Skandal beim Eurovision Song Contest: ŠČ! ŠČ! ŠČ!
Der kroatische Beitrag „Mama ŠČ“ rettet dem ESC politisch den Arsch. Derweil haben die Organisatoren Selenski verboten, ein Grußwort zu halten.
Die Organisatoren des ESC verbieten dem ukrainischen Präsidenten Selenski, ein Grußwort zu halten. Dieses Vorgehen sollte jedem ESC-Fan Grund für lauten Protest sein. Wäre der ESC unpolitisch, warum steckt er dann seine Moderatorinnen in blau-gelbe Kostüme und zeigt Fotos von Gebäuden aus der Ukraine? Diese Haltung ist alberner, als es der Auftritt der bei dem Wettbewerb hoch favorisierten kroatischen Camp-Band Let 3 je sein könnte.
Die jedoch retten dem ESC politisch den Arsch. Denn Let 3 schreibt dieses Jahr Geschichte auf dem ESC. Zum ersten Mal überhaupt werden diakritische Zeichen zum Zeichen gesamteuropäischer Solidarität.
Ganz Europa singt seit Wochen „ŠČ!“, beziehungsweise „Schtsche!“ (das e dabei kurz in Richtung ö gehend). Und zwar ohne dass irgendjemand wüsste, was diese Akkumulation von Buchstaben mit Tüddeln auf engstem Raum bedeuten soll – einschließlich der Erfinder.
Der Slogan stammt aus „Mama ŠČ“, dem ESC-Beitrag von Let 3, mit dem sie am Samstag im Finale stehen. „ŠČ!“ klingt lustig, ironisch, dadaistisch, surrealistisch. Alles andere? Unklar. Auch für Kroatischsprechende wie mich.
Empfohlener externer Inhalt
Ich etwa denke bei „ŠČ!“ an „Scht!“, also an „Hör auf!“, „Sei leise!“, „Basta!“, „Es reicht!“, an eine Variation des Anti-Kriegs-Slogans „No more war“. Ich denke aber auch an unverständliches Gebrabbel und interpretiere „ŠČ!“ als slawische Aktualisierung von Charlie Chaplins großer Diktatoren-Parodie.
Dass diese semantisch völlig offene Form „ŠČ!“ einen derartigen Erfolg hat, sollte Kulturpessimisten ein Zeichen sein, dass ihre Sorge unbegründet ist. Völlig egal, ob „Mama ŠČ“ den ESC gewinnt – er ist jetzt schon Mehrfachsieger: Der Erfolg von „ŠČ!“ ist der Sieg des Publikums über die Experten, der Kunst über das Management, der uneindeutigen Eindeutigkeit über die vermeintliche Neutralität.
Keine politischen Aussagen geduldet
„Mama ŠČ“ rettet dem ESC 2023 politisch den Arsch. Nicht nur, weil er – wie auch die Beiträge der Schweiz und Tschechiens – den Krieg textlich anspricht, obwohl der ESC keine politischen Aussagen duldet. Auch, weil „Mama ŠČ“ über schrillste Ästhetik und universale Sprache (ja, „ŠČ!“ sollten Sie ab sofort so selbstverständlich benutzen wie „Ok Bruder“) die Krieger in ihrer Lächerlichkeit inszeniert und damit das Publikum zum Jubeln bringt.
Mit ihren militärischen Fantasie-Uniformen, dicken Schnauzbärten, auf Atomraketen reitend, sich bis auf die Unterhose ausziehend und Rosen zwischen den nackten Ärschen klemmend, ist die Botschaft von „Mama ŠČ“ eindeutiger als der Refrain.
Den restlichen Text hingegen muss man nicht verstehen, um die Parodie zu verstehen. „Psychopath“ und „Traktor“ versteht jeder. „Mama hat einen Traktor gekauft“, „Mama hat einen Trottel geliebt“, „Mama, ich gehe in den Krieg“ heißen die wenigen anderen Sätze, die die gewollte Überinszenierung von Absurdität nur noch weiter verstärken.
Dass ausgerechnet die Kroaten diesen Beitrag als den ihren ins Rennen geschickt haben, spricht für diese Gesellschaft, die immer noch mit den Folgen des eigenen Krieges in den 1990er Jahren zu tun hat.
Die Band Let 3 ist in Kroatien seit Jahrzehnten so etwas, wie Laibach in Slowenien mal war: ein Bürgerschreck, ein Angriff auf die heimelige Ordnung der Geschlechter, der Mächte, des Geschmacks.
Eigentlich ein Skandal
Ins Deutsche übertragen wäre Let 3 eine Mischung aus der antideutschen Punkband Egotronic („Raven gegen Deutschland“), der NDW-Band Trio (Da, Da, Da) und der kanadisch-deutschen Queer-Punk-Ikone Peaches („Fuck the pain away“).
Die kroatischen Postpunkrocker-Oldies zeigen nun buchstäblich ihre Eier, um den Kriegern die Hosen runterzuziehen. Anders als die Ausrichter des ESC. Dass der diesjährige Austragungsort Liverpool nur ein Ausweichquartier ist, gerät in der bisherigen Inszenierung des Wettbewerbs stark in den Hintergrund.
Eigentlich hätte die Show in der Ukraine stattfinden sollen. Deren Repräsentanten, die Band Kalush Orchestra, hatten den Wettbewerb 2022 gewonnen. Die Ukraine hatte sich freudig bereit erklärt, den ESC auszurichten, doch die Chefs des ESC, die European Broadcasting Union, entschieden sich dagegen. Eigentlich ein Skandal.
Was wäre das für eine Feier des Lebens und eine Demonstration europäischer Solidarität gewesen, wenn an diesem Samstagabend alle mal nicht auf die Ukraine in Trümmern oder im Schützengraben geguckt hätten?
Stattdessen gibt es nur das ESC-Motto „United by Music“. Wenigstens im Namen hätte man an die Besonderheit der Situation erinnern und sich beispielsweise „ESC in Exile“ nennen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen