Streit um Migration bei Grünen-Parteitag: Die Vertrauensfrage
Die Grünen ringen mit sich und der Ampel. Die Parteilinke will keine weiteren Asylverschärfungen. Eine Einigung gibt's dann doch.
Samstagabend, fast 22 Uhr. In anderen Parteien würde man um diese Uhrzeit langsam zu Wein und Bier übergehen, auf dem Karlsruher Parteitag der Grünen wird es jetzt noch mal ernst: Robert Habeck tritt ans Redepult. Die Ärmel des schwarzen Hemds hochgekrempelt, die Haare wie früher verwuschelt. Der Vizekanzler im Kampfmodus. Habeck sagt, die jetzige Debatte werde die „schwierigste und emotionalste“ des Parteitags. Er wolle nicht drohen, aber alle sollten sich die Konsequenzen dieser Abstimmung klarmachen, „das ist kein Spiel“. Der Antrag sei „ein Misstrauensvotum, das verkleidet sagt: Verlasst die Regierung“.
Es ist ein Antrag der Grünen Jugend, der den Minister dazu bringt, solchen Druck auf die Delegierten aufzubauen. Sie wollen alle Grünen in Regierungsverantwortung und auch die Fraktionen verpflichten, keinen Asylrechtsverschärfungen mehr zuzustimmen. Also keinen weiteren sicheren Drittstaaten, keinen Sozialhilfekürzungen und keinen Asylverfahren an den Außengrenzen der Europäischen Union.
„Ich kann diese Forderung nicht einhalten“, sagt Außenministerin Annalena Baerbock in der Debatte. „Soll ich die Verhandlungen über Grenzsicherung meinem ungarischen Kollegen überlassen, weil ich darüber nicht mehr verhandeln darf?“ Die frühere Bundesvorsitzende der Grünen Jugend Sarah-Lee Heinrich widerspricht der Parteiführung: „Wir wollen nicht das Ende dieser Regierung. Wir wollen den Anfang einer anderen Asylpolitik.“
Während es den einen um Regierungsfähigkeit der Grünen und eine Asylpolitik in schwierigem europäischen Umfeld geht, geht es den anderen um Moral und einen Umgang mit Geflüchteten, der dem und der Einzelnen gerecht wird. 130 Änderungsanträge wurden in zähen Verhandlungen bis kurz vor der Debatte in den Text eingearbeitet und sollen, wie es in der Überschrift heißt, für „Humanität und Ordnung“ in der Asylpolitik sorgen. Nur noch der Antrag der Grünen Jugend mit ihrer imperativ anmutenden Forderung steht zur Abstimmung.
„Härteste Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre“
Die Jungen dominieren dank hoher Beteiligung die geloste Redeliste. Es sei unehrlich über Ordnung zu reden, während im Mittelmeer Menschen sterben, sagt der Delegierte Vasili Franco. Und Leon Schlömer aus Köln wünscht sich: „Lasst uns nicht die Partei sein, die sagt, im großen Stil abschieben. Lasst uns sagen: Kein Mensch ist illegal.“ Sie werfen der Parteispitze vor, „an den härtesten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre beteiligt zu sein“.
Ist es tatsächlich vorstellbar, dass die Partei ihren Amts- und Mandatsträgern solche Fesseln anlegt? Offenbar traut die Führung der eigenen Partei derzeit wieder vieles zu. Neben den beiden Ministern werfen auch die Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang ihren Einfluss in die Waagschale. Langs Worte haben dabei besonderes Gewicht: Die 29-jährige Parteilinke war bis vor wenigen Jahren selbst Bundessprecherin der Grünen Jugend. Sie sagt, emotional könne sie vieles nachvollziehen, was die Grüne Jugend fordert. „Aber wenn wir nicht mehr am Tisch sitzen, wird sich nix ändern.“
Schon vor dem Parteitag war klar: Es gärt an Teilen der Basis. Über 1.200 Parteimitglieder hatten einen Brandbrief unterzeichnet, der von der eigenen Spitze eine Kurskorrektur fordert. Der Oberrealo Winfried Kretschmann hatte überraschend mit Lang einen Gastbeitrag im Tagesspiegel veröffentlicht, der unter der Formel „Humanität und Ordnung“ für eine pragmatische Asylpolitik der Partei warb.
Der Unmut an der Basis über diese und andere Kompromisse ist auch auf dem Parteitag zu hören. „Wir erkennen unsere Partei nicht wieder“, ruft eine Delegierte. Die Grünen ließen sich von SPD und FDP „am Nasenring durch die politische Manege ziehen“, kritisierte ein anderer. „Ich bin sehr enttäuscht über die Koalition, auf der Habenseite steht zu wenig“, meint ein dritter. Und einer fragt die Parteispitze: „Wie wollt ihr die FDP endlich an die Kandare kriegen?“
Hauptfeind ist die CDU
Der Hauptfeind hier aber sind die CDU und ihr Vorsitzender, Friedrich Merz. Dem attestiert Parteichef Omid Nouripour, nicht einmal Opposition zu können. „Das kann doch nicht sein, dass eine Opposition mehr die Niederlage der Regierung will als den Erfolg des Landes“, sagt er mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds. Und reimt: Das Land brauche „mehr Herz als Merz“.
Die Generaldebatte am Donnerstagabend dient dazu, den Puls der Partei nach zwei Jahren Regierung und dem Urteil aus Karlsruhe zu beruhigen. Da wird schnell klar: Anders als bei der FDP, wo gerade 500 Mitglieder eine Befragung zum Austritt aus der Koalition angestoßen haben, will bei den Grünen niemand ernsthaft die Regierung verlassen. Viel ist an diesem Abend von Verantwortung die Rede, für das Land und für Europa.
Robert Habeck, der mal als Heilsbringer verehrt wurde, bekommt hier zwar unterschwellig das Misstrauen vor allem aus linken Teilen der Partei zu spüren. Aber er erhält den größten Applaus, als er fürs Regieren auch unter erschwerten Bedingungen wirbt: „Ich höre immer, die Grünen müssten in der Realität ankommen. Ich kann es nicht mehr hören.“
Die Partei habe die Realitäten von Krieg, Klimakrise und Migration früher angenommen als andere. „Die Groko hat uns in diese Lage gebracht. Realitätsblind gegenüber Putin, China, gegenüber der Klimakrise. Immer nur leere Phrasen, Gesetze ohne Konsequenzen. Und jetzt soll die Groko wieder ein Kassenschlager sein?“
Die Grünen sind gegen die Schuldenbremse
Auch in ihrer Haltung zur Schuldenbremse müssen sich die Grünen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht korrigieren. Bei deren Einführung hatten sie dagegen gestimmt, seit Langem wollen sie eine Reform, die Investitionen möglich macht. Der Parteitag bekräftigt diese Position. Wird das am Ende auf ihr Konto einzahlen?
Auf diesem Konto scheint gerade Ebbe zu herrschen. In Berlin und Hessen sind die Grünen aus der Regierung geflogen, zwei Drittel der Bevölkerung blickt inzwischen negativ auf die Partei. Klimapolitik, das grüne Kernthema, ist auf der Prioritätenliste der Deutschen nach hinten gerutscht. Das drückt auf die Stimmung. Oliver Hildebrandt, Landtagsabgeordneter aus Baden-Württemberg, sagt: „Das ist ja nur für die jungen Mitglieder was Neues, die noch keine Veggieday-Debatte oder 5-Euro-Benzinpreis-Diskussion mitbekommen haben.“
Angesichts der Lage schneiden die beiden Vorsitzenden bei ihrer Wiederwahl respektabel ab: Omid Nouripour, der mit 79 Prozent der Stimmen wieder gewählt wird, verliert nur leicht an Zustimmung. Ricarda Lang erreicht mit 82,3 Prozent ein leicht besseres Ergebnis als vor zwei Jahren. Nouripour halten manche Realos vor, ihre Interessen nicht gut genug durchzusetzen – und Lang, der Parteilinken, zu viel Raum zu geben.
Zu Beginn ihrer Amtszeit hatten viele vermutet, dass Lang im Schatten des deutlich erfahreneren Nouripours stehen würde. Tatsächlich ist es manchmal genau andersherum. Beide aber sind deutlich weniger profiliert, als es ihre Vorgängerinnen Habeck und Baerbock waren.
Auch an anderen Stellen ist zu merken, dass die Delegierten nicht zufrieden sind und versuchen, das Profil der Partei zu stärken – zumindest ein bisschen. Da wird ein Zitat Konrad Adenauers zur europäischen Einheit aus der Präambel des Europa-Wahlprogramms geworfen, mit der Begründung, der erste Bundeskanzler der Republik sei Sexist gewesen.
Weiterer Streitpunkt: Mercosur
Auch die Abstimmung zum Handelsabkommen Mercosur wird zum Testfall für grünes Selbstverständnis. Der Parteitag stimmt mit knapper Mehrheit für einen Antrag, der von Habeck verlangt, das Abkommen zwischen 30 Staaten der EU und Südamerikas in einzelnen Teilen neu zu verhandeln. Zu Realpolitik gehört aber auch: Der Abschluss dieses Vertrags hängt eher vom Amtsantritt des als unberechenbar geltenden neuen Präsidenten Argentiniens Javier Milei am 10. Dezember ab.
Der Parteitag verabschiedet außerdem das Wahlprogramm zur Europawahl im nächsten Jahr. Die Liste wird von der Sozialpolitikerin Terry Reintke angeführt, die seit dem vergangenen Jahr bereits Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament ist. Auf der Liste setzen sich in zahlreichen Kampfabstimmungen auffällig viele Parteilinke durch.
Parteilinke Bislang ist Terry Reintke, 36, Sozial- und Beschäftigungspolitikerin, hierzulande noch nicht sehr bekannt. Das muss die Parteilinke in den kommenden Monaten noch ändern.
Spitzenkandidatin Reintke ist Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl im kommenden Jahr. Im knallroten Kleid spricht sie in ihrer Bewerbungsrede über den europäischen Mindestlohn, besseren Arbeitsschutz und über die Lkw-Fahrer, die im hessischen Gräfenhausen mit einem Hungerstreik ihren Lohn einforderten. Und sagt: „Wir werden nächstes Jahr mit aller Kraft gegen einen Rechtsruck im Europäischen Parlament kämpfen müssen.“
MeToo Reintke hat im vergangenen Jahr den Fraktionsvorsitz im Europäischen Parlament übernommen. Die größte mediale Aufmerksamkeit allerdings hat ihr bislang ihr Engagement in der #MeToo-Debatte beschert: Weil sie das Thema nach Brüssel gebracht hat, hat das Time Magazine sie als „Person of the Year“ ausgezeichnet. Reintke könnte auch Spitzenkandidatin der europäischen Grünen werden, das aber wird erst im Februar entschieden. (taz)
Bevor es dann am Samstag gegen 1 Uhr nachts doch noch auf die Tanzfläche geht, unterstützen die Delegierten nach zweieinhalbstündiger ernsthafter Debatte ihre Parteispitze in der Asylfrage mit überraschend großer Mehrheit: Sie stimmen gegen den Antrag der Grünen Jugend.
Die Partei einigt sich damit auf eine Asylpolitik mit Kernsätzen wie: „Steuerung, Ordnung und Rückführung gehören zur Realität eines Einwanderungslands wie Deutschland dazu. Es braucht legale und sichere Wege zu uns, jenseits einer menschenfeindlichen Festung Europa einerseits und unkontrollierter Grenzen andererseits.“
Die Parteivorsitzenden sind sichtlich erleichtert, Habecks Staatssekretärin Franziska Brantner, die im Hintergrund bei den Landesverbänden für den Antrag geworben hatte, zeigt sich zufrieden. Am Ende sei es wie immer, sagt ein anderer Grüner aus den vorderen Reihen: Wenn der Partei der Gegenwind ins Gesicht blase, dann stehe man eben zusammen.
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