Rechte Parteien im EU-Parlament: Internationale der Nationalisten

2024 wird in der EU gewählt. Zwei ultrarechte Fraktionen hoffen auf Zuwachs, ihre Strategen träumen vom „großen Zelt“, das sie vereint.

Im Vordergrund die zwei Vorsitzenden der Fraktion EKR und der Präsident der Fraktion ID im EU-Parlament. Dahinter weitere Abgeordnete der Rechten

Nicola Procaccini (EKR), Ryszard Legutko (EKR), Marco Zanni (ID) im Europäischen Parlament Foto: Philippe Stirnweiss/rea/laif

Die Wahlen zum Euro­päi­schen Parlament (EP) finden in weniger als einem Jahr, im Mai 2024 statt. Hat das jemand bemerkt, bevor die AfD ihren ultrarechten Spitzenkandidaten aufgestellt hat? „Europawahlen“ gelten dem europäischen Demos wie den national aufgestellten politischen Eliten – und selbst den meist auf ihr Heimatland fixierten EP-Fraktionen – offenbar als „Nebenwahlen“. Sie alle betrachten die Wahlen zum Europäischen Parlament als Probeläufe für nationale Wahlschlachten. Unzufriedene Wählerinnen und Wähler sehen sie oft als Gelegenheit für den „Denkzettel“ oder die Wahl aussichtsloser Orchideenparteien.

Dabei geht es 2024 um alles oder nichts: Europaweit sind Rechtsradikale auf dem Vormarsch. Sie schmieden Regierungskoalitionen mit Konservativen. Auch in Brüssel soll ein „großes Zelt“ die gesamte Rechte beheimaten.

Sie wollen die „Ursula-Koalition“ stürzen

In Sachen „Brüssel“ haben wir alle ein wenig Klippschule nötig. Kurz die Zahlen und Fakten: Das alle fünf Jahre gewählte Parlament ist die wichtigste europäische Institution; es beschließt Verordnungen und Richtlinien, entscheidet mit über den Haushalt und debattiert die wichtigen Themen. Mächtiger sind die Kommission als Exekutiv­organ und der Rat als zweite legislative Kammer sowie der Gerichtshof in Luxemburg, doch das Parlament hat seit seiner Einrichtung im Jahr 1952 sukzessiv wichtige Rechte und Aufgaben an sich gezogen. Dazu gehört, mit Rücksicht auf das Wahlergebnis, die Besetzung der EU-Kommission.

Im EP sitzen 750 Abgeordnete aus 27 Mitgliedsländern. Auf eine europa­freundliche 70-Prozent-Mehrheit von bislang 177 Christdemokraten (EVP), 143 Sozialdemokraten (S&D), 101 Liberalen und 72 Grünen kann sich die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stützen. Diese „Ursula-Koalition“ zu stürzen, schicken sich nun euro­päi­sche „Patrioten“ an. Das sind derzeit 66 Abgeordnete der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) unter Führung der polnischen PiS, der Fratelli d’Italia und der spanischen Vox-Partei sowie 62 Deputierte der Fraktion Identität und Demokratie (ID) unter Führung der italienischen Lega und des französischen Rassemblement National – plus FPÖ, Schwedendemokraten, AfD und Vlaams Belang.

Sie halten sich für Europas Zukunft

Wer in dieser Aufzählung die ungarische Fidesz vermisst: Sie ist von der Europäischen Volkspartei suspendiert und derzeit fraktionslos. Ihr Vorsitzender Viktor Orbán hat schon 2017 in einer Rede den Ton angegeben: „Vor 20 Jahren dachten wir, Europa ist unsere Zukunft. Heute wissen wir, dass wir Europas Zukunft sind.“ Gemeint ist das Projekt eines dezidiert christlich-abendländischen, homophoben und migrantenfeindlichen „Europas der Vaterländer“, das sich geostrategisch von Amerika absetzt und, jedenfalls was Orbán angeht, Russland wieder annähert. Und vor allem Putins Plan befördert, die EU zu schwächen und zu spalten. Nennen wir es: die Orbánisierung Europas.

Giorgia Meloni sitzt der EKR im europäischen Parlament vor Foto: Angelo Carconi/ansa/epa

Dafür stellen führende Vertreter der Ultrarechten das „große Zelt“ über EKR und ID auf, wie sie es nennen, und zwar unter Einschluss der EVP. Während der ungarische Premier im Hintergrund bleibt und mit irredentistischen Ansprachen an magyarische Blutsverwandte im einstigen „­Großungarn“ und als Putin-Handlanger irrlichtert, agiert seine Freundin – und EKR-Vorsitzende – Giorgia Meloni diplomatischer. Sie deckt den restriktiven Kurs Polens und Ungarns in der Migrations- und Flüchtlingspolitik, auch deren Rechtsstaatsverletzungen, und betreibt daheim eine reaktionäre Kultur- und Sozialpolitik. Allerdings steht Meloni an der Seite der Ukraine und schockierte rechte Ultras jüngst mit ihrer Einlassung, Italien müsse Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte anwerben, um Beschäftigung und Wohlstand zu sichern.

Manfred Weber umwarb die Ultrarechten

Das italienische Modell ist eine ­Dreierkoalition aus geläutert-pragmatischen Postfaschisten, als Forza Italia auferstandenen Christdemokraten und Lega-Populisten. Die Europäisierung dieser Allianz ventiliert Meloni geschickt mit dem EVP-Vorsitzenden, dem deutschen Christsozialen Manfred Weber. Nach seiner Niederlage gegen Ursula von der Leyen im Jahr 2019 ist er nach rechts gerückt und bastelt nun an einem breiten konservativen Bündnis.

Probelauf war im Juli dieses Jahres die knapp gescheiterte Ablehnung des Renaturierungsgesetzes, für die Weber offen EKR und ID umworben hatte. Gegen die ambitionierte Klima- und Energiepolitik der EU-Kommission und mehr noch beim Bau einer „Festung Europa“ kann sich das große Zelt entfalten, wofür Opportunisten wie ­Matteo Salvini (ID) und Orbán sicher zu haben sein werden.

Was sie trennt, was sie eint

Eine „Internationale der Nationalisten“ wird aber nicht reibungslos zu bilden sein. Während sich Marine Le Pen, die Grande Dame der europäi­schen Rechten, und Giorgia Meloni, ihre CEO, nicht mehr auf den Ausstieg aus der EU festlegen und den Euro akzeptieren, spuckt Björn Höcke als faktischer Führer der AfD große Töne: Die EU müsse sterben, damit Europa leben könne. Polens PiS wiederum ist vor den im Oktober stattfindenden nationalen Wahlen in Bedrängnis geraten durch rabiate Faschisten der ­Konfederacja. Auch Le Pens „entdiabolisierte“ Partei, die von Frexit und Franc nicht mehr ­reden will, steht unter Druck des antisemitischen Integristen Eric ­Zemmour. Zu ihm hat sich der bizarre AfD-­Spitzenkandidat Maximilian Krah bekannt.

Maximilian Krah (Mitte) ist AfD-Spitzenkandidat für die Europa-Wahl und Mitglied der ID-Fraktion Foto: Annegret Hilse/reuters

Die Verfechter eines identitären Europas lehnen Kompromisse ab und fordern neben D-Exit und D-Mark vor allem „Eurowhiteness“. Das ist eine Neuauflage der „Nation Europa“, die weltanschaulich an das von Hitler und Mussolini zwangsbesetzte Europa der 1940er Jahre anschließt und nach „konservativen Revolutionären“ Ausschau hält, deren Agenda das Ende der „linken Hegemonie“ in Europa ist. Vor allem in sozialen Medien verbreiten sie das Verschwörungsnarrativ, Linke, Grüne und Liberale planten den „Großen Bevölkerungsaustausch“ durch muslimische und afrikanische Einwanderer und die Enthauptung der Traditionsfamilie. Die „Migrationskrise“, die heutzutage bei jeder Schwimmbadschlägerei aufgerufen werden kann, schmiedet Konservative und Rechtsradikale zusammen.

Die Grünen müssen einen Themenwechsel einleiten

Man setzt also besser nicht auf lückenlose Brandmauern der Konservativen und stümperhafte Eigentore der Rechten, sondern auf entschiedene Gegenwehr. Denn der Sieg der europäi­schen Rechten im Mai 2024, medial schon wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgemalt, lässt sich vermeiden. Vor allem die Grünen, von Union und AfD gleichermaßen als Hauptgegner anvisiert, müssen einen Themenwechsel einleiten.

Zum einen können sie das Potenzial der von rechts als Freiheitsberaubung diffamierten Energiewende für einen nachhaltigen und global gerechten Wohlstand in Europa und der Welt herausstellen. Zum anderen können sie konkrete Lösungen für eine gerechte Migrations- und Flüchtlingspolitik anbieten, die nicht zuletzt eine Kooperation mit afrikanischen Herkunftsländern beinhaltet.

Sie müssen Christdemokraten und Konservative stellen, die nach rechts schielen, genau wie Linksnationalisten, die die EU auf Kapitalismus reduzieren und die Attacke von Autoritären und Autokraten auf die freiheitliche Demokratie unterschätzen.

Jetzt kommt es auf die Jungen an

Alexander Gauland hat kürzlich bekannt, dass die westlichen Bündnissysteme deutschen Interessen nicht dienlich sind. Eine rechte Mehrheit in den EU-Institutionen plus eine republikanische Regierung in Washington würde die gesamte geopolitische Tektonik verschieben.

Doch Brüssel ist noch lange nicht verloren. Die letzte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA spiegelt das nationale Bild: die Union knapp vor der der AfD, stabile SPD und geschwächte Grüne, Absturz der Liberalen und Linken. Bei der Sitzverteilung zeichnet sich ein Patt der beiden Lager ab. Zwar haben die Antieuropäer ein beachtliches Reservoir unter Nichtwählern, aber auch die Europäer haben ihr Wählerpotenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft. In Deutschland stieg die Wahlbeteiligung 2019 zwar zum dritten Mal in Folge auf 61,4 Prozent, aber die fiktive Nichtwählerpartei blieb die stärkste Fraktion (mit einer rechnerischen Stärke von circa 37 Sitzen).

Jetzt kommt es vor allem auf die Politisierung der 18- bis 30-Jährigen an: Lassen sie sich von der Xenophobie anstecken, bleiben sie am Wahltag zu Hause, weil sie der Berufspolitik generell misstrauen, oder werden sie für ein freies und demokratisches Europa kämpfen?

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