Affenpocken und AIDS: Liebe Risikogemeinde

Die „Affenpocken“ treffen vor allem schwule Männer. Doch Vergleiche mit der Aids-Epidemie sind falsch und stigmatisieren nur die Betroffenen.

Zwei junge Männer, nur mit Unterhose bekleidet, liegen aufeinander

Es muss nicht bis zum Äußersten kommen, um sich mit Affenpocken anzustecken Foto: Uwe Krejci/getty images

Nein, bitte nicht schon wieder! Dieser Seufzer mag so mancher von Corona gebeutelten Mit­bür­ge­r*in entfahren sein, als sie die ersten Meldungen über eine weitere sich ausbreitende Virusinfektion, die „Affenpocken“, vernommen hatte. Ein regelrechter Schreck in die Glieder gefahren ist indes einer gesellschaftlichen Gruppe, die durch diese Meldungen ins Schweinwerferlicht rückte: MSM, also Männer, die Sex mit Männern haben.

Homo- und Bisexuelle, trans Personen und solche, die vielleicht einfach neugierig, experimentierfreudig oder in Sexualnot sind. Ein Virus „aus Afrika“, das besonders sie betrifft. Menschen, die „mehrfache und anonyme Sexualkontakte“ haben – in Spanien wurde bereits eine Schwulensauna geschlossen, aus Sicherheitsgründen. Kein Wunder, dass sich nicht wenige an die Anfänge der HIV-Epidemie erinnert fühlten – auch wenn der Vergleich nicht nur schief, sondern falsch ist.

Als man in Deutschland 1982 erstmals auf Aids aufmerksam wurde, hatte man zunächst weder einen vernünftigen Namen für die neuartige Erkrankung, die hauptsächlich schwule Männer betraf, noch wusste man, was die Ursache für jene „GRID“ (Gay-Related Immune Deficiency), „Schwulenseuche“ oder eben „Schwulenkrebs“ war. Man wusste nichts über Übertragungswege, Präventions- und Heilungs­möglichkeiten. Man wusste auch eigentlich nichts über die Lebenswelt der Homosexuellen, sicher war man sich von Anfang nur in Bezug auf moralische Bewertungen: Wahlweise sollte es sich bei der so rätselhaften wie töd­lichen Erkrankung um eine Strafe Gottes oder eine „extra Peitsche“ handeln, die der Herrgott stets für die Homosexuellen bereithalte – so fasste es seinerzeit ein Berliner Bakteriologe namens Franz Fehrenbach gutbürgerlich zusammen.

Die Homosexuellen wiederum hatten sich zu diesem Zeitpunkt gerade erst mühsam vom Drangsal des alten Honoratioren-Dreigestirns aus Arzt, Richter und Priester befreit. Ärzte alter Schule wie Fehrenbach aber forderten nun wieder ein Ende des promisken Treibens und eine strenge Absonderung der Infizierten. Der Homosexuellenparagraf 175 bestand trotz aller Emanzipationsbestrebungen noch immer (wenn auch seit 1969 in deutlich abgemilderter Form) und der Klerus feuerte in Bezug auf Aids aus allen Rohren, so auch ein gewisser Kardinal Joseph Ratzinger im Jahr 1985. Man müsse Gott gar nicht bemühen, denn „es ist die Natur, die sich wehrt“. Er spielte damit allerdings ganz gewiss nicht auf den Zusammenhang zwischen schrumpfender Bio­diversität und zunehmenden Zoonosen an. Wie sollten die „Risikogruppen“ einem Staat vertrauen, in dem solche Menschen den Ton angeben?

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In der Aids-Krise starben unzählige Menschen, auch in Deutschland, einen frühen und qualvollen Tod. Nicht nur (aber vor allem) schwule Männer, sondern auch Prostituierte, Drogennutzer*innen, später Bluter, die sich über kontaminierte Medikamente infizierten. Und es war vor allem der damals amtierenden Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) zu verdanken, dass der Epidemie in Deutschland erfolgreich mit den Mitteln der Vernunft und der Aufklärung begegnet wurde anstatt mit der knallharten Anwendung des Bundesseuchengesetzes. Nicht Peter Gauweilers (CSU) autoritärer Weg des „Maßnahmenkatalogs“ gab den Ton an (nur in Bayern wurden Teile der schwulen Infrastruktur lahmgelegt), sondern der einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Schwulenbewegung und Staat, zwischen Aids-Hilfen und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: „Kondome schützen.“ Ein Slogan, der (außer bei der katholischen Kirche) verfing und half, die weitere Verbreitung des HI-Virus erfolgreich einzudämmen.

Auch Rita Süssmuths Nachfolger im Amt, Karl Lauterbach, sieht sich nun mit der Herausforderung konfrontiert, aufzuklären, ohne zu diskriminieren. Und weil das eben nicht leicht ist, gelingt es ihm auch nur so lala: Natürlich ist es zunächst richtig, Menschen zu warnen, die zum jetzigen Zeitpunkt des Infektionsgeschehens besonders betroffen zu sein scheinen. Also besagte Männer, die Sex mit Männern haben. Bei den Erkrankten, von denen wir zu diesem Zeitpunkt wissen, handelt es sich tatsächlich um homosexuelle Männer, die vor Kurzem Sexpartys, Saunen oder Festivals besucht haben, in deren Rahmen es häufig zu mehrfachen sexuellen Kontakten kommt.

Tatsächlich gibt es eine nicht kleine Gruppe queerer Menschen, die ihre Sexualität auf diese Weise lebt (und gleichzeitig meist sensibilisiert für damit verbundene potenzielle Erkrankungen ist). Man fährt zum Fetisch-Festival in Belgien, fliegt zum Gay-Pride nach Gran Canaria und macht auf dem Rückflug nach Berlin noch Zwischenstop in einer Schwulensauna in Düsseldorf.

Es gibt aber auch eine wachsende Gruppe nicht gleichgeschlechtlich liebender, meist in Großstädten lebender junger Menschen, die anonyme Sexkontakte im Rahmen von Club-Veranstaltungen oder Internet-Dates zu schätzen wissen. Oder nach Ischgl zum Skifahren und Après-Rummachen reisen.

Und spätestens hier wird deutlich, dass die Kommunikationsstrategie von RKI und Gesunheitsministerium vor allem zu Beginn allzu unscharf und daher irreführend war: Der Eindruck entstand, dass nur Männer, die Sex mit Männern haben, von den „Affenpocken“ betroffen seien. Obwohl von einer sexuellen Übertragung bislang nicht ausgegangen werden muss, obwohl auch Frauen, Kinder, Familien betroffen sein können (und auch bereits sind). Lauterbach hingegen sprach nun wieder von einer „Risikogruppe“ (was die Deutsche Aids-Hilfe bereits kritisierte), gar von einer „Risikogemeinde“ (Wer ist hier gemeint, die Bruderschaft vom 17. 5.? So nannten die Schwulen sich in Anlehnunung an den Paragrafen 175, der Männern Sex mit Personen gleichen Geschlechts verbot).

Wie sehr er sich auch bemühte, lediglich die Dinge beim Namen zu nennen und keinesfalls „stigmatisieren“ zu wollen: Die Melange aus Schwulen, ano­nymem Sex und „Affenpocken“ war schon angerührt – wenn auch sicher nicht mit böser Absicht.

Hoffentlich auch nicht mit allzu großem Schaden, denn ein Vergleich von HIV und „Affenpocken“ zeigt, wie verschieden die Situation ist. Ja, bei beiden handelt es sich um Zoonosen. Aber bei den „Affenpocken“ weiß man schon zum jetzigen Zeitpunkt, um was es sich handelt, nämlich um eine in den meisten Fällen harmlos verlaufende, „selbstlimitierende“ Erkrankung. Es gibt zugelassene Medikamente und sogar einen Impfstoff – Letzteren gibt es gegen HIV noch immer nicht.

Hinzu kommt, dass die Lage queerer Menschen im Jahr 2022 generell anders und in Deutschland auf jeden Fall besser ist als zum Zeitpunkt der Aids-Krise. Die Gleichstellung ist weitestgehend vollzogen oder gerade im Begriff, vollzogen zu werden; der Klerus ist mit sich selbst völlig ausreichend beschäftigt, in der Medizin ist schon lange niemand mehr aus der Kriegsgeneration tätig. Und ausgerechnet die Jahrgänge homosexueller Männer, die der Bedrohung durch Aids besonders stark ausgesetzt waren und davon in vielen Fällen nicht unerheblich traumatisiert wurden, scheinen nun vergleichsweise geschützt zu sein: Männer, die heute um die 50 und älter sind, wurden noch gegen Pocken geimpft und diese Impfung scheint auch die „Affenpocken“ in Schach zu halten.

Welche Wirkung die bisherige Kommunikationsstrategie der zuständigen Behörden tatsächlich hat, wird erst in Zukunft erfahrbar sein. Denn falls die „Affenpocken“ tatsächlich in einem größeren Rahmen die Runde machen, werden die Betroffenen sichtbar sein – und die Pusteln im Gesicht womöglich zum Kainsmal: Wohl vor zwei Wochen auf der Sexparty unzählige anonyme Kontakte mit Männern gehabt? Optimistisch könnte man meinen, dass auch dies im Zeitalter von Tinder und Berghain vielleicht gar kein Problem mehr sein könnte. Aber ob das wirklich so ist? Auch wenn nun nachträglich betont wird, dass eine Übertragung des Virus schlicht durch körperliche Nähe und ohne sexuellen Kontakt stattfinden kann: Den Fantasien der Bür­ge­r*in­nen wurden erst mal keine Grenzen gesetzt. So man­che*r wird sich nun überlegen, ob er Anzeichen einer Infektion lieber zu verbergen sucht.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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