Missbrauch in der evangelischen Kirche: Verstecken geht nicht mehr
Lange stand sexualisierte Gewalt in der EKD im Schatten der katholischen Kirche. Nun ist es offiziell: Auch die EKD hat ein Missbrauchsproblem.
A ls „rabenschwarzen Tag für die EKD“ bezeichnet Detlev Zander, der in den 60er und 70er Jahren Opfer von sexualisierter Gewalt in einem evangelischen Kinderheim wurde, den Donnerstag in Hannover. In der Stadt, in der die Evangelische Kirche (EKD) ihren Sitz hat, wurde die lang erwartete Studie zum Missbrauch in evangelischen Einrichtungen vorgestellt. Treffender als Zander kann man kaum beschreiben, was die Studie zutage förderte.
Da sind nicht nur die Opfer- und Täterzahlen, die ähnlich hoch sind wie jene in der katholischen Kirche. Die sogenannte MHG-Studie, die 2018 katholische Fälle untersucht hatte, spricht von 1.670 Täter:innen und 3.677 Opfern. Mit den jetzt bekannt gewordenen Zahlen kann sich die EKD nicht mehr hinter der katholischen Kirche verstecken.
Jahrelang hatten sich protestantische Würdenträger herausgeredet, dass Fälle, wie sie seit 2010 in katholischen Einrichtungen offenbar wurden, bei ihr nicht vorkommen können. Weil die evangelische Kirche nicht so autoritär und hierarchisch organisiert sei wie die katholische, weil es bei ihr keinen Zölibat gebe und keine solch strikte Sexualmoral, wie sie Katholik:innen auferlegt wird. Außerdem würden viele Pfarrer in Pfarrfamilien leben, nicht selten mit vielen Kindern.
Doch das ist, das zeigt die Studie exemplarisch, kein automatischer Schutz. Laut der nun vorgelegten Studie sind zwei Drittel der Täter – es sind tatsächlich fast immer Männer – verheiratet, 45 Prozent sogar Serientäter: Sie haben mehrere Mädchen und Jungen missbraucht, und das nicht nur einmal. Für die Kirche, die für Schutz, Vertrauen und Nähe steht, ist das fatal und beschämend.
Die Täter konnten ihre Rolle als Seelsorger so leicht wie perfide ausnutzen. Bei ihren Übergriffen profitierten sie zudem von ihrer pastoralen Macht. Angesichts dieses Ausmaßes von Machtmissbrauch ist das Bild des grundsätzlich vertrauenswürdigen evangelischen Pfarrers schwer aufrechtzuerhalten.
Das ist für die Kirche und insbesondere für ihre grundanständigen Pastoren, die es trotz allem gibt, dramatisch. Peinlich ist für die Kirche zudem, dass die Aufarbeitung des strukturellen Machtmissbrauchs nicht durch Eigeninitiative der EKD zustande kam, sondern durch das Engagement der Betroffenen. Wie sollen Gläubige ihrer Kirche künftig noch vertrauen können?
Vermutlich wird es in den kommenden Wochen massenweise Austrittserklärungen geben. 38 Prozent der bereits ausgetretenen Protestant:innen gaben bereits im vergangenen Sommer an, wegen der Missbrauchsfälle der Kirche den Rücken gekehrt zu haben. Das hat sich die Kirche selbst zuzuschreiben.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen