Deutschland, Israel und der Gaza-Krieg: „Es ist ein Ersatznationalismus“

Daniel Marwecki erforscht die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen. Der Politologe sagt: Die Deutschen schotten sich von der Realität ab.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mit Israels Premier Benjamin Netanjahu

Abgekühltes Verhältnis: Außenministerin Annalena Baerbock mit Israels Premier Benjamin Netanjahu Mitte April in Jerusalem Foto: Ilia Yefimovich/dpa

wochentaz: Herr Marwecki, Deutschland hat auf die Haftbefehle, die der Chefankläger des Internationalen Strafgerichts­hofs (IStGH) gegen Israels Premier und Verteidigungsminister beantragt hat, verhalten reagiert. Wie bewerten Sie das?

Daniel Marwecki: Ich halte es für wichtig, dass das Auswärtige Amt die Rechtmäßigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht in Zweifel gezogen hat.

Warum?

Kriegsverbrechen sind nun einmal Kriegsverbrechen. Das Auswärtige Amt hat lange versucht, den Widerspruch zwischen der deutschen Staatsräson im Sinne einer fast bedingungslosen Unterstützung Israels und dem Völkerrecht zu überbrücken. Aber wer diesen Krieg beenden und Kriegsverbrechen geahndet sehen will, sollte die Entscheidung begrüßen. Und ich denke, dass viele in Washington und Berlin froh wären, Netanjahu nicht mehr an der Macht zu sehen.

Jahrgang 1987, lehrt Internationale Bezie­hungen an der University of Hong Kong. Sein Buch „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“ erschien im März.

Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hat nach der IStGH-Entscheidung gesagt, die deutsche Staatsräson werde nun getestet. Wie sehen Sie das?

Da hat er nicht unrecht. Die Staatsräson kollidiert eben mit dem Völkerrecht, da muss man sich entscheiden. Angesichts der deutschen Rechtslage müsste man die Waffenlieferungen an Israel an Bedingungen knüpfen, wenn nicht gleich ganz einstellen. Zwei aktuelle Klagen fordern genau das. Das ist aber unwahrscheinlich, denn Deutschland teilt mit Israel das Kriegsziel, die Hamas zu zerschlagen. Das scheint nur nicht zu funktionieren, wie viele Experten vorhergesagt haben.

Sie haben ein Buch über die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen geschrieben. Welche Rolle spielte am Anfang die Moral?

Anfangs waren die Beziehungen funktional: Deutschland brauchte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Persilschein. Und Israel brauchte die Unterstützung der Bundesrepublik, um seinen Staat aufzubauen. Israel war ein von Importen abhängiger Agrarstaat, musste Überlebende aus den Kon­zen­tra­tions­la­gern und Flüchtlinge aus arabischen Staaten versorgen. Westdeutschland half, die Wirtschaft zu industrialisieren, und leistete später Militärhilfe.

Ein Meilenstein war das Luxemburger Abkommen von 1952, mit dem sich die Bundesrepublik zu Reparationen verpflichtete. Bundeskanzler Konrad Adenauer sah das als „Wiedergutmachung“, begründete es aber auch mit dem antisemitischen Motiv von der „Macht der Juden“, die man nicht unterschätzen solle. Wie sah man das in Israel?

Für Israels ersten Staatschef Ben Gurion ging es nicht um Vergebung, Buße oder Sühne, das war völlig klar. Für ihn ging es darum, Fabriken aufzubauen und Maschinen zu besorgen.

Für Israel muss es schwer gewesen sein, mit diesem Deutschland zu tun zu haben.

Ben Gurion musste sich in seinem Land starker Kritik erwehren, von links und von rechts. Das deutsche „Blutgeld“ wollten viele nicht annehmen.

Wie sahen das die Menschen in Westdeutschland?

Es gab einige, die aus moralischen Gründen für die Zahlungen an Israel waren. Andere fanden, dass man gar nichts zahlen müsse. Adenauer war der Ansicht, man müsse etwas zahlen, um den deutschen Namen wieder reinzuwaschen. Im Bundestag konnte er das Abkommen nur mit den Stimmen der SPD und gegen große Teile seiner eigenen Regierung durchsetzen.

War damit eine Anerkennung deutscher Schuld verbunden?

Nein, dahinter stand eher das Bestreben, deutsche Unschuld zu beweisen. Während man Reparationen zahlte, integrierte man viele Altnazis in die Bundesrepublik. Es fand kaum Aufarbeitung statt, man wollte einen Schlussstrich.

Sie schreiben, dass die westdeutsche Starthilfe für Israel deutlich wichtiger war als bekannt ist.

In Zahlen kann man das schwer beziffern, aber es hat einen großen Unterschied gemacht. Den Schritt vom Agrarstaat zu einer Industrienation hätte Israel ohne deutsche Hilfe in dieser Form nicht machen können. Dazu zählen kriegswichtige Waffenlieferungen und großzügige Finanzhilfe. Zählt man die industrielle, militärische und finanzielle Unterstützung zusammen, kommt man zum Ergebnis, dass ausgerechnet die Bundesrepublik in der Anfangszeit des jüdischen Staats dessen wichtigster Partner war – noch vor den USA, die diese Rolle erst nach 1967 übernahmen. Die Bundesrepublik nahm dann auf dem Beifahrersitz Platz.

Kann man die westdeutschen Hilfszahlungen dieser Jahre denn beziffern?

Ein Wirtschaftshistoriker hat nachgerechnet, dass die Reparationszahlungen Deutschland in den ersten Jahren weniger als 0,2 Prozent seines Bruttosozialprodukts gekostet haben. Das ist sehr wenig, und für die deutsche Industrie war es ein Konjunkturprogramm. Schon rein wirtschaftlich hat sich das also gelohnt, und dass Deutschland wieder Waffen herstellen durfte, war auch im Sinne von Konrad Adenauer oder Franz-Josef Strauß.

Diplomatische Beziehungen haben die Bundesrepublik und Israel erst im Jahr 1965 aufgenommen. Warum so spät?

Israel war schon früher dazu bereit. Aber die Bundesrepublik fürchtete, die arabischen Staaten damit in die Arme der DDR zu treiben. Sie wollte nicht, dass diese im Gegenzug die DDR diplomatisch anerkennen würden. Das war die sogenannte Hallstein-Doktrin, bei der es darum ging, den westdeutschen Alleinvertretungsanspruch aufrechtzuerhalten. Israel durfte dafür Militärhilfe erwarten. Das war wichtiger als diplomatische Beziehungen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wie reagierten die arabischen Staaten darauf?

Die Waffenlieferungen wurden geheim gehalten, denn die arabischen Staaten hatten schon gegen das Abkommen von 1952 protestiert. Ihre Haltung war: Deutschland kann Entschädigungen für seinen Völkermord zahlen – aber nicht an einen Staat, der auf arabischem Boden und auf Kosten der lokalen Bevölkerung gegründet worden war. Deutschland hingegen argumentierte: Wir unterstützen Israel aufgrund des Holocausts, aus dem Konflikt halten wir uns raus. Auf diese Argumentation stützen sich beide Seiten im Grunde bis heute.

Ist das denn so falsch?

Man blendet die Konsequenzen aus. Bis 1967 war Westdeutschland Israels wichtigster Verbündeter. Der Sieg im Sechstagekrieg wäre ohne deutsche Hilfe in dieser Form wohl nicht möglich gewesen. Dieser Krieg führte zur Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands, der Golanhöhen und Gazas. Wie auch immer man das bewertet – die Bundesrepublik spielt in diesem Konflikt eine größere Rolle, als im Allgemeinen angenommen wird.

Israels Botschafter in Deutschland bedankte sich 1967 für die deutschen Panzer, mit denen Ägypten im Sinai geschlagen wurde.

Genau. Die Folgen dieses Krieges sind eine Kehrseite der Geschichte, für die Deutschland eine Mitverantwortung trägt.

Trägt Deutschland deshalb eine besondere Verantwortung für die Palästinenser?

Ja. Bis heute ist Deutschland materiell am Konflikt beteiligt. Es nimmt diese Verantwortung aber nur begrenzt wahr.

Deutschland bekennt sich zur Zweistaatenlösung und zahlt humanitäre Hilfe. Reicht das nicht?

Wenn man einer Seite Waffen gibt und der anderen Brot, hält man den Konflikt eher am Leben. Auch die Bundesrepublik hat es verpasst, die friedensbereiten Kräfte auf beiden Seiten zu fördern. Im Ergebnis haben wir es jetzt mit einem wahrhaft existenziellen Krieg zu tun, in den die Bundesrepublik verstrickt ist.

Wie hat sich die deutsche Haltung zu Israel seit dem 7. Oktober verändert?

Sie hat sich radikalisiert. Nach dem 7. Oktober sagte Netanjahu, die Hamas seien die Nazis von heute, als Olaf Scholz in Jerusalem neben ihm stand. Die Implikation war klar: Deutschland könne sich auf die richtige Seite der Geschichte stellen, indem es den jüdischen Staat gegen die „neuen Nazis“ unterstützt. Dieses Entlastungsangebot wird in Deutschland von vielen gern angenommen. Deswegen die Vergleiche mit der eigenen Geschichte. Der antisemitische Vernichtungswille der neuen Nazis muss gebrochen werden durch ein Dauerbombardement, Gaza ist in dieser Logik Dresden 1945.

Eine Projektion?

Anders als Nazideutschland ist die Hamas keine Großmacht, sondern eine von vielen bewaffneten Gruppen im Nahen Osten. Aber je mehr Zivilisten sterben, desto größer die Radikalisierung – das weiß man aus den Kriegen in Afghanistan und Irak. In der Betrachtung des Konflikts scheint aber auch ein tiefgreifender Rassismus zu wirken. Palästinensische Leben werden von Teilen der deutschen Öffentlichkeit offensichtlich als weniger wert betrachtet.

Was meinte Angela Merkel, als sie 2008 von Staatsräson sprach?

Merkel hielt ihre Rede mit Blick auf den Iran. Sie wusste, dass die Palästinenser Israel schaden, aber nicht in seiner Existenz gefährden können – der Iran schon, wenn er über Atomwaffen verfügt. Darum liefert Deutschland Israel U-Boote, die nuklear bewaffnet werden können und eine Zweitschlagsfähigkeit gegen den Iran garantieren. So ergibt ihr Wort von der Staatsräson für mich einen Sinn und für sie wohl damals auch.

Merkel hielt ihre Rede vor dem 7. Oktober. Würde sie heute genauso handeln wie Scholz und Baerbock?

Gute Frage. Heute wird die Staatsräson auf Gaza bezogen, und weil hinter der Hamas der Iran gesehen wird, blendet man die lokale Konfliktdynamik aus. Hinzu kommt ein Diskurs, der seit dem war on ­terror Einzug gehalten hat. Viele betrachten den Konflikt durch die Brille eines Zivilisationskampfes von Gut gegen Böse.

Nicht nur in Deutschland, oder?

Hier kommt noch ein vergangenheitspolitischer Aspekt hinzu. Unter Staatsräson versteht man gemeinhin das, was ein Staat tut, um sich selbst zu erhalten. Die Sicherheit eines anderen Staates zu seiner eigenen zu machen bedeutet, sich mit diesem Staat zu identifizieren. Am Anfang meines Buches zitiere ich eine Bundestagsdebatte aus dem Jahr 2018 anlässlich des 70. Jahrestags der is­rae­li­schen Staatsgründung, in der sich deutsche Politiker in Solidaritätsbekundungen überbieten. Katrin Göring-Eckardt von den Grünen verdichtete das bundesrepublikanische Selbstverständnis, als sie sagte: „Das Existenzrecht Israels ist unser eigenes.“ Das zeigt, wie identitätspolitisch die deutsche Israelpolitik geworden ist.

Deutschland identifiziert sich mit Israel?

Es ist ein Ersatznationalismus. Er führt auch dazu, dass sich viele in Deutschland nicht vorstellen können, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen begeht. Denn das würde am deutschen Selbstbild kratzen, weil wir daran beteiligt wären. Letztlich schottet sich der deutsche Diskurs damit von der Realität ab.

Ist es nicht ein Fortschritt, dass Deutschland heute aus moralischen statt aus eigennützigen Gründen zu Israel hält?

Falls das so ist, ist das eine extrem einseitige Moral, die Menschenleben unterschiedlich bewertet. Dabei übersieht man auch, dass die Welt sich gedreht hat. Mit seiner Haltung gegenüber Israel erhoffte man sich einst, in den Augen der westlichen Welt rehabilitiert zu werden. Heute ist die Welt weniger westlich – und blickt ganz anders auf den Konflikt, als wir es tun. Folglich leidet der deutsche Ruf – das ist eine Ironie der Geschichte.

Die meisten Länder haben Palästina als Staat anerkannt. Norwegen, Irland und Spanien haben das jetzt angekündigt. Könnte Deutschland folgen?

Ich würde wetten: Nein. Und selbst wenn, wäre es Schaufensterpolitik, weil ein solcher Staat über kein unabhängiges Staatsgebiet verfügt. Dennoch bleibt für mich die Zweistaatenlösung, so unwahrscheinlich sie scheinen mag, der einzig gangbare Weg. Die Alternativen sind entweder noch unrealistischer – oder sie führen noch tiefer in die Katastrophe.

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