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Streit um FlüchtlingspolitikZerruttung in den Niederlanden

Nach dem Rücktritt der Regierung bringen sich die Parteien für Neuwahlen im November in Stellung. Droht ein weiterer Rechtsruck?

Mark Rutte am Samstag vor dem Königspalast in Den Haag Foto: Robin Utrecht/dpa

Amsterdam taz | Nach dem Rücktritt der Regierung von Premier­minister Mark Rutte ­richten sich die Blicke in den Niederlanden nach vorne. Zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause herrscht in Den Haag fiebriger Betrieb. Während der Wahlrat Mitte November als möglichen Termin für Neuwahlen in Aussicht stellte, kündigte Rutte, den die meisten Be­ob­ach­te­r*in­nen für das Scheitern der Regierung verantwortlich machen, eine erneute Kandidatur an: „Wenn ich es jetzt beschließen müsste, würde ich Ja sagen.“

Mit einem Mal ist das Land also im Wahlkampfmodus. Damit rückt auch die ­BoerBurgerBeweging (BBB) in den Fokus, die Protestpartei, die im März mit einem Erdrutschsieg die Provinzwahlen gewann. Vor der unerwarteten Kabinettskrise vergangene Woche lag sie gemeinsam mit Ruttes rechtsliberaler ­Volkspartij voor ­Vrijheid en Democratie (VVD) an der Spitze der aktuellen Umfragen. Dass sie für eine neue Koalition unter Ruttes Leitung nicht zur Verfügung steht, hat die BBB bereits deutlich gemacht.

Caroline van der Plas, Gründerin und bislang einzige Abgeordnete der BBB, sagte am Wochenende, der Fall der Regierung komme für ihre Partei zu einem günstigen Moment. Über den kommenden Wahlkampf mache man sich keine Sorgen. „Wir kommen gerade aus einem Wahlkampf und werden wieder die gleiche Geschichte erzählen.“ Der rasante Aufstieg der BBB basiert vor allem auf der weitverbreiteten Abneigung gegen die etablierte Politik in Den Haag. Die Partei, konservativ und zugleich mit sozialer Agenda, hält sich von der rechtsextremen Agitation anderer Po­pu­lis­t*in­nen fern, was sie für breite Wäh­le­r*in­nen­schich­ten attraktiv macht.

Sozialdemokraten und Grünlinke planen gemeinsame Liste

Eine unvorhergesehene Dynamik gab es am Wochenende auch im linken Teil des politischen Spektrums. Dort erhält die seit Längerem geplante Zusammenarbeit zwischen der sozialdemokratischen ­Partij van de Arbeid (PvdA) und ­GroenLinks durch die plötzliche Aussicht auf Parlamentswahlen frischen Wind. Schon im Frühjahr hatten beide im Vorfeld der Provinzwahlen zusammengearbeitet, im neu formierten Senat bilden sie eine gemeinsame Fraktion. Mittelfristig wird auch eine Fusion diskutiert.

Am Sonntag machten beide Parteien auf einer Pressekonferenz bekannt, dass sie im Herbst mit einer gemeinsamen Kan­di­da­t*in­nen­lis­te antreten und auch zusammen ein Wahlprogramm aufstellen wollen. Wer an der Spitze einer solchen Liste stehen wird, konnten sie noch nicht sagen. Zunächst bekommen nun die Mitglieder in der kommenden Woche die Möglichkeit, online über dieses Vorhaben abzustimmen. Die Mehrheit der jeweiligen Basis befürwortet eine Zusammenarbeit.

Attje Kuiken, die Chefin der PvdA, sprach die Hoffnung auf „ein linkes Kabinett“ und „einen linken Premier“ aus. Ihr ­GroenLinks-Pendant Jesse ­Klaver kündigte an, man wolle 2023 zu einem „Wendepunkt“ machen. Für einen solchen allerdings bräuchten beide ein neues Momentum. In langfristigen Umfragen liegen PvdA und GroenLinks nämlich zusammen bei kaum mehr als 15 Prozent der Stimmen.

Wilders bereit für eine Regierungsteilnahme

Auch im Rest der Opposition drängt man auf möglichst schnelle Neuwahlen. Geert ­Wilders, Chef der rechtspopulistischen Freiheitspartei (PVV) und beständiger Kritiker der Mitte-rechts-Regierung Ruttes, sagte, man habe „jeden Tag dafür gekämpft, dass das Kabinett aufhört“. Seine Partei, derzeit die stärkste Kraft in der Opposition, sei bereit für eine Regierungsteilnahme. Dass Wilders, einst der Paria im Parteienspektrum, Ruttes VVD als möglichen Koalitionspartner nicht ausschloss, zeigt, wie sehr sich das politische Klima der Niederlande in den vergangenen Jahren nach rechts verlagert hat.

„Die PVV ist die geeignete Partei, um dafür zu sorgen, dass eine Mehrheit entsteht, um den Asylzustrom stark einzuschränken“, so Wilders weiter. Wenn es Rutte damit ernst sei, müsse er auch „Butter bei die Fische tun und mit Parteien wie meiner zusammenarbeiten“. Genau danach freilich sieht es nach den hektischen Ereignissen der Vorwoche aus: Dass Rutte auf Drängen seiner Partei seine Ko­ali­tions­part­ne­r*in­nen unter Druck setzte, den Familiennachzug zu beschränken, erklärt sich aus ebenjenem Diskurs, der die Niederlande seit einem Jahr im Griff hat und sich auf ein einziges Ziel reduzieren lässt: weniger Asylbewerber*innen.

Breite Mehrheit befürwortet Asylstopp

Die nächtelangen Verhandlungen, die dem Fall der Koalition vorausgingen, könnten dabei ein Vorgeschmack sein auf den Wahlkampf, der den Niederlanden nach einer kurzen Sommerpause bevorsteht. Dass das Thema Asyl darin eine bedeutende Rolle spielen wird, ist offensichtlich. Dass die VVD sich dazu bereits in Stellung gebracht hat, ebenfalls. Die Einschätzung, die Niederlande seien „voll“ und bräuchten einen „Asylstopp“, also eine Art ­vorübergehende Sperre für neu ankommende Geflüchtete, trifft in der Bevölkerung auf breite Zustimmung und findet nicht zuletzt in der VVD Gehör.

Zunächst aber wird das Parlament noch einmal über den Rücktritt der Koalition diskutieren. Am Montagmorgen kommen die Abgeordneten dazu aus der eigentlich am Freitag begonnenen Sommerpause zurück nach Den Haag. Angesichts zahlreicher Themen, die in der kurzen Regierungszeit des Kabinetts Rutte IV sehr kontrovers diskutiert wurden, dürfte es dabei zu intensiven Auseinandersetzungen kommen.

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6 Kommentare

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  • >Die Einschätzung, die Niederlande seien „voll“ und bräuchten einen „Asylstopp“, also eine Art ­vorübergehende Sperre für neu ankommende Geflüchtete, trifft in der Bevölkerung auf breite Zustimmung und findet nicht zuletzt in der VVD Gehör.

    Das ist eine Forderung aus der VVD an Rutte gewesen, dem war das doch egal.

    >Ihr ­GroenLinks-Pendant Jesse ­Klaver kündigte an, man wolle 2023 zu einem „Wendepunkt“ machen. Für einen solchen allerdings bräuchten beide ein neues Momentum. In langfristigen Umfragen liegen PvdA und GroenLinks nämlich zusammen bei kaum mehr als 15 Prozent der Stimmen.

    Nach aktuellen Umfragen, hätten BBB und VVD bereits eine Mehrheit zusammen, die ganzen weiter rechts stehenden Parteien, PVV, JA21 und FvD gar nicht berücksichtigt und die CDA als christlich-konservative gibt es auch noch. No way das die nächsten Wahlen dieser Wendepunkt sind.

    www.politico.eu/eu...polls/netherlands/

    • @Sven Günther:

      Sie haben im Artikel überlesen, dass BBB eine Koalition mit der VVD ausschließt. Ich habe mir das von Ihnen verlinkte Umfrageergebnis angesehen und bin irritiert. Die addierten Prozentzahlen der Parteien ergeben einen Wert weit über 100%! Da stimmt doch was nicht.

      • @Plewka Jürgen:

        Die BBB steh nicht für eine Koalition unter Rutte zur Verfügung.

        >Dass sie für eine neue Koalition unter Ruttes Leitung nicht zur Verfügung steht, hat die BBB bereits deutlich gemacht.

        Das ist an seine Person gekoppelt, nicht an die VVD. Wenn Rutte es nicht im ersten Versuch nach Neuwahlen schafft, eine Regierung zu bilden, ist er erledigt.

        Der Wert liegt über 100%, weil hier Mehrfachnennungen möglich sind. Hier wird gefragt, wie wahrscheinlich es ist, Partei X zu wählen.

    • @Sven Günther:

      Dieses Momentum für die Parteien des linken Spektrums wird nicht kommen, auch in den Niederlanden nicht. Überall in Europa sind Nationalisten und Faschisten auf dem Vormarsch, die Niederlande folgen da nur den europäischen Trend. Demnächst werden die Linken auch in Spanien von der Regierungsverantwortung verdrängt.



      Mark Rutte muss sogar aufpassen, dass seine VVD sich nach der Wahl nicht als Juniorpartner der Rechtspopulisten wiederfindet. Zählt man die Umfragewerte der im niederländischen Parlament vertretenen Rechtsparteien zusammen, ergibt sich ohnehin ein deprimierendes Bild.



      Leider kann ich nicht allzu optimistisch in die Zukunft der EU schauen. Vielleicht erleben wir in Europa momentan eine neue Welle der gesellschaftspolitischen Faschisierung, wie es in den zwanziger und dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts schon einmal der Fall war.

      • @Abdurchdiemitte:

        Die Niederlande würden dem Trend nicht nur folgen, sondern ihn anführen, wenn die Populistenparteien nicht von eitlen Trotteln geführt würden, die einander nicht ausstehen können. Zählte man alle Stimmen von BBB, PVV, FvD, Denk und JA21 zusammen, reichte das locker für eine absolute Mehrheit.



        Und dass Lügenbold Rutte auf diesen Zug aufspringen will, überrascht auch nicht weiter. Fähnchen in den Wind und ein sicherer Machtinstinkt plus im Zweifel auch mal die selbst erstellte Zielsetzung, Nederland bräuchte Millionen Einwohner mehr, um zu überleben, ins Klo spülen, dann wird das schon mit Rutte V.

  • Aus schlecht wird schlechter.



    Aus liberaler Sicht ist dies eine besorgniserregende Entwicklung.



    Die deutsche Linke, die gerne die Ampel permanent kritisiert, obwohl das eigentlich schon Alle Anderen machen, sollte mal einen kleinen Rundumblick in Europa wagen.



    Egal in welcher Himmelsrichtung, die Regierungen rücken nach rechts und agieren auch so.



    Es wäre an der Zeit, eine Neubewertung der Ampel vorzunehmen und sich ( nicht vorhandene ) Alternativen vorzustellen.



    Wer natürlich eine Koalition aus CDU und AfD interessiert ist, sollte der Ampel weiter schlecht reden.