piwik no script img

Parteitag der GrünenWillkommen, graue Wirklichkeit

Der Druck auf die Grünen in diesen Tagen ist enorm. Zum Auftakt ihres Parteitags üben sie sich im Umgang damit – durch Pragmatismus.

Einigermaßen grün und heiter: Annalena Baerbock und Robert Habeck auf dem Parteitag Foto: REUTERS/Wolfgang Rattay

Karlsruhe taz | „Unsere Ideologie heißt Wirklichkeit“. Es ist Robert Habeck, der dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe das eigentliche Motto gibt – auch wenn vorne auf der Bühne steht: „Machen, was zählt“.

Man lasse sich nicht zurück in die Nische schieben, sagt auch der Parteivorsitzende Omid Nouripour. Es gebe Angriffe, „weil wir im Zentrum des Geschehens stehen“. Auch Vorsitzende Ricarda Lang schwenkt auf den Kurs des Pragmatismus ein: „Wenn man immer die reine Lehre vertritt, landet man wie FDP und Linkspartei im Abseits“, sagt sie mit Blick auf die vergangenen Landtagswahlen.

Trotz Wahlniederlagen in Bremen, Bayern und Berlin. Obwohl man in Hessen aus der Regierung geflogen ist. Und trotz des harten Gegenwinds, den Robert Habeck mit seinem Heizungsgesetz erlebt hat: Es ist ein einigermaßen heiteres Jetzt-erst-Recht, was da vom ersten Tag des Parteitags in Karlsruhe ausgeht. Hier hatten die Grünen sich schon vor 42 Jahren zum Gründungsparteitag versammelt.

Früher wäre in so einer Situation eine Kursdebatte zwischen Realos und Fundis ausgebrochen. Heute sind es nicht die Grünen, sondern 500 Mitglieder der FDP, die ihre Parteiführung zum Austritt aus der Ampelkoalition nötigen wollen – während Wirtschaftsminister Robert Habeck die Grünen weiter auf Pragmatismus einschwört.

Gemeinsame Feinde

Den größten Applaus bekommt er aber, als er sagt: „Ich höre immer, die Grünen müssten in der Realität ankommen. Ich kann es nicht mehr hören“. Da jubelt der Parteitag. Die Grünen hätten längst die Realitäten von Krieg, Klimakrise und Migration angenommen, so Habeck. Die Realität hätten die Parteien der großen Koalition verweigert: „Die Groko hat uns in diese Lage gebracht. Realitätsblind gegenüber Putin, China, gegenüber der Klimakrise. Immer nur leere Phrasen, Gesetze ohne Konsequenzen. Und jetzt soll die Groko wieder ein Kassenschlager sein?“

Es sind die gemeinsamen Feinde, die die Grünen einen. Für die Delegierten ist der Feind häufig der Koalitionspartner FDP, für die Funktionsträger eher Friedrich Merz, dem Omid Nouripour attestiert, nicht einmal Opposition zu können: „Das kann doch nicht sein, dass eine Opposition mehr die Niederlage der Regierung will als den Erfolg des Landes“, sagt er und reimt: Das Land brauche „mehr Herz als Merz“.

Und es gibt einen neuen Hauptfeind, zu dem viele Grüne in Regierungsverantwortung lange ein entspanntes Verhältnis hatten: die Schuldenbremse. Mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts stehen Milliardeninvestitionen für Klimaschutz, Infrastruktur und Wirtschaftsumbau nicht mehr zur Verfügung.

Habeck vergleicht dieses Hemmnis mit Blick auf die Weltwirtschaft mit einem Boxclub ohne Regeln: „Mit der Schuldenbremse, wie sie ist, haben wir uns freiwillig die Hände hinter dem Rücken gefesselt“, sagt er mit Blick auf Subventionsprogramme in China und den USA. „Die anderen wickeln sich Hufeisen in die Handschuhe – wir haben noch nicht mal die Arme frei.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Finanzminister Christian Lindner bereits angekündigt, die Bremse für den Haushalt 2023 auszusetzen.

Welle von rechts

Doch so laut die Kritik auch ist: Ein zentraler Dringlichkeitsantrag, der die Schuldenbremse in jeder Form „für eine gerechtere Welt“ abschaffen will, wird mit großer Mehrheit abgelehnt. Es ist ein erstes Zeichen, dass die Delegierten der Parteiführung folgen und sich nicht in der Nische der reinen Lehre verkriechen wollen. Und es lässt ahnen, dass es beim Thema Asyl ebenso so sein wird. Diese Debatte hat die Parteitagsregie in der Tagesordnung auf die Nacht zum Sonntag verlegt, parallel zum Parteiabend.

Habeck streift die Migrationsfrage am Donnerstag lediglich kurz. Winfried Kretschmann hingegen, der einzige grüne Regierungschef, geht ausführlich auf das Thema ein: Er warnt vor einer rechtspopulistischen Welle in Europa. Am Vorabend erst haben die Niederländer den Rechtspopulisten Geert Wilders zur stärksten politischen Kraft gemacht.

Mehr Arbeitsmigration und weniger irreguläre Migration sei der Weg, das Asylrecht zu verteidigen und letztlich die Demokratie zu schützen, sagt Kretschmann. Was er nicht erwähnt: Sein eigener Koalitionspartner, die baden-württembergische CDU, hat gerade einen Beschluss gefasst, der sich für eine faktische Abschaffung des individuellen Asylrechts ausspricht.

Israels Existenzrecht und palästinensisches Leid

Es ist schon nach Mitternacht, als der Parteitag eine Resolution zum Israel-Gaza-Konflikt einstimmig verabschiedet, mit der er sich klar an die Seite Israels stellt, der Hamas die Schuld an der Situation im Gazastreifen vor und nach dem 7. Oktober zuweist, den illegalen Siedlungsbau im Westjordanland ablehnt und sich für eine Zweistaatenlösung ausspricht.

Die grüne Außenministerin und Parteichefin Annalena Baerbock hat zuvor in einer wirkungsvollen Rede vor einer totenstillen Halle die Haltung ihrer Außenpolitik und ihrer Partei gleichermaßen dargelegt: klar auf der Seite Israels, aber das Leid der Menschen auf beiden Seiten im Blick.

Israel habe das Recht und die Pflicht, seine Bürger zu verteidigen. Dem hätten frühe Rufe nach einem Waffenstillstand widersprochen. Klar müsse aber auch sein, dass Israel gegen die Hamas kämpfe, nicht gegen die Palästinenser, sagt Baerbock. Ihr Ausblick auf die internationalen Auswirkungen des Kriegs in Gaza sind düster: „Mit jedem Tag werden die Gräben tiefer, auch international.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Kein vernünftiger Mensch verlangt oder erwartet, dass die Grünen oder sonstwer IMMER die reine Lehre vertritt. Kompromisse sind zwingend nötig in einer Demokratie - bis zu einer gewissen Grenze: wenn es die Grundsätze angeht, dann darf kein Kompromiss dazu führen, diese aufzugeben, zumindest nicht ohne entsprechende Gegenleistung. Hier sei erwähnt die kazastrophale Begebenheit um Glyphosat oder die Behandlung des Asyl-Themas oder auch die Verankerung der Militäreausgaben im GG - ohne jede Gegenleistung, auch nicht die der Kinderrechte im GG.

  • Vielleicht kommen die Grünen einfach mal da an wo jeder Bürger zu von Ihnen verdonnert wurde: Jeden Euro zweimal umdrehen!

    Es ist zum kotzen wenn für ein belegtes halbes Brötchen mittlerweile 2,50 verlangt werden, das Schulessen um 120% erhöht wurde, und dann von der Regierung, die das alles mit auf den Weg gebracht hat, rumgejammert wird das sie nicht mehr Schulden machen darf!

    Wieviel Steuergeld habt ihr zum verbraten? 1000 Milliarden. Das sind pro Kopf 12500€ .... soviel bekomme ich nicht an Wert zurück! Mein Sohn hat zu wenig Lehrer, mein Arbeitgeber kotzt von den zusätzlichen Abgaben, meine Frau im Amt von Unterbesetzung. Und wir alle von steigenden Kosten für Gas, Wasser, Strom, Müll, Regenwasser(!), Busse, Bahn, usw.







    Alles Jobs der Regierung. Alles was ihr so verkackt habt, und ihr seid in der Mitte dabei. Jawoll! Und daher bekommt ihr die Schelte auch zu Recht!

  • Richtig, Wirklichkeit! Die Grünen haben, und dies auch durchaus zu Recht, mächtig Prügel einstecken müssen, sie sind aber immer noch wirklichkeitsnäher als alle anderen Parteien. Die Union lebt in und von der Lüge der Vergangenheit, die FDP reproduziert nur die immer gleiche liberale Phantasiewelt, die SPD ist eingefroren in ihrem neoliberal- sozialen Spagat. Bei allen Fehlleistungen der Ampel, die Grünen sind doch immer noch die treibende Kraft und alle anderen sind die Verhinderer.

  • > ... Gesetze ohne Konsequenzen.

    Mit Konsequenzen tun sich die Menschen schwer. Nach 16 Jahren Gesetzen "ohne Konsequenzen" ist das Land vermutlich auch etwas entwöhnt. Etwas Nachsicht bitte.

  • US-Subventions- und Ausgabenpolitik als Vorbild ? Wollen wir hier auch alle 6 Monate



    shut-down ? Tausende neue Beamtenstellen und Millionen-teures Kanzleramt,



    Milliarden- Subventionen für intern. Großkonzerne als Zukunftsinvestitionen etikettiert.

  • Das Geschäft mit der Angst !



    So eindrucksvoll der Wirtschaftsminister (und Grüne?) die Lage im globalen Wettbewerb darstellte, eine Schuldenbremse ändern will, die eine Investition zur RETTUNG der deutschen Wirtschaft und der daran hängenden Arbeitsplätze verhindert, so dringender eigentlich die Frage -und das gerade nach dem Karlsruher Desaster- : Was passiert eigentlich, wenn der Plan, 'wettbewerbsfähig' zu bleiben, nicht aufgeht ? Bekommen wir Verhältnisse wie in Argentinien, wo einer übergroßen Mehrheit seiner Bewohner*innen praktisch nichts mehr bleibt und verzweifelt so einen Politclown wählt ? Meine These dazu ist: Im globalen Wettbewerb gewinnt keiner, der Kapitalismus läuft sich tot wie schon in China, es gibt zwar noch neue 'Märkte' wie in der Ukraine, wo nach einem Krieg viel aufzuräumen ist, aber aufgrund der Tatsache, dass damit keine Profite mehr drin sind, keine Entwicklungsbank noch Kapital generieren wird, der Profite verheißen läßt, müssen wir uns darum kümmern, wie eine klimagerechte -natürlich diesen vollkommen verrückt überbordenden Wohlstand reduzierende- Wirtschaft so funktioniert, in der jede/r Arbeit, Auskommen und Anteil am Reichtum haben kann. Es ist doch völlig verrückt, dass Solarinvestitionen ausbleiben, weil sich kein Unternehmen mehr findet, das damit 'Profite' machen kann. Die Angst vor der Wahrheit, die auch 'grüne' Politiker umtreibt, ist derzeit nur das Geschäft der Rechten mit ihrer These, sich aus der Umklammerung multinationaler Konzerne (je größer desto anfälliger) lösen zu müssen, was durchaus nicht realitätsfern ist. Mit den Unternehmen, die die Klimakatastrophe ausgelöst haben, diese bekämpfen zu wollen, kann und darf keine 'grüne' Politik sein.

    • @Dietmar Rauter:

      Natürlich wird der Plan nicht aufgehen.



      Die Spirale dreht sich dadurch weiter nach unten.

  • Falsch: "Mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts stehen Milliardeninvestitionen für Klimaschutz, Infrastruktur und Wirtschaftsumbau nicht mehr zur Verfügung."

    Richtig: "Die Summe aus Investitionen und konsumtiven Ausgaben wurde begrenzt."



    Wird bei letzteren gespart, kann ohne weiteres so viel investiert werden wie geplant.

    Der KTF finanziert zudem auch Konsum, wie die staatliche Übernahme der EEG-Umlage für Altanlagen. Damit entsteht kein einziges Windrad zusätzlich, aber die Stromverbraucher haben etwas mehr Geld zum Ausgeben in der Tasche oder auf dem Konto.

  • "Winfried Kretschmann hingegen [...] geht ausführlich auf das Thema ein: Er warnt vor einer rechtspopulistischen Welle in Europa [...]"

    Die rechtspopulistische Welle ist längst da. Und den größten Fehler, den die Grünen jetzt machen können, ist wegen dieser Welle Sand in den Kopf zu stecken, die es Union und FDP schon machen. Denn NICHTS wertet den rechten Rand so auf, wie die Übernahme seiner Positionen.

    • @Kaboom:

      ich würde hier noch Olaf Scholz und Nancy Fraser hinzufügen