Nahost-Debatten in Deutschland: Kein Freiraum für Kritik
Der Vorwurf des Antisemitismus wird in Deutschland inflationär verwendet. Progressive Arbeit mit Menschen aus dem Globalen Süden wird so schwierig.
D iese Woche hätte in Frankfurt die Global Assembly stattfinden sollen, eine Zusammenkunft von Aktivistinnen aus aller Welt, um nach Lösungen für die dringlichen Herausforderungen unserer Zeit zu suchen: autoritäre Herrschaft und Demokratisierung, Klimagerechtigkeit und ökologische Transformation, Menschen- und Naturrechte. Die Versammlung musste kurzfristig abgesagt werden. Das ist sehr traurig, vor allem für jene unter uns, die sich von der Zukunft mehr ersehnen als Aufrüstung, Abschottung und Ausbeutung.
Der Grund: Einige der Trägerorganisationen trieb die Sorge um, dass angesichts des polarisierten Diskurses hinsichtlich der Gewalt in Israel und Palästina eine offene Debatte mit unabsehbaren Risiken verbunden sein würde: „Unsere Absage ist eine traurige Konsequenz aus dieser Entwicklung. Wir werden damit der Verantwortung gerecht, die Möglichkeiten für eine wirksame globale Menschenrechtsarbeit nicht zu gefährden.“
Die Entscheidung ist den Initiatoren (ich habe an der Vorbereitung mitgewirkt) alles andere als leichtgefallen. Zwei Jahre Arbeit und ein Blumenstrauß an Hoffnungen mit einem Schlag dahin und verwelkt. Die Sorge ist nicht von der Hand zu weisen. Lädt man achtzig Menschen aus dem Globalen Süden ein, lässt es sich kaum vermeiden, dass diese ihre Meinung frei äußern. Durch Kritik an verfehlter Politik, ungerechter Wohlstandsverteilung und ökologischer Zerstörung oder aber durch eine Solidaritätsbekundung für Palästina. Eine solche „Provokation“ würde im Schnellkochtopf der medialen Erregung im Nu zu einem Skandal zusammengedampft werden.
Wir haben so etwas zuletzt öfter erlebt. Die Entscheidung fiel unter dem Eindruck der diesjährigen Berlinale. Es lohnt sich, mit einem gewissen Abstand auf den „Skandal der israelkritischen und propalästinensischen Interventionen“ während der Preisverleihung zu blicken. Was ist geschehen? Ein israelischer Filmemacher spricht von „Apartheid“ im Westjordanland und fordert Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Diese und ähnliche Aussagen werden von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner scharf verurteilt. Wenn ein israelischer Bürger von seinem demokratischen Recht, die eigene, rechtsextreme Regierung zu kritisieren, Gebrauch macht, will ihm ein hiesiger Lokalpolitiker den Mund verbieten. Die Enkelkinder der rabiatesten Antisemiten wollen die allerbesten Anti-Antisemiten sein. Die Erkenntnis, dass Besserwisserei auch ein Problem ist, lässt auf sich warten.
Die meisten Menschen sehen beide Seiten
Anstatt eine Debatte zuzulassen und zugespitzte Meinungen auszuhalten, soll eine Verbotskultur den Diskurs regulieren. Die Wortwahl der herrschenden Kritik war symptomatisch: „Diese Bilder, diese Töne will ich nicht aus Berlin sehen und hören.“ Ein Bürgermeister, der Sprechen und Zuhören mit einem Verkehrsleitsystem verwechselt. Solche Aussagen lassen sich nur durch Schwarz-Weiß-Denken erklären, durch die Vorstellung, dass es nur eine Option gibt, die bedingungslose Unterstützung der einen oder der anderen Seite. So als könnte von uns nicht verlangt werden, Empathie für alle Opfer und Empörung gegenüber allen Tätern zu empfinden.
Die meisten Menschen verurteilen die Massaker der Hamas ebenso wie die Kriegsführung der israelischen Armee, empfinden angesichts der abgeschlachteten jüdischen Festivalbesucherinnen existenzielles Entsetzen, wie auch angesichts der von Bomben zerfetzten palästinensischen Kinder. Mitmenschlichkeit ist tief in uns verankert, weswegen es eines enormen propagandistischen Aufwands bedarf, um uns abzuhärten. Im Umkehrschluss gilt: Wer die Verbrechen der Hamas gutheißt oder die Grauen der israelischen Angriffswellen ohne Wenn und Aber rechtfertigt, hat an seiner Seele Schaden genommen.
Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn Menschen, die sich dem Kampf um Gerechtigkeit verschrieben haben, der Ansicht sind, dass es momentan am notwendigen Freiraum fehlt für eine Versammlung diverser Meinungen und Positionen?
Weltweit wird mit Unverständnis auf teutonische Besserwisserei und Zeigefinger reagiert. Zumal einige der hierzulande demaskierten Antisemiten kritische jüdische Intellektuelle sind. Wie anmaßend, den Nachfahren von Holocaust-Überlebenden vorzuschreiben, welche Vergleiche sie bemühen und welche Formulierungen sie verwenden dürfen. Inzwischen pfeifen es die Spatzen von schiefen Dächern, dass selbst Hannah Arendt heute des Antisemitismus überführt werden würde. Bekanntlich ist nichts gefährlicher als Intellektuelle, die sich ein Leben lang hinter aufklärerischen, weltoffenen, toleranten Werken verstecken, um eines Tages mit einer Unterschrift unter einem Protestbrief antisemitisch zuzuschlagen.
Antisemitismus wird so nicht bekämpft
Die regelmäßig geäußerte Behauptung, der Vorwurf des Antisemitismus sei keine Zensur, man könne ihm ja mit Argumenten begegnen, ist verlogen. Wir wissen alle, was für eine Wucht dieser Vorwurf in Deutschland entfaltet. Er kann ein Individuum, aber auch eine von öffentlichen Förderungen und Spenden abhängige Organisation zerstören.
Eine weitere negative Folge ist die Lähmung progressiver politischer Arbeit, wie das Beispiel der abgesagten Global Assembly zeigt. Während die reaktionären Kräfte sich durch ein deftiges „Wird man doch mal sagen dürfen“ profilieren, wird progressives Engagement eher gelähmt. Das ist Gift für ein zukunftsgewandtes, um Alternativen bemühtes universell humanes Projekt.
Zumal die Verengung der Debatten der Bekämpfung des Antisemitismus eher schadet. Wenn der Vorwurf des Antisemitismus inflationär verwendet wird, verwischen sich die Unterschiede zwischen einem strukturellen Antisemitismus und einer entschiedenen Verurteilung der Politik Israels.
Wie Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank neulich warnte. „Wir bekämpfen eine Ideologie des Boykotts des Staates Israel. Nun wird versucht, mit den gleichen Mitteln dagegen vorzugehen, nämlich mit Boykott von denjenigen, die Israel einseitig kritisieren. Die Antwort auf Boykott kann nicht Boykott sein. Die Antwort auf Boykott kann nur Begegnung, Diskurs, Streit sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung