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Krieg im Nahen OstenMenschlich werden

Gastkommentar von Selim Nassib

Hass und Rachelust lenken heute die Herzen im Nahen Osten. Dabei schien ein Frieden in der Vergangenheit wiederholt greifbar nah zu sein.

Chan Yunis: Kind weint um seinen Vater, der bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde Foto: Mohammed Salem/Reuters

W as ist das nur für eine Blindheit? Viele Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der Palästinenser haben die infamen Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober einfach nicht gesehen. Sollten sie sie doch gesehen haben, haben sie sich oft gesagt, dass es die Besetzung und die sinnlose Blockade des Gazastreifens war, die die Angreifer zu wilden Tieren werden ließ.

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Umgekehrt sehen viele Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der israelischen Seite nicht die Bilder der Kinder, deren Körper aus den Trümmern des bombardierten Flüchtingslagers Dschabalia gezogen wurden. Der makabre Zähler tickt Stunde um Stunde und heizt eine unaufhaltsame tödliche Spirale an, die zu einem regionalen Krieg zu eskalieren droht.

Sinnlos und dumm wäre der Versuch, die Gräueltaten gegeneinander aufzurechnen. Vielmehr gilt es jetzt, den geistigen Eisernen Vorhang zu durchbrechen, der sich über die Köpfe gelegt hat, einen Vorhang, der verhindert zu sehen, zu verstehen, mitzufühlen … Es gilt, wieder menschlich zu werden. Solange auf beiden Seiten Hass und Rache die Oberhand haben, erscheint das als aussichtsloses Unternehmen. Umso dringlicher braucht es ein Wort der Wahrheit, das beide Seiten gleichzeitig in den Blick nimmt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der linke österreichische Journalist Theodor Herzl, der als Korrespondent in Paris über die Dreyfus-Affäre berichtere, das Ausmaß des französischen Antisemitismus. Er kam zu dem Schluss, dass nur ein eigener Staat die Juden würde schützen können.

privat
Selim Nassib

wurde 1946 in Beirut geboren und lebt seit 1969 in Paris. Er war als Journalist für zahlreiche Zeitungen tätig, unter anderem als Nahost-Korrespondent für die französische Zeitung „Libération“. Er arbeitet als freier Schriftsteller und Drehbuchautor.

Während die israelische Armee all ihre Feuerkraft gegen die unglücklichen Be­woh­ne­r*in­nen Gazas einsetzt, bestraft sie die Hamas nicht nur für ihre Verbrechen, sondern auch dafür, dass sie das wesentliche Credo Israels untergraben hat – eines Landes, das den dort lebenden Juden und Jüdinnen Sicherheit bieten soll.

Kampf ums Image der Supermacht

Die Soldaten kämpfen und die Luftwaffe bombardiert, weil die Hamas aller Welt vor Augen geführt hat, dass Israel verletzlich, unvorbereitet, von der Arroganz geblendet und unfähig ist, die eigenen Bür­ge­r*in­nen zu schützen. Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das Leid, das sie anderen zufügt.

Rund 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen sind Flüchtlinge. Als die Hamas die Grenzanlagen durchbrach, glaubten die Be­woh­ne­r*in­nen Gazas einen Moment lang, sie seien in das Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, wenn auch nur für ein paar Stunden. Die gesamte seit 1948 entwickelte Mythologie, die palästinensische Flüchtlinge als Rückkehrer bezeichnet, fand hier einen Moment symbolischer Verwirklichung. Gleichzeitig sind Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Westjordanland der mörderischen Gewalt von Sied­le­r*in­nen ausgeliefert – gerade jetzt auch aus Rache für den 7. Oktober.

So aussichtslos die Lage derzeit ist, so darf nicht vergessen werden, dass Frieden in der Vergangenheit wiederholt möglich erschien. Schon David Ben-Gurion, Israels erster Regierungschef, hatte sich 1967 nach dem Sechstagekrieg für die Rückgabe der besetzten Gebiete ausgesprochen als Gegenleistung für die Anerkennung Israels, die die arabischen Staaten damals jedoch ablehnten.

25 Jahre später, im Jahr 1993, unterzeichnete der damalige Premierminister Jitzhak Rabin mit dem früheren PLO-Chef Jassir Arafat die Osloer Prinzipienerklärung, die zu einem Ende der Besatzung und schließlich zu zwei Staaten führen sollte. Rabin wie Ben-Gurion sahen realistisch voraus, dass die fortgesetzte Kontrolle von Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen die jüdische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer früher oder später zur Minderheit werden lassen würde.

Die Kriegstreiber geben den Ton an

Rabins Kritiker*innen, allen voran Israels heutiger Regierungschef Benjamin Netanjahu, verfolgen das genaue Gegenteil, nämlich die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Das heißt: den Frieden zu verhindern. Das ist ein Ziel, das die Hamas weitgehend teilt. Die Hamas kam 2006 in Gaza vor allem deshalb an die Macht, weil die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen das Gefühl hatten, dass Arafat seinen Teil des Abkommens weitgehend erfüllt hatte, ohne dafür jedoch die entsprechende Gegenleistung zu erhalten.

Was die bis ins Mark korrupte Palästinensische Autonomiebehörde betrifft, so wurde sie immer eher als eine Art Hilfsorganisation der israelischen Unterdrückung im Westjordanland betrachtet. Die einzige Alternative zur Fatah, der Partei Arafats, deren Chef inzwischen der palästinensische Präsident Mahmud Abbas war, blieb bei den Wahlen im Jahr 2006 nur die Hamas. Und das vermutlich zur großen Zufriedenheit von Netanjahu.

Israel stellte drei Bedingungen, die erfüllt werden mussten, um eine Zusammenarbeit mit der demokratisch gewählten palästinensischen Führung herzustellen: Die Anerkennung Israels, die Anerkennung der mit der PLO unterzeichneten Friedensabkommen und die Abkehr von jeglicher Gewalt. Die Hamas ging darauf nicht ein. Beide Konfliktseiten boykottierten sich gegenseitig.

Bis zum 6. Oktober war sich Netanjahu mit Unterstützung der USA eines für Israel günstigen Weges sicher, zumal sogar Saudi-Arabien im Begriff war, einen Separatfrieden mit ihm zu unterzeichnen und die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen zu ignorieren. Der brutale Angriff der islamistischen Hamas auf Hunderte israelische Zi­vi­lis­t*in­nen veränderte die nahöstliche Realität. Letztendlich entzweit der Krieg nicht wirklich die beiden Völker, sondern diejenigen, die Frieden suchen und diejenigen, die Krieg wollen.

Zum Unglück geben die Letzteren den Ton an. Sollte dieser Konflikt nicht den ganzen Nahen Osten in Brand setzen, wird vielleicht der Tag kommen, an dem sowohl die einen wie die anderen endlich diese einfache Wahrheit akzeptieren werden: In dieser unglücklichen Weltregion ist dieser Krieg keine Lösung – und wird es auch niemals sein.

Aus dem Französischen von Barbara Oertel

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6 Kommentare

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  • Die Attacke der Hamas war ein massiver Terroranschlag gegenüber Israel, massakriert wurden alle Menschen, unabhängig von Religion. Dazu sollte es bei den installierten Grenzbefestigungen niemals kommen, also muss Israel schon zeigen, dass das ein Fauxpas war und nicht mehr. Israel muss diese Terrorgruppe, wenn es denn möglich ist, unschädlich machen, und ich denke dass dies möglich ist, und langfristig Schritte unternehmen, dass es nicht noch einmal dazu kommt. Rein militärisch geht die IDF sehr zurückhaltend vor, man muss nur mal vergleichbare Aktionen gegen Großstädte anschauen. Es bleibt Israel auch nichts anderes übrig, denn es will sich ja sonst niemand um die Hamas kümmern. Die Versorgung und Organisation der geflüchteten Gazaner fand ich trotzdem schwach, da muss von Israel mehr kommen.

  • "Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das Leid, das sie anderen zufügt".

    Das ist in meinen Augen schlichtweg falsch. Die israelische Armee hat jetzt sogar regelmäßigen Pausen für eine humanitäre Versorgung der Menschen in Gaza zugestimmt. Ich finde, es ist klar zu erkennen, daß Israel viel dafür tut, um die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen.

  • Danke an den Autor für diesen sehr bewegenden und doch ermutigenden Kommentar für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina. Nur eine überlebensfähige Zweistaatenlösung auf dem Boden des Völkerrechts ist die fie Lösung. Dazu wären aber folgende Schtitte notwendig: :



    1. Waffenstillstand



    2. Stationierung von UN- Truppen in Gaza



    3. Evakuierung der Hamas aus Gaza nach Libanon/ Katar/ Saudi Arabien



    4. Friedensverhandlungen für 2- Staatenlösung mit neuer israel. Regierung ohne Rechtsextremisten und ohne Netanjahu



    5. Räumung der illegalen Siedlungen im Westjordanland 4. Stationierung von UN oder NATO-Truppen im Westjordanland und Gaza zur Überwachung des Friedensabkommen

    • @Rinaldo:

      1. Nur mit Internationalem Tribunal für die beteiligten Hamas-Terroristen am Angriff auf Israel bzw.



      2. Müssten das die Blauhelme übernehmen die Hamas zu pazifizieren, was einen Kampfeinsatz der UN bedeuten würde.



      3. Will auch kein Land die Hamas aufnehmen, denn das sind a) Terroristen und b) Palästinenser, sodass die Staaten Angst vor Staatsstreichen haben und es allgemeine Position der arabischen Staaten ist, dass Palästinenser in Palästina bleiben sollen um dort einen Staat zu bekommen.



      4. Israel immer noch eine Demokratie ist und so eine Einmischung nur akzeptieren würde, wenn die USA ihnen alle Militärhilfe streicht, wird vielleicht mit dem Dealmaker Trump was.



      5. Wird Israel über den Olmert-Plan nie mehr zurück gehen und selbst das sehe ich nicht, außerdem stellt sich die Frage wer auf palästinensischer Seite verhandeln soll, da hat doch niemand Legitimation.

  • "Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das Leid, das sie anderen zufügt."

    Das halte ich für schlicht und ergreifend grundfalsch. Damit wird weiter Öl ins Feuer gegossen.

    Die israelische Armee tut alles, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Die Büchse der Pandora hat die Hamas geöffnet. Jeder tote Palästinenser ist ein Opfer der Hamas und damit des IRAN.

    Wer Israel das Recht zur Verteidigung abspricht, der sägt am Existenzrecht Israels.

  • "Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das Leid, das sie anderen zufügt."



    Verzeihung, dieser Meinung bin ich nicht.



    Diese Armee kennt die Bilder und Berichte des 7. Oktober besser als die meisten Menschen außerhalb Israels. Vor diesem Hintergrund ist es eher verwunderlich, wie besonnen (mir fällt leider kein besseres Verb ein) die Armee vorgeht. Es kommt mir eher wie ein Wunder vor, dass es in Gaza KEINEN Rache- und Blutrausch der IDF zu sehen gibt.



    Nein, um die Wiederherstellung eines Supermacht-Nimbus geht es meiner Meinung nicht.

    Wie gesagt: Trotz des 7. Oktober! Ich selbst versuche so wenig wie möglich an Details mitzubekommen. Ich will gar nicht wissen, was diese "wilden Tiere" im Detail diesen wehrlosen Babys, Kindern, Frauen, Männern und Alten bei lebendigem und toten Leib antaten. Mir reichen die Textschnipsel, die ich Tag für Tag mitbekomme und meine Phantasie erledigt den Rest.



    Ich habe also diese Informationen alle gar nicht komplett und Israeli bin ich auch nicht. Trotzdem verstehe ich jede:n Israeli, der niemanden von der anderen Seite des Zaunes in der Nähe haben möchte.

    Und was vor dem 7. Oktober war, tritt angesichts seines Wahnsinns und der erschreckenden Begeisterung im Nahen Osten (oder anderswo) absolut in den Hintergrund. Ich weiß: Nicht jede:r Palästinenser:in ist Hamas.



    Aber all die Begeisterten sind auch nicht durch die Bank Islamist:innen.