit Glatze, der andere mit Schnurrbart und Perlenkette. Ihr Look ist trendy, genderfluid. Beide schauen ernst in die Kamera. Das Bild, auf dem die beiden zu sehen sind, wirkt wie die Ankündigung einer queeren Technoparty in einem Berliner Club. Doch weit gefehlt. Es ist die Werbeanzeige eines Pharma-Onlineshops. „Kein Bock auf sexuell übertragene Infektionen?“, steht auf Englisch unter dem Foto der Männer. Und als Antwort: „Beginn jetzt mit Plan D!“
Mit Plan D meint diese Werbung ein medizinisches Verfahren, das heute allgemein als „Doxy-PEP“ bekannt ist. Darunter versteht man die präventive Einnahme des Antibiotikums Doxycyclin nach einem potenziellen Kontakt zu sexuell übertragbaren Bakterien. Die Abkürzung PEP steht für Postexpositionsprophylaxe – eine Art Pille danach.
Das seit 1976 zugelassene Arzneimittel Doxycyclin wird bereits zur Therapie von Chlamydien eingesetzt, eine der meistverbreiteten Geschlechtskrankheiten, die durch Bakterien verursacht wird. Studien aus den vergangenen Jahren mit schwulen Männern und Transfrauen haben nun gezeigt, dass die einmalige Einnahme einer Dosis Doxycyclin das Risiko wirksam reduziert, nach ungeschütztem Sex Chlamydien oder auch Syphilis zu bekommen. Einige dieser Studien deuten auch auf eine, wenngleich geringere, Wirksamkeit gegen Tripper hin.
Eine Packung Doxycyclin mit 20 Pillen bekommt man in jeder Apotheke; dafür braucht man nur ein Rezept vom Arzt. Man kriegt es aber auch ohne Arztbesuch, denn seit einigen Jahren bieten Onlineshops den Verkauf von verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Doxycyclin an. Ganz legal – das Ausfüllen eines Fragebogens reicht in der Regel aus, damit ein mit der Website kooperierender Arzt das Rezept ausstellt, auch ohne Patientengespräch.
So tut das auch das Unternehmen, das auf dem oben erwähnten Plakat Doxy-PEP als Rundum-Sorglos-Paket verkauft. Man muss einige Sachen anklicken, dann bekommt man ein Rezept. Und wenn man will, das Medikament gleich mit. Doxy-PEP könnte ein Game Changer für die (schwule) Sexwelt sein. In der Szene hat sich die Methode mittlerweile zu einem medizinischen Hype im Kampf gegen „Sexually Transmitted Infections“ (STI), durch Sex übertragene Infektionen, entwickelt.
Viele schwule Männer in Berlin haben die Anzeige in den vergangenen Monaten in ihre Social-Media-Feeds gespült bekommen. Was steckt hinter dem Hype? Und was macht die häufige präventive Einnahme eines Antibiotikums mit unseren Körpern, mit der Community, mit der Gesundheit der anderen? Ist dieser „Plan D“ wirklich so harmlos und effizient, wie die Werbeanzeige suggeriert? Kann es wirklich Exzess ohne Konsequenzen geben?
Ein wolkenloser Samstag im Mai, Berlin-Neukölln. Die leicht versteckte FKK-Wiese im Volkspark Hasenheide ist belebt mit halb oder ganz nackten Menschen, die die ersten warmen Sonnenstrahlen genießen. Alexander Marin ist zum Entspannen hergekommen, er liegt auf einem bunten Handtuch. Nur einige Meter entfernt, im Dickicht, laufen Dutzende Männer auf den schmalen sandigen Pfaden schweigend aneinander vorbei. Die dichte, gerade sprießende Vegetation bietet ideale Bedingungen für diskrete Begegnungen. Der Park zieht Menschen mit den diversesten Hintergründen und bis ins Rentenalter an. Sie kommen zum sogenannten Cruising zusammen – zum anonymen Sex unter freiem Himmel, zu zweit, zu dritt oder mehr.
Marin ist ein vielgereister Akademiker aus Osteuropa in seinen späten Dreißigern. Nach Berlin ist er wegen des Jobs gezogen, aber auch wegen der großen schwulen Szene in der Stadt. Er fühlt sich frei hier, bei einem so intimen Thema wie sexueller Gesundheit möchte er jedoch seine Identität in der Zeitung lieber nicht preisgeben. Er heißt eigentlich anders, Alexander Marin ist ein Pseudonym.
An diesem Samstag will sich Marin nur in der Sonne bräunen und Freunde treffen. Er lebt zwar in einer offenen Beziehung, verzichtet aber auf das Vergnügen im Gebüsch, denn er leidet gerade an einer Tripper-Infektion. „Meine dritte Infektion dieses Jahr“, sagt er. „Vor einigen Monaten hatte ich Syphilis, mit sehr unangenehmen Symptomen, richtig krassen Schwellungen und Wunden.“
Im Herbst waren bei ihm bei einer Routine-Untersuchung auch Chlamydien entdeckt worden, deren häufigste Symptome sich von Tripper kaum unterscheiden: Bei Menschen mit Penis sind es, je nach Ansteckungsort, zumeist Ausfluss aus der Harnröhre und Brennen beim Wasserlassen oder Juckreiz im Analbereich. Seit er nach Berlin gezogen ist, werde er im Intimbereich öfter krank, erzählt Marin. „Ich habe vorher schon einiges erlebt, aber nicht in diesem Ausmaß.“
Tatsächlich steigen die Zahlen bakterieller Geschlechtskrankheiten in den vergangenen Jahren kontinuierlich an, wie das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten im März berichtet hat. Das betrifft nicht nur homosexuelle Menschen, Chlamydien-Fälle nehmen in der gesamten Bevölkerung zu, am stärksten bei jungen Frauen und Männern im Alter von 20 bis 24 Jahren. Auch Tripper ist in dieser Altersgruppe besonders verbreitet.
Bei Männern tritt er allerdings viermal häufiger auf als bei Frauen, von den betroffenen Männern ist wiederum die Mehrheit homosexuell. Syphilis wird sogar fast ausschließlich bei Männern registriert, die Sex mit Männern haben. Für diese meldepflichtige Infektion liegt die höchste Inzidenz bundesweit in den Berliner Innenstadtbezirken. Kondome bieten zwar keinen vollständigen Schutz, wie sie es beispielsweise gegen HIV tun, senken aber dennoch das Ansteckungsrisiko mit bakteriellen Erregern deutlich.
Trotzdem werden Kondome heute immer weniger benutzt – vor allem unter schwulen Männern. Grund ist ein anderes vorbeugendes Medikament, und zwar eines, das nicht nach dem Sex eingenommen wird wie Doxy-PEP, sondern vor dem sexuellen Kontakt. Es ist im Fachjargon eine Präexpositionsprophylaxe (PrEP) – die Pille davor.
Mit PrEP ist in der schwulen Szene heute vor allem eine Arzneimittelkombination gemeint, die seit gut 20 Jahren ein wichtiger Bestandteil der HIV-Therapie ist. Als entdeckt wurde, dass das Medikament nicht nur die Vermehrung des HIV im Körper hemmt, sondern auch bei Uninfizierten das Eindringen des Virus in die Zellen verhindert, begannen auch HIV-Negative, es präventiv einzunehmen. Nach dem Ablauf des Patentschutzes Ende des vergangenen Jahrzehnts und einer deutlichen Preissenkung wurde die Pille weltweit zugänglich und noch populärer.
Seit 2019 werden in Deutschland sogar die Kosten für das PrEP-Medikament von den Krankenkassen übernommen. Heute sind es bundesweit knapp 40.000 Menschen – vor allem Männer, die Sex mit Männern haben – die sich mit dieser nahezu nebenwirkungsfreien Methode vor einer HIV-Infektion schützen. Ein Drittel der Nutzer lebt in Berlin. Für viele Homosexuelle stellt HIV die größte gesundheitliche Gefahr dar. Dank PrEP ist diese deutlich verringert. Viele verzichten deshalb auf Kondome beim Sex.
Wer Kondome nutzt, hat schlechte Chancen
Die Forschungslage zum Zusammenhang zwischen PreP-Einnahme und der Zunahme an (bakteriellen) Geschlechtskrankheiten ist dünn, aber Expert:innen halten es für sehr wahrscheinlich, dass STI aufgrund des neuen Kondomverzichts unter schwulen Männern wieder zunehmen – wie bei Marin.
Er findet Kondome unangenehm, genau wie die Mehrheit seiner Sexpartner, erzählt Marin: „Die sind seit PrEP wirklich überall aus der Mode gekommen.“ Viele hätten nicht einmal eine Packung zu Hause, als wären sie ein Relikt vergangener Zeiten, sagt er. „Wer auf der Dating-App angibt, nur mit Gummi zu ficken, wird oft ignoriert.“
Der Einsatz von Arzneimitteln, um ungewollte Konsequenzen von sexuellen Handlungen zu verhindern, ist keine Neuheit. Die Anti-Baby-Pille ist seit mehr als 70 Jahren auf dem Markt, die „Pille danach“ gegen ungewollte Schwangerschaften seit mehr als 50 Jahren. Beide haben damals Moraldebatten ausgelöst und wurden als Wegbereiter einer sexuellen Revolution betrachtet.
Dass auch PrEP, die Prophylaxe-Pille vor ungeschütztem Sex, von moralisierenden Debatten begleitet war, ist also wenig überraschend. Nachdem der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn die Kostenübernahme von PrEP verkündete, warnte die Drag-Queen Nina Queer in der Bild-Zeitung vor der angeblichen Gefahr.
Unter dem Titel „Freie Fahrt für wilde Nutten“ schrieb sie: „Eine PrEP-Pille ist nichts anderes als eine Art 'kleine Chemotherapie’, der man seinen Körper tagtäglich oder womöglich jahrelang aussetzt. Jeder, der diese Therapie anwendet, muss sich bewusst darüber sein, dass er möglicherweise seinem Körper und seiner Psyche schadet.“ Wenige Tage später veröffentlichte Bild eine Antwort des Virologen Hendrik Streeck, der die Aussagen von Nina Queen mit Fakten wieder einfing.
Solche Herabwürdigungen und Übertreibungen sind in den vergangenen fünf Jahren weniger geworden, und PrEP hat sich nachweislich als Erfolgsmodell gegen die Ausbreitung von HIV in der queeren Szene bestätigt. Mit einer Prognose scheint Nina Queen allerdings nicht völlig falsch gelegen zu haben: „Durch ungeschützten Sex gewinnen Syphilis, Tripper, Herpes und Pilze wieder Oberwasser.“ Kann die Doxy-PEP, die antibakterielle Pille danach, nun auch dieses Problem beseitigen?
Marin hatte von der Prophylaxe bereits vor Längerem gehört. Von der Gesellschaft zur Förderung sexueller Gesundheit wird sie nach besonders risikoreichen Kontakten für PrEP-Nutzer wie ihn empfohlen. Immer mal wieder sah er entsprechende Beiträge auf den US-amerikanischen Accounts auf Instagram, denen er seit dem Ausbruch der Affenpocken vor zwei Jahren folgte. „Beim letzten Arzttermin dachte ich mir, es lohnt sich, danach zu fragen. Und bevor ich den Satz beenden konnte, wurde mir das Rezept in die Hand gedrückt“, erinnert er sich.
Nach dem Kauf des Antibiotikums in der Apotheke war er sicher, nun von weiteren STIs verschont zu bleiben. Bald musste er aber das Gegenteil feststellen: Das viel beworbene Doxy-PEP wirkte gar nicht gegen alle bakteriellen Infektionen. Ein halbes Jahr und einige wilde Nächte später hatte er sich trotz ordnungsgemäßer Einnahme der Doxy-PEP mit Tripper infiziert.
Anruf bei Max Schnepf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie an der FU Berlin. Er forscht seit Jahren zum Thema sexuelle Gesundheit. Im Videotelefonat erklärt er, welche Auswirkungen die beiden Medikamente PrEP und Doxy-PEP über ihre pharmakologische Wirkung hinaus auf die Community haben können. „Es ändert sich vieles dadurch – in der Szene allgemein, aber auch ganz persönlich, wie Leute ihre Sexualität wahrnehmen oder sogar was sie begehren.“
Basierend auf seiner Feldforschung versucht Schnepf, das mit PrEP verbundene Versprechen der Sorglosigkeit in einer Community zu begreifen, die immer noch von den Traumata der Aids-Krise gezeichnet ist. „Die Hoffnung auf einen sorglosen, befreiten Sex wurde immer wieder durch Gesundheitskrisen unterbrochen, bei denen gerade von Menschen, die promiskuitiv leben, erwartet wurde, ihre Sexualkontakte einzuschränken“, erklärt er.
Damit meint Schnepf zum Beispiel die Zeit während der Coronapandemie, die besonders jene Menschen vor Herausforderungen stellte, die ihr Sexleben nicht auf eine Person beschränken. Oder der Ausbruch der Affenpocken im Frühsommer 2022, von denen hauptsächlich schwule Männer in Großstädten betroffen waren. Bald nach der Aufhebung der meisten Coronaschutzmaßnahmen und rechtzeitig zur CSD-Saison breitete sich das Affenpockenvirus aus und verursachte schmerzhafte Hautausschläge, insbesondere im Intimbereich.
Max Schnepf, Sozialanthropologe an der FU Berlin
Geschlechtskrankheiten als „Part of the game“
Erst eine zunächst schleppend geführte Impfkampagne und weitere Maßnahmen konnten die Ausbreitung der Krankheit eindämmen. Viele in der Community tragen noch heute physische und seelische Narben aus dieser Zeit, in der sie monatelang verzweifelt auf eine Impfung warteten. Für etliche kam diese zu spät: Sie erkrankten schwer, mussten sich isolieren und litten unter einem gravierenden sozialen Stigma.
Dass auch die Zulassung von PrEP gegen das HI-Virus im Jahr 2019 das Versprechen für sorglosen Sex nicht in voller Gänze würde einhalten können, war der Medizin damals schon bewusst. Das erhöhte Risiko, sich durch den fehlenden Schutz mit anderen STI zu infizieren, sei ein Thema gewesen, sagt Schnepf, auch wenn die „statistische Relation relativ schwer einzuschätzen“ gewesen sei.
Schnepf sieht noch einen anderen, einen sozialen Grund für den Anstieg von bakteriellen STI in der Gesamtbevölkerung. Dieser sei an die Tatsache gekoppelt, dass „sexuelle Kontakte mit Fremden“ dank Dating-Apps viel einfacher geworden seien – auch unter Heteros. Die Ausbreitung solcher „Infrastrukturen intimer Begegnungen“ hätte ebenso einen großen Effekt auf die Infektionszahlen. Was er bei PrEP-Nutzern vor allem merke, sei, dass „der Umgang mit Infektionen sich weitaus normalisiert hat und weniger stigmatisiert ist“. Syphilis, Chlamydien, Tripper und Co. würden von den meisten als „part of the game“ akzeptiert, als Teil des Spiels.
Einige seiner Gesprächspartner fragten sich dennoch, ob „die ganze Mühe infolge einer bakteriellen Infektion“ – also die schmerzhaften Symptome, Arztbesuche und die hoch dosierte antibiotische Behandlung, oft mehrmals im Jahr – den Sex ohne Gummi tatsächlich wert sei. Und einige überlegten wieder auf Kondome umzusteigen, so Schnepf.
Genau für sie könnte Doxy-PEP, die antibakterielle Pille danach, auch ein Hoffnungsträger sein, um weiterhin ohne Kondome Sex zu haben. Ob er persönlich die Einnahme von Doxy-PEP richtig oder falsch findet, will Max Schnepf nicht sagen. Aber er hat eine Veränderung seit den Anfangsjahren der Aids-Krise beobachtet.
Damals wurde sexuelle Gesundheit stärker im Kollektiv verhandelt. Heute hingegen stünden PrEP und Doxy-PEP in einer „Reihe von biomedizinischen Maßnahmen, die die Verantwortung vermehrt auf das Individuum lenken“. Ein Vorgespräch über sicheren Sex, HIV-Status oder Kondome finde deutlich seltener statt – weder im Bett noch in der Community. Jeder sei in dieser Hinsicht zuerst einmal auf sich allein gestellt.
Schnepf hält dieses Schweigen für bedenklich, denn Sex könne niemals komplett 100 Prozent sicher und steril sein. „Gegen diese falsche Erwartung, die Doxy-PEP schürt, brauchen wir viel mehr Kommunikation.“
Einen Schritt in diese Richtung macht die queere Anlaufstelle für sexuelle Gesundheit Checkpoint BLN am Hermannplatz in Berlin-Neukölln. Ihr Veranstaltungsraum, nicht größer als ein gewöhnliches Klassenzimmer, ist an einem Abend im April proppenvoll. Mehr als 60 Personen sitzen auf den schwarzen Stühlen oder stehen im Flur. Die Anwesenden sind jung und alt, größtenteils männlich und viele scheinen sich bereits zu kennen. Zum ersten Mal findet in Berlin eine offene Veranstaltung zum Thema Doxy-PEP statt, und das Interesse ist groß.
Vorne steht Elena Rodriguez, Fachärztin für Innere Medizin und Infektiologie. Die gebürtige Spanierin arbeitet bei der Schwerpunktpraxis ViRo im Neuköllner Schillerkiez und berät einmal im Monat bei Checkpoint BLN. An diesem Abend erklärt sie zuerst, wie die Einnahme im Fall von Doxy-PEP funktioniert: „200 Milligramm Doxycyclin – auf einmal – 24 bis zu 72 Stunden nach dem riskanten Sexualkontakt.“ Dann taucht sie in die Geschichte der STI ein, erzählt von all diesen „sehr unterschiedlichen Keimen“, die uns schon seit Hunderten von Jahren begleiten. Auf einer Leinwand werden mittelalterliche Zeichnungen von Figuren mit entzündeten oder mit Pusteln übersäten Penissen gezeigt und von den Wundärzten, die sie inspizieren.
Heute sind die zwei meist verbreiteten Geschlechtskrankheiten bakteriell: Tripper und Chlamydien. Sie sind deutlich weniger gefährlich als die viralen, zu denen etwa HIV und Hepatitis B oder C zählen. Tripper und Chlamydien verlaufen oft asymptomatisch und wenn nicht, bleibt es meist bei einem eitrigen und übel riechenden Ausfluss, Juckreiz und Schmerzen im Intimbereich für einige Tage. Anders als bei Menschen mit Vagina sind schwerwiegende Komplikationen eher die Ausnahme. Ohne Behandlung würden sie in den meisten Fällen von allein weggehen.
Die ebenfalls bakterielle Syphilis hingegen kann unentdeckt in späteren Stadien, wenn die Infektion auf Gehirn und Rückenmark übergreift, extreme Schäden anrichten, sogar tödlich enden. Sie ist aber leicht mit Penicillin zu heilen. Rodriguez plädiert daher dafür, immer abzuwägen: „Was sind die Konsequenzen der Erkrankung, vor der ich mich schützen will? Und was sind die Konsequenzen der Therapie, die ich bereit bin anzunehmen?“
Genau das soll an diesem Abend vermittelt werden. Denn regelmäßig Antibiotika zu schlucken, bleibt nicht ohne Nebenwirkungen. Erbrechen, Durchfall, allergische Hautreaktionen und Schleimhautentzündungen sind nur einige der häufigsten Begleiterscheinungen. Die Schwächung des Immunsystems ist eine weitere Folge.
Weniger erforscht ist der langfristige Einfluss auf das Mikrobiom – die Gesamtheit der Mikroorganismen im menschlichen Körper. Als sicher gilt nur, dass die Einnahme von Antibiotika den Unmengen von Bakterien, die in uns leben und zahlreiche notwendige Funktionen erfüllen, massiv schadet. Jüngere Studien erforschen ihren Einfluss auf Depressionen, Angststörungen oder Krebs, mit derzeit noch widersprüchlichen Ergebnissen.
Antibiotikaresistenzen gehen alle an
Auch gesamtgesellschaftlich kann die Einnahme von Antibiotika durch eine wachsende Zahl von Personen eine Wirkung haben: die Bildung von resistenten Keimen. Hierbei handelt es sich um Bakterien, die durch Mutationen gegenüber einzelnen Antibiotika unempfindlich werden und dadurch schwerer zu bekämpfen sind.
Eine häufige oder falsche Anwendung von Antibiotika kann diesen Vorgang begünstigen. Der Tripper-Erreger zum Beispiel ist in Europa schon längst gegen Doxycyclin resistent und entwickelt auch bereits gegen neuere Antibiotika Resistenzen, wie ein Monitoring des Robert Koch-Instituts belegt.
Selbst wenn die Doxy-PEP eine sehr kleine Nische bedient, steht „auf der Public-Health-Ebene“ die nicht notwendige Einnahme „eindeutig im Widerspruch zum Konzept des rationalen Antibiotika-Einsatzes“, erklärt Christoph Weber, der medizinische Leiter von Checkpoint BLN, gegen Ende der Gesprächsrunde. Zudem sei eine Pille nach jedem riskanten Sexualkontakt ein „riesiger antibiotischer Aufwand“ für den Körper.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dann präsentiert Weber noch die Ergebnisse eines Patientenmodells, das von externen Wissenschaftler*innen für sein Team erstellt wurde. Es zeigt, wie eine regelmäßige Einnahme von Doxy-PEP bei Menschen, die sich ohnehin schon mehrmals im Jahr wegen STI mit antibiotischen Medikamenten behandeln lassen, zu einer Verdoppelung des jährlichen Antibiotikakonsums führen könnte.
Nach ihrem Errechnungsmodell, das auch die durchschnittliche Häufigkeit von ungeschütztem Sex erfasst, würde nur eine einzige symptomatische Infektion mit Chlamydien oder Syphilis im Jahr präventiv verhindert werden. Man bekommt den Eindruck, das Heilmittel könnte womöglich schlimmer sein als die Krankheit.
Während einige im Publikum noch versuchen, die gesamten Informationen, Zahlen und Rechenmodelle genauer zu verstehen, dreht sich die Hauptfrage in der anschließenden Diskussion darum, wie promiskuitiv oder zurückhaltend man sich verhalten sollte, damit eine Doxy-PEP-Behandlung sinnvoll ist. Sollte man die Pillen nur gelegentlich, drei oder vier mal im Jahr nach einer großen Sexparty nehmen? Aber was, wenn man doch mehrmals im Monat an Orgien teilnimmt? Eindeutige Antworten haben die Expert:innen nicht, aber in einem sind sie sich einig: Auch wenn Doxy-PEP in bestimmten Einzelfällen sinnvoll sein kann, eignet es sich auf keinen Fall als regelmäßige Ergänzung zur PrEP – von einer mehrmaligen Nutzung im Monat wird abgeraten. Eine Ansicht, die laut einer aktuellen Befragung auch 83 Prozent aller HIV-Schwerpunktzentren in Deutschland teilen.
Die weitverbreitete Skepsis unter Gesundheitsexperten lenkt die Aufmerksamkeit auf ein weiteres potenzielles Problem: die Selbstmedikation mit Doxycyclin entzieht sich ihrer Kontrolle. Bei vielen liegen nicht aufgebrauchte Tabletten seit der vorherigen Chlamydien-Behandlung noch im Schrank. Sie können also jederzeit auch ohne akuten Anlass eingenommen werden.
Christoph Weber, medizinischer Leiter beim Checkpoint BLN
Dass diese Art des Verhaltens keine Seltenheit ist, zeigt eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation, derzufolge jeder Dritte in Europa Antibiotika ohne ein aktuelles Rezept einnimmt. Zudem ist der Kauf von verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Doxycyclin online und ohne Arztbesuch aufgrund einiger Gesetzeslücken heute sehr einfach.
Körper wie einen Tempel pflegen
Ein Treffen mit Christoph Weber, einige Tage nach der Veranstaltung. Seit mehr als 25 Jahren arbeitet er im Bereich HIV-Medizin. Die Anlaufstelle, die ärztliche Versorgung und psychosoziale Beratung an einem Ort vereint, hat er mitgegründet. Angefangen hat das Projekt 2018 mit der Vergabe von PrEP an Einkommensschwache.
Es gibt wenige Menschen in Berlin, die die Gesundheitsprobleme der queeren Szene so im Blick haben wie Weber. Die Organisation der Veranstaltung zur Doxy-PEP war ihm wichtig, weil er unter vielen das Bedürfnis nach mehr Aufklärung empfunden hatte. Er betont, dass er die Idee hinter Doxy-PEP gar nicht verwerflich finde: „Wir müssen nur viel besser herausfiltern, wo der Einsatz davon Sinn ergibt.“
Dass die Studien zur Doxy-PEP nicht zwischen symptomatischen und nicht-symptomatischen Infektionen unterscheiden, sieht er kritisch. PrEP-Nutzer müssen sich alle drei Monate auf bakterielle STI testen lassen. Wenn das Ergebnis auf Chlamydien oder Tripper positiv ausfalle, wollten sich viele auch behandeln lassen, ob mit oder ohne Symptome, erklärt Weber. Solange keine Beschwerden da sind, sei dies jedoch nicht immer notwendig. „Es spielen aber so viele gesellschaftliche Moralvorstellungen in diesem Thema mit“ und der Wunsch „sauber“ zu sein, sei groß. Doch Tatsache bleibe: „Ein freizügiges Sexleben ohne STI gibt es nicht“.
„Natürlich könnte man sagen: ‚My body, my temple, my choice‘. Aber wenn der Körper ein Tempel ist, sollte man ihn auch pflegen und nicht ständig mit Pillen quälen“, sagt Weber. Man müsse zudem aufpassen, „dass wir uns nicht unglaublich viele Resistenzen reinholen, die dann bei uns zirkulieren“. Die große Frage für ihn sei daher, wie man zwischen all diesen Faktoren „die Balance hält“. Auf jeden Fall ist er strikt dagegen, Doxy-PEP, die antibakterielle Pille danach, „zum individuellen Spaß auf den Markt zu werfen“.
Doch für den Markt ist Doxy-PEP natürlich attraktiv. Das neue Berliner Start-up Every Health etwa vermarktet Doxy-PEP seit ein paar Monaten online und bei Community-Events. Es ist dasselbe Unternehmen, das die Werbeanzeige mit den beiden Männern im Partyoutfit in den sozialen Medien schaltete. Auch die Mitarbeiter des Start-ups selbst posieren online mit Fetischausrüstung.
Die Aufmachung und Selbstdarstellung wirkt wie die einer Gruppe altruistischer Communityaktivisten, die die Szene lediglich über eine von der Außenwelt stigmatisierte Wundertherapie aufklären wollen. So beschwerte sich ihr Geschäftsführer Dimitri Bilyarchyk zuletzt auf Linkedin, dass „der Zugang (zur Doxy-PEP) in Deutschland durch Gate-Keeping und Stigma eingeschränkt“ sei und sie deshalb in den letzten Monaten „unermüdlich“ daran gearbeitet hätten, „Doxy-PEP sicher, zuverlässig und bequem für unsere Communities zugänglich zu machen“.
Das stimmt so nicht. Die Deutsche STI-Gesellschaft, die tatsächlich eine Art von Gatekeeping-Funktion in diesem Bereich hat, empfahl bereits im vergangenen Jahr, den Einsatz von Doxy-PEP für PrEP-Nutzer nach Risikoanlässen in Betracht zu ziehen. Die Entscheidung dazu sollte aber vom behandelnden Arzt im Einzelfall getroffen werden.
Das Ausfüllen weniger Fragen reicht bei Every Health, damit man als „geeignet“ für die Therapie gilt und ein Rezept ausgestellt bekommt. Nutzer bekommen ein Video des medizinischen Leiters der Firma gezeigt. Er behauptet auf Englisch, Doxy-PEP sei auch gegen Tripper einigermaßen wirksam – obwohl das Resistenz-Monitoring des RKI das Gegenteil nahelegt. Nach dem Video kann man ein monatliches Abo für zwei Pillen abschließen, das nach der ersten Lieferung kündbar ist. Das Ganze kostet dann 25 Euro, in zwei separaten Zahlungen an eine Firma, die gleichzeitig ein Rezept ausstellt und ein Medikament verkauft.
In Deutschland gilt eigentlich eine klare Trennung von Arzt und Apotheker. Die Logik dahinter ist, dass Ärzte keine finanziellen Anreize haben sollen, Medikamente zu verschreiben, um so Mehrverbrauch und Missbrauch zu verhindern. Auf Nachfrage erklärt Every Health, dass sie eine „Gesundheitsplattform“ und „keine Apotheke und auch keine Ärzt*innen“ seien, sondern sie stellten „lediglich den Zugang zu passenden Expert*innen her“, die auf ihrer „Plattform aktiv“ seien.
Es gibt auch noch einige andere Onlineanbieter mit einem ähnlichen Verkaufsmodell, bei denen man die fünffache Menge für den gleichen Preis beziehen kann – wenn man in einem kurzen Fragebogen angibt, an Chlamydien zu leiden. Das Absurde: Mit einem Privatrezept eines Arztes würde die zehnfache Menge die Hälfte kosten. Ein lukratives Onlinegeschäft, betrieben mit einem queeren Image. Was motiviert Kunden, da mitzumachen? Schamgefühle oder die Furcht vor ärztlicher Belehrung, Unkenntnis oder die Bequemlichkeit, fast alles von Zuhause aus bestellen zu können? Alles denkbar.
Kann es Exzess ohne Konseqenzen geben? Nach einer langen Partynacht, in der man Sex hatte, kann die Einnahme von Doxy-PEP-Pillen natürlich verlockend sein. Und so schön bequem. Doch es gibt gute Gründe, sich gegen das Antibiotikum zu entscheiden: Wegen des Mikrobioms, wegen möglicher Nebenwirkungen, wegen Resistenzen und weil es ohnehin kaum gegen eine mögliche Tripper-Infektion hilft. Das Logo des Gesundheits-Start-ups, das mir unverschämt ins Gesicht lacht, ist ein weiterer Grund gegen die Einnahme. Hier wird mit Ängsten und Begehren ein Geschäft gemacht. Sollte nicht zumindest bei der Gesundheit der Kommerz seine Grenzen haben?
Vollkommen risikofreien Sex kann es nicht geben, auch nicht mit Doxy-PEP. Und doch kann es gut sein, für den Notfall eine Pille im Nachtschränkchen zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl