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Probleme mit KindergrundsicherungDer Staat steht in der Bringschuld

Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut und was macht die Ampel-Regierung? Sie vermasselt die Kindergrundsicherung.

Die Armen in diesem Land haben keine schlagfertige Lobby Foto: Ute Grabowsky/imago

E ndlich liest man wieder von der Kindergrundsicherung, dem „größten sozialpolitischen Reformprojekt der Ampel“ (Familienministerin Lisa Paus). Dass es in diesen turbulenten Zeiten mit Weltkriegsängsten und Debatten über DFB-Ausrüster mal ein Sozialthema zum Titel „zentrales Streit-Thema der Ampelkoalition“ („Tagesschau“) schafft, ist nicht selbstverständlich. Damit ist aber auch schon alles Gute zu diesem Thema gesagt.

Mit der Kindergrundsicherung sollen Leistungen wie das Kindergeld, Bürgergeld für Kinder und Kinderzuschlag zusammengefasst von einer Behörde niedrigschwellig und unbürokratisch bereitgestellt werden. Die Leistungen sollen so auch Familien erreichen, die sie bisher nicht erreicht haben. Dass das Vorhaben nun zwischen parteipolitischem Opportunismus (FDP), Gleichgültigkeit (SPD) und Unfähigkeit (Grüne) zerrieben zu werden droht, ist ein mindestens so großer Skandal wie der vom Bundesverfassungsgericht gekippte Haushalt.

Und dieser Skandal wird noch größer beim Blick auf den letzten Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes: „Auf einen neuen traurigen Rekordwert“ sei die Kinderarmut gestiegen, heißt es dort. Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent), zudem 43,2 Prozent der Alleinerziehenden. Auch kinderreiche Familien werden als besonders betroffene Gruppe genannt.

Vordergründig geht es wieder einmal um Zahlen. Letzten Sommer stritten sich Familienministerin Lisa Paus und Finanzminister Christian Lindner noch um die Finanzierung, weshalb aus den zunächst geforderten 12 Milliarden mickrige 2,4 Milliarden Euro wurden. Dieses Mal emotionalisiert die Zahl 5.000 – so viele neue Vollzeitstellen brauche es, um eine proaktiv an Bedürftige vermittelte Kindergrund­sicherung zu realisieren, so das zuständige Ministerium zunächst. Natürlich schreit die Vier-bis-fünf-Prozent-Partei FDP da wieder mal aus Prinzip „Bürokratiemonster“ und dichtet so originelle Sätze wie „Den Sozialstaat fitter, nicht fetter machen“.

Der Kanzler versteckt sich

Die SPD und ihr Kanzler verstecken sich wieder mal bei einem wichtigen Konflikt. Und die Grünen scheitern wieder mal an ihrer vorauseilenden Kompromissbereitschaft. „Ich bin mir sicher, dass unter anderem durch Synergieeffekte und konsequente Digitalisierung die Gesamtzahl der Stellen noch reduziert werden kann“, rudert die Familienministerin Paus nun unbeholfen zurück.

Aber um Zahlen geht es eben nur vordergründig. Man wolle „von der Holschuld der Bürger zur Bringschuld des Staates kommen“, lautet der Satz der Familienministerin, der die liberale Hysterie eigentlich triggert („verstörend“, Christian Lindner). Denn damit hat die Familienministerin ausnahmsweise mal etwas auf den Punkt gebracht: Selbstverständlich hat ein Sozialstaat, der den Namen verdient, die Aufgabe, die ungleichen Ausgangsbedingungen von Kindern auszugleichen.

Wenn nicht der Staat hier eine Bringschuld hat, wer dann? Dass die FDP weiterhin die wichtigste Prämisse ihrer hochgepriesenen Leistungsgesellschaft verleugnet, ist zu erwartbar, als dass es empören könnte: Es gibt eben keine Chancengleichheit, die es erlauben würde, die eigene Situation allein mit Fleiß zu verbessern.

Empören sollte aber, dass diejenigen in dieser Koalition, die das erkennen, nicht das Rückgrat haben, um entsprechend zu handeln. Und dass die Armen in diesem Land weiterhin keine schlagfertige Lobby haben.

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Volkan Agar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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7 Kommentare

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  • Ja, Leistungsgesellschaft. Das einzige, was die Klientel der FDP leistet ist, reich zu erben.

    Dieser unwürdige Zirkus ist nur noch zum Kotzen. Möge die FDP künftig ausschliesslich von ihrer Klientel gewählt werden: dann bliebe sie bei 0.5 Prozent.

  • Könnte man nicht in erster Linie eine Bringschuld bei den Eltern der Kinder sehen...



    Eine Überlegung könnte es Wert sein.



    Immerhin werden Kinder, meistens von ihren Eltern gezeugt und sollen auch von diesen sozialisiert werden. Hier könnte auch ein missverständliches Signal vom Statt an die Kinder weiter gegeben werden, was die Selbstverantwortung, für sich als verantwortungsvoller Mensch, bedeutet.



    Der "Vati" Staat wird'd schon regeln...



    Das könnte zudem die Sichtweise der Kinder, auf ihre Eltern, was die Erziehung und auch als Vorbilder negativ beeinträchtigen.



    Bei der Bildung, dem schulischem Unterricht könnte es doch sinnvoller sein, öffentliche Schule - die ja schon Schulgeld befreit sind, besser auszustatten.



    Kosten für Nachhilfe, Sportvereine, Musikunterricht und Auslandsaufenthalte, zur Erweiterung des Horizont, der Heranwachsen, den Eltern bei Bedarf zu erstatten.

  • Danke. Tut gut, das mal am Stück zulesen.

  • Die Armen hatten noch nie eine Lobby.



    Ich bitte auch um eine Sicherung für Rentner, damit sie am sozialen Leben teilhaben können.



    Ich arbeite mit dieser Personengruppe.Für sie ist keine Besserumg in Sicht.

    Kinder haben Eltern. Im Normalfall sollten die Eltern für die Kinder sorgen umd nicht der Staat.



    Hilfe soll derjenige bekommen , der krank und nicht arbeitsfähig ist.



    Bringt die Eltern in Jobs mit einem Lohn, der zum Leben reicht!

  • "Selbstverständlich hat ein Sozialstaat, der den Namen verdient, die Aufgabe, die ungleichen Ausgangsbedingungen von Kindern auszugleichen."

    Mal abgesehen davon, dass der Staat niemals alle denkbaren Ausgangsbedingungen ausgleichen kann: mit der Kinder-Grundsicherung wird dies allenfalls nur rudimentär gelingen. Wichtiger als ein finanzieller Ausgleich sind die Möglichkeit, einen KiTa-Platz zu bekommen, ein funktionierendes Schulwesen, Sprachbarrieren abzubauen und individuelle Fördermöglichkeiten bereit zu halten. Nicht für alles kann es eine Bringschuld vom Staat geben, es darf auch erwartet werden das Eltern sich um Ihre Kinder bemühen und den einen oder anderen Antrag stellen.

    Was noch nie funktioniert hat ist, das Menschen, denen alles ohne Eigenmotivation dargereicht wird, eine Vorbildfunktion einnehmen.

  • Mir stellt sich vor allem die Frage, warum in einem Land, dem es ja wirtschaftlich durchaus gut geht, so viele Sozialleistungen benötigt werden.

    Provokant gefragt, kann es sein, dass der Sozialstaat vor allem Arbeitgeber entlastet, auskömmliche Löhne zu zahlen und Wohngeld Mieten ermöglicht, welche sonst am Markt nicht zu erzielen wären?

    Wenn selbst die Mittelschicht schon auf den sozialen Wohnungsbau angewiesen ist, dann läuft generell etwas falsch und da hilft auch keine Ausweitung der Sozialleistungen!

  • Das Kinder in Armut leben müssen und somit ganz schlechte Startchancen haben auf Bildung und Teilhabe ist skandalös. Soweit Konsens.



    Das mit der Bringschuld des Staates kann ich jedoch keinesfalls erkennen. Wer was will muss sich kümmern. Egal ob es um Kitaplätze, Führerschein, Steuerrückzahlung.... geht. Den Bedarf kann man nur selbst ermitteln, bewerten... und dann Hilfe einfordern, kurzum Antrag schreiben. Das man Anträge bündeln kann, vereinfachen, Bürokratie einsparen dadurch, keine Frage, ja!