Kultur und Kriege: Schräge Solidarisierungen

Die liberalen Demokratien sind unter Druck. Der hybriden Kriegsführung totalitärer Mächte sollte man gerade im Kulturbereich entschlossen begegnen.

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Zwischen Kunstfreiheit und politischer Debatte: der alte, linke Antisemitismus Illustration: Katja Gendikova

Es ist kein angenehmes Tableau, welches sich im Jahre 2024 vor uns aufgebaut hat. Davor die Augen zu verschließen, hilft indes wenig. Wir alle hatten uns nach 1989 mit dem Ende der Sowjetunion eine andere, friedlichere Entwicklung gewünscht. Es kam anders. Heute herrscht Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten. Das autokratisch-imperiale Russland versucht, die ukrainische Demokratie zu vernichten, die islamo-faschistische Hamas das demokratische Israel.

Doch viele in den westlichen Demokratien haben die sich zuspitzende Bedrohungslage, deren Akteure und Hintergründe noch kaum erkannt. Das spiegelt sich besonders auch in hitzig geführten Kunst- und Kulturdebatten wider. Dabei befinden wir uns in der Bundesrepublik gegenwärtig in einer seltsamen Spirale von Boykott und Gegenboykott. Künst­le­r:in­nen werden ausgeladen, da sie sich von dem genozidalen Terror der Hamas nicht distanzieren.

Einzelne ziehen wie in Frankfurt am Main ihre Ausstellungsbeteiligung zurück. Eine Schriftstellerin sagt, sie wolle nicht mehr in einem Verlag wie S. Fischer publizieren, der sich einer dezidiert antifaschistischen Haltung verpflichtet fühlt. Und in dem Aufruf „Strike Germany“ kündigen eher unbekannte „Kulturarbeiter“ an, die Bundesrepublik wegen deren pro-israelischer Haltung zu boykottieren. Es gibt Schlimmeres, möchte man documenta15-gestählt erwidern.

Der Deutsche Bundestag hatte 2019 die BDS-Kampagne, die zu Boykott und Delegitimierung Israels aufruft, als antisemitisch eingestuft. Kulturschaffende, die BDS unterstützen, dürfen seither nicht mehr mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Dagegen protestierten immer wieder Kulturschaffende. Seit Beginn des Gazakriegs vehement. Sie sehen Kunst- und Meinungsfreiheit in Gefahr, sollten sie wegen Boykottaufrufen gegen Israels Demokratie in Deutschland nicht mehr gefördert werden.

Verdrehung der Geschichte

Wer sie kritisiert oder auslädt, muss mit Shitstorms und juristischen Klagen rechnen. Wo wir inzwischen stehen, zeigte sich 2022 beim Antisemitismuseklat auf der documenta15 in Kassel. Inzwischen geht es noch einen Schritt weiter. Nach dem genozidalen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 skandierten sich postkolonial Verstehende in Berlin die Parole „Free Palestine from German guilt“. Eine makabre Verdrehung der Geschichte.

Die Ideologen der BDS-Kampagne haben in den letzten zwei Jahrzehnten ganze Arbeit geleistet. Über Kultur- und Universitätsszene haben sie einen angeblich postkolonialen Diskurs gesetzt, der die antirassistischen Kämpfe in den westlichen Einwanderungsgesellschaften mit den Nationalitätenkonflikten im Nahen Osten kurzschließt. Die historische Unwissenheit bringt fatale Fehlinterpretationen mit sich.

Denn an Israel prallen heute vor allem zwei verschiedene politische Vorstellungen außenpolitisch aufeinander, weniger innenpolitisch. Von außen wollen BDS, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), Islamischer Dschihad oder Hamas das multiethnische Israel spalten und zerstören. Mittels rassifizierter Kulturkämpfe versuchen sie, die arabische Minderheit in Israel aufzuhetzen. Diese soll sich dem separatistischen völkisch-religiösen Aufstands-Dispositiv anschließen.

Doch die Mehrheit der Minderheit in Israel macht da bislang nicht mit. Anders als im Westjordanland und im Gaza­streifen. Bei dieser Auseinandersetzung im Nahen Osten geht es weniger um klassische Bürgerrechtskämpfe als um die Verteidigung einer offenen Gesellschaftsidee (Israel mit Muslimen) gegen eine ausschließend gedachte (Palästina ohne Juden).

Hetze gegen Juden, Scholz und Habeck

Eine friedliche Lösung kann es aber nur geben, so die Israel umgebenden panarabisch, panislamisch oder völkisch-palästinensischen Kräfte eine Ordnung akzeptieren, die auch anderen als ihnen die vollen Bürger- und Menschenrechte garantiert. Darauf deutet derzeit wenig. So lehnte Mustafa Barghouti, ein „gemäßigter“ palästinensischer Anführer, unlängst im taz-Interview eine Distanzierung von der Hamas ab. Er würde sogar in einer Koalition mit den Islamisten regieren.

Wie soll so eine friedliche Situation in oder neben der israelischen Demokratie je zustande kommen? Es waren die Angriffskriege der panarabischen und panislamischen Bewegungen und Staaten gegen Israel, deren Niederlagen den Ausgangspunkt für die Lage jener sich bis heute unversöhnlich darstellenden Bevölkerungsgruppen in Gaza, Westbank, Libanon und anderswo bilden.

Die an der Schwächung des demokratischen Lagers Interessierten überfluten derzeit weltweit die sozialen Medien mit Hetzbotschaften gegen Israel, gegen Juden, gegen Nato, USA und auch gegen Olaf Scholz, Robert Habeck und die Bundesrepublik. Man sollte sich davon nicht beeindrucken lassen. Russlands Führer Wladimir Putin erzählt fortwährend, der Überfall auf die Ukraine diene der Befreiung vom Faschismus. Kaum anders die Propaganda derer, die dem Antiterrorkrieg Israels in Gaza nun Völkermord unterstellen.

So hätten sie es gerne. Während die Hamas genozidal angriff, soll die Verteidigung israelischen Lebens geächtet sein. Gerade die Linke in Deutschland sollte gewarnt sein. Schon einmal hatte sie furchtbar geirrt, als viele im palästinensischen Kontext den völkisch-religiösen Nationalismus als einen der Befreiung verkannten. Die westdeutsche Rote Armee Fraktion (RAF) verteidigte 1972 den Anschlag des palästinensischen „Schwarzen September“ auf die Olympischen Spiele in München.

Alter, linker Antisemitismus

Damals erschossen palästinensische Terroristen zwei israelische Sportler und nahmen neun Geiseln. Beim Befreiungsversuch der Polizei am Flughafen in Fürstenfeldbruck starben alle israelischen Geiseln und fünf der acht Attentäter. Die RAF bezeichnete den Angriff auf die israelischen Sportler als „antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“.

Die gescheiterte Befreiungsaktion der Polizei beurteilte sie so: „Sie haben (…) ausschließlich darüber nachgedacht, wie sie die Revolutionäre am besten – mit Gas oder Sturmtruppen oder Präzisionsschützen oder wie nun – massakern könnten. (…) Sie hatten nur ein Ziel, nur ja dem Moshe-Dayan-Faschismus – diesen Himmler Israels – in nichts nachzustehen.“ Moshe Dayan, von der RAF auch als „Schwein“ bezeichnet, hatte gegen die Nazis gekämpft und war 1972 israelischer Verteidigungsminister.

Heinrich Himmler, dem der Jude Dayan angeblich gleichen sollte, war Reichsführer SS, nach Adolf Hitler einer der mächtigsten Führer im Dritten Reich und kalter Antisemit. Das RAF-Papier von 1972 ist kein isoliertes Dokument. Die Kämp­fe­r:in­nen der in den 70er Jahren gegründeten westdeutschen Guerillagruppen RAF, Revolutionäre Zellen (RZ) und Bewegung 2. Juni durchliefen allesamt Ausbildungslager des völkisch-palästinensischen Extremismus in Jordanien und Libanon.

1976 entführte ein gemeinsames Kommando von PFLP und RZ eine Air-France-Maschine nach Entebbe in Uganda. Sie selektierten israelische aber auch nur jüdische Passagiere von den anderen. Die Aktion war ein Desaster. Danach spalteten sich die RZ, einige wenige schlossen sich der berüchtigten Carlos-Gruppe an, die Hauptströmung nahm Abstand vom internationalen Terrorismus und orientierte sich neu.

Falsche Parteinahme

Der „Globale Süden“ als herrschaftsfreie Opferbewegung war damals wie heute eine Chimäre. Die unhistorischen Rhetoriken verstellen den Blick auf außereuropäische Herrschafts- und Gewalttraditionen. In der Geschichte der radikalen Linken führte dies zu falschen Parteinahmen. Und zu der gefährlichen Annahme, die Einhaltung der Menschenrechte sei nur ein Gebot für den Gegner, nicht für sich selbst.

Heute bezichtigen postkoloniale, sich propalästinensisch verstehende Ak­ti­vis­t:in­nen Israel in Gaza einer genozidalen Kriegsführung. Die Täter-Opfer-Umkehr erinnert fatal an die Verdrehungen der 1970er Jahre.

Es war die Hamas, die am 7. Oktober 2023 mit dem genozidalen Überfall auf Israel diesen Krieg auslöste. Die Mörder filmten sich dabei, telefonierten mit ihren Verwandten und erklärten bald alles für Lüge. Hybride Kriegsführung und digitale Manipulation gehören zum Standard totalitärer Kräfte. Liberale Demokratien sind für Desinformation besonders anfällig, auch gegen verdeckte Einflussnahmen auf Medien, Parteien, Wahlen und Kulturkämpfe.

Der Iran befindet sich seit 1979 in einem Überbietungswettbewerb um die Führerschaft im Islamismus. Er ist der wesentliche Drahtzieher von Terrororganisationen wie Hamas oder libanesischer Hisbollah. Im eigenen Land verhasst, zündeln die Mullahs im Ausland, wie sie können. Vielleicht finden sich auch im Westen ein paar Ak­ti­vis­t:in­nen, die glauben, es ginge um die koloniale Frage.

Den Mullahs und der Hamas egal

Den Mullahs aus Iran sind die Menschen im Gazastreifen so egal wie den Fanatikern von der Hamas. Angriff und Geiselnahme hatten den Zweck, die israelische Armee in eine Entscheidungsschlacht nach Gaza zu locken. In der Hoffnung, überall würden sich die Islamisten gegen Israel und demokratisch orientierte Politik erheben. Für die humanitäre Katastrophe im Gaza­streifen ist die Hamas verantwortlich. Und die vielen, die halfen, eine zivile Infrastruktur in eine militärische zu verwandeln.

Die, die zusahen, wie Hilfsgelder der UNRWA veruntreut wurden. Und auch die Ärzte, die es hinnahmen, dass ihre Pa­ti­en­t:in­nen als menschliche Schutzschilder missbraucht wurden. Eine sichtbare Abgrenzung zum Islamo-Faschismus, zu dessen Taten und Narrativen sollte möglich sein, ohne in Kunst und Politik zu behaupten, man werde in der Bundesrepublik rassistisch ausgegrenzt oder fühle sich künstlerisch von Zensur bedroht. Hinter Antifaschismus und Menschenrechte gibt es kein Zurück.

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Andreas Fanizadeh, geb. 1963 in St.Johann i.Pg. (Österreich). Leitet seit 2007 das Kulturressort der taz. War von 2000 bis 2007 Auslandsredakteur von „Die Wochenzeitung“ in Zürich. Arbeitete in den 1990ern in Berlin für den ID Verlag und die Edition ID-Archiv, gab dort u.a. die Zeitschrift "Die Beute" mit heraus. Studierte in Frankfurt/M. Germanistik und Politikwissenschaften.

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