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Ukraine-Krieg in deutscher DebatteAufweichen der Begriffe

Nicht jeder imperialistische oder koloniale Krieg ist ein Vernichtungskrieg. In der deutschen Debatte zur Ukraine werden Worte gefährlich verwischt.

Eine Frau läuft an zerstörten Gebäuden in der Ukraine vorbei, Kupiansk Foto: Vadim Ghirda/ap

Mehr als ein Jahr dauert nun der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seit einem Jahr reden wir von einer Zeitenwende in der Sicherheitspolitik. Der 24. Februar 2022 stellt sicherlich eine Zäsur dar. Auch wenn der Ost-West-Konflikt nicht erst 1945 begonnen hat und mit 1990 nicht vorbei war. Er ist älter, datiert vom Beginn des 18. Jahrhunderts.

Man könnte sagen: Das ganze 19. und 20. Jahrhundert lagen im Schatten des Konflikts zwischen „Bär“ und „Walfisch“. Sein Schwerpunkt wanderte bis 1961 nach Mitteleuropa und nach 1990 wieder zurück in die eurasische Peripherie. Der völkerrechtswidrige und verbrecherische Angriffskrieg des Cäsaropapisten Wladimir Putin auf die Ukraine ist – nach Tschetschenien, Georgien und Syrien – nur ein weiteres Kapitel in dieser weltgeschichtlichen never ending story.

Ideologisch fügt sich der Ukraine­krieg in westliche Diskurspfade, die seit 1917, teils länger bestehen: hier die transatlantischen Liberalen (und Linksliberalen), die die liberale (aber eben auch kapitalistische) Demokratie verteidigen; dort eine postkoloniale und antikapitalistische Linke, die die Nato hasst und im Liberalismus des „Spätkapitalismus“ einen großen Verblendungszusammenhang, in Russland aber immer auch ein Sehnsuchtsland sieht.

So weit, so wenig überraschend. Was aber überrascht, ist die erschreckende Unklarheit über politische und historische Grundbegriffe, und zwar nicht allein bei den Wagenknechts und Schwarzers dieser Welt, sondern auch der anderen Seite.

Leichtfertige Verwendung von „Vernichtungskrieg“

Schon gleich nach dem russischen Überfall war zu hören, das russische Vorgehen in der Ukraine sei genozidal und ein „Vernichtungskrieg“, auch die Schriftstellerin Carolin Emcke spricht in ihrem jüngsten Podcast mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel lapidar vom „russischen Vernichtungskrieg in der Ukrai­ne“; doch diese Begriffe sollte man nicht leichtfertig verwenden.

Was ein Genozid ist, ist durch eine Konvention der Vereinten Nationen von 1948 juristisch, was ein Vernichtungskrieg, durch geschichtswissenschaftliche Observanz definiert. Ein Genozid ist die geplante und gezielte systematische physische Auslöschung eines bestimmten, durch seine Nationalität definierten Teils der Menschheit. Als Vernichtungskrieg gelten kann die großmaßstäbliche, durch Befehle gesteuerte physische Vernichtung insbesondere der Zivilbevölkerung eines Kriegsgegners in Massentötungen, auch unter Einschluss der zielgerichteten Zerstörung von deren Lebensgrundlagen. Beide sind abzugrenzen von bloßen Kriegsverbrechen.

Der Vernichtungskrieg ist eine bewusste Entgrenzung des durch Konventionen und Recht „gehegten“ Kriegs. Die „guerre à outrance“ oder Ludendorffs „totaler Krieg“ aus dem Ersten Weltkrieg waren Konzepte der Entgrenzung, aber nicht notwendig Vernichtungskriegskonzepte im Sinne der modernen Forschung. Kolonialkriege dagegen wurde häufig als Vernichtungskriege gegen die Zivilbevölkerung geführt, etwa der deutsche gegen die Herero und Nama ab 1904 oder die spanischen und italienischen Kriege in Nordafrika im 20. Jahrhundert.

Es lässt sich eine Begriffsverschiebung beobachten, die Jahrzehnte der minutiösen Aufarbeitung der NS-Verbrechen wegzuwischen droht

Dennoch ist nicht jeder imperialistische oder Kolonialkrieg ein Vernichtungskrieg. Insbesondere ist zu fragen, ob das Kriterium der „Vernichtung“ schon durch noch überwiegend militärische Kampfhandlungen erfüllt ist oder zwingend auch das „Policing“ der Zivilbevölkerung (etwa durch Bombardierungen, biologische/chemische Kampfführung, Massenexekutionen) zur Bedingung hat.

Unterschiedlich Begriffe des Kriegsgeschehens

Wenn nach einer Schlacht eine kriegsgefangene Kompanie nicht zur Gefangenenstelle geführt, sondern kurzerhand mit der Waffe niedergemacht wird, so ist das zweifellos ein brutales Kriegsverbrechen, aber noch nicht notwendigerweise eingebettet in einen Vernichtungskrieg. Gleiches gilt, wenn im Krieg „vereinzelt“ Zivilisten ermordet oder Luftangriffe auch auf zivile Ziele geflogen werden und dabei Nonkombattanten umkommen.

Ein Vernichtungskrieg ist es dagegen, wenn etwa befohlen wird: alle Akademiker, alle Offiziere ab einem bestimmten Rang, alle erwachsenen Einwohner mit so und so viel Vermögen oder Eigentum, alle Ingenieure oder Journalisten oder Feuerwehrleute werden aufgesucht und getötet. Oder Soldaten, die sich bereits ergeben haben, sollen systematisch „im Kampf erledigt“ werden.

Die Lebensgrundlagen eines Gebiets werden umfassend zerstört: Nicht nur werden ein Teil der Ernte oder Industrieerzeugnisse einbehalten, sondern der Boden wird unfruchtbar gemacht, Brunnen vergiftet und zugeschüttet et cetera.

Als Scipio Africanus der Jüngere 146 v. Chr. Karthago besiegte, machte er nicht nur die Stadt dem Erdboden gleich, sondern ließ auch das Erdreich mit Salz düngen: Von diesem Boden sollte sich niemand mehr ernähren können.

Wehrmacht in Polen 1939

Als die Wehrmacht 1939 Polen überfiel, folgte ihr die SS mit dem „Sonderfahndungsbuch Polen“, darin aufgelistet Angehörige bestimmter Personengruppen, die sodann summarisch getötet wurden. Etwa 60.000 Polinnen und Polen fielen dieser sogenannten Intelligenzaktion zum Opfer. Es folgten weitere ähnliche Handlungen; die polnische Elite sollte in großem Umfang ausgerottet werden.

Im September 1941 erhielten die Heeresgruppe Nord der deutschen Wehrmacht und die ihr unterstellte 18. Armee vom Oberkommando des Heers den Befehl, das von ihnen belagerte Leningrad weder zu stürmen noch seine Übergabe anzunehmen, die Stadt aber trotzdem abzuriegeln; die Bevölkerung von Leningrad sollte planmäßig verhungern.

Zum Vergleich: Bei der Belagerung von Paris durch preußisch-deutsche Truppen 1870/71 wurden, wie Otto von Bismarck in seinen Erinnerungen schreibt, „1.500 Achsen mit Lebensmitteln für die Pariser beladen, um ihnen schnell zu helfen, wenn sie sich ergeben würden“. Man wollte Paris zur Aufgabe zwingen und nahm dabei zivile Opfer und die Zerstörung ziviler Ziele in Kauf; die Bevölkerung verhungern lassen wollte man indes nicht.

Das absichtliche Verhungernlassen von etwa 2 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Gewahrsam der Wehrmacht um die Jahreshälfte 1941/42 war eindeutig Teil eines Vernichtungskriegs, desgleichen der sogenannte Hungerplan zur restlosen Ausbeutung der sowjetischen Landwirtschaft unter expliziter Inkaufnahme einer Hungerkatastrophe.

„Partisanenbekämpfung“

Ähnliches gilt für die deutsche „Partisanenbekämpfung“ in den besetzten osteuropäischen Gebieten, bei der es sich überwiegend eben weder um „reguläre“ Repressalien noch um punktuelle Kriegsverbrechen handelte, sondern nur einen Vorwand zu systematischen Morden darstellte, die man ohnehin plante.

Inwieweit das auch auf die „Partisanenbekämpfung“ im Rest Europas zutrifft, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Auch der Krieg Japans gegen China mit umfassenden Massentötungen und Massenvergewaltigungen von Zivilisten und Zivilistinnen war wohl ein Vernichtungskrieg.

Ob dagegen der Krieg Putins gegen die Ukraine schon das Kriterium eines Vernichtungskriegs erfüllt, ist fraglich. Dagegen sprechen etwa die relativ geringe offizielle Zahl der Vereinten Nationen aus dem März von bislang etwa 8.200 getöteten ukrainischen Zivilisten sowie die offenbar intakten Abkommen über Getreidelieferungen oder der regelmäßige Austausch von Kriegsgefangenen.

Zwar werden zivile Ziele beschossen, gibt es Massaker wie in Butcha, werden Kinder entführt zum Zweck ihrer „Russifizierung“, was allerdings den Tatbestand des Ethnozids, also der Zerstörung der ethnischen Identität eines Volks ohne seine physische Vernichtung, erfüllt.

Kriegsverbrechen und Kriegsvölkerrecht

Es wird vergewaltigt und gefoltert, und wahrscheinlich werden immer wieder Kombattanten nicht nach dem Kriegsvölkerrecht behandelt, sondern ermordet; und es wird die Ukraine in ihrer Staatlichkeit negiert. Aber als Ganzes oder in wesentlichen Teilen ermordet werden soll die ukrainische Bevölkerung offenbar nicht.

Ein Vergleich: Den Einwohnern von Russland eroberter ukrainischer Gebiete wird offenbar zwangsweise die russische Staatsbürgerschaft verliehen. Die deutschen Behörden im Zweiten Weltkrieg hätten den Teufel getan, unterworfene Polen, Belarussen, Ukrainer und Russen kollektiv mit der deutschen Reichsbürgerschaft zu begnaden; sie sollten bessere Sklaven sein.

Warum diese Differenzierungen? Weil sich eine Begriffsverschiebung beobachten lässt, die Jahrzehnte der minutiösen Aufarbeitung der NS-Verbrechen wegzuwischen droht. Die Argumentation gegen Russland hat von Anfang an den unangenehmen Beiklang eines „Haltet den Dieb!“: „Seht her, wir Deutsche sind nicht mehr allein, auch Putin führt einen Vernichtungskrieg und begeht einen Völkermord.“

Das System Putin

Diese Aufweichung der historischen, politischen und juristischen Begriffe, ob aus Unkenntnis oder mit Absicht propagiert, ist problematisch. Sie erweist der guten Sache einen schlechten Dienst. Das System Putin und seine auf Erpressung und Gewalt beruhende Außenpolitik sind quasifaschistisch und neoimperialistisch, sein Krieg ein Eroberungskrieg im Namen des Eurasianismus.

Wenn aber versucht wird, Putin gegen Hitler und die russische Invasion in der Ukraine gegen den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa (und Russland) gegenzurechnen und damit, um den Historikerstreit von 1986 zu bemühen, den außenpolitischen Urschaden Deutschlands im 20. Jahrhundert klandestin abzuwickeln, dann ist dies unseriös, geschichtsvergessen und gefährlich.

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20 Kommentare

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  • Dieser Krieg ist ein Vernichtungskrieg, in dem Sinne, das Putin es ein Dorn im Auge war, das die Ukraine sich der EU annähert und zu echten Rechtsstaatlichen Demokratie wird, direkt "quasi" vor der Haustür.

    Putins Propaganda Zielt also darauf ab, zu behaupten, das Die Ukraine ein Teil Russlands ist und keine eigene Identität hat, daher auch z.B. die Bücherverbrennungen in den Besetzten Gebieten.

    Debatte hin oder her, Putins Plan, Selenskyj in wenigen Tagen zu vertreiben und in Kiew eine Marionetten Regierung einzusetzen ist nicht aufgegangen.

    Statt dessen hat er sich vollends aus der Ukraine heraus gebombt, auch Ukrainer*innen, die noch vor dem 24.02.22 Putin treu die Stange gehalten haben, sind nun eher Pro Ukrainisch eingestellt.



    Dazu noch das erstarken der Nato, der verloren Energiekrieg gegen Deutschland und der EU, also rundum ein Scherbenhaufen.

    Selbst wenn jetzt Putin die Ukraine Militärisch besiegen würde, so hat Putin sich selbst und Russland ins aus gebombt.

    Auch wenn China zu Russland hält, so ist das kein Vergleich zur Situation vor dem Krieg, denn Putin hat Nordstream und den Westlichen Markt komplett schockiert, ein weiter so kann es auch nach dem Krieg nicht geben, Putins Plan sah einen langen Krieg einfach nicht vor.

    Also all die diejenigen, welche Putin so eine große Weitsicht bescheinigen, so ist zu entgegnen " Putin hat sich selbst demontiert", Weitsicht nicht erkennbar.

    Aus meiner Sicht, "gezockt und verloren"!

  • "Ein Genozid ist die geplante und gezielte systematische physische Auslöschung eines bestimmten, durch seine Nationalität definierten Teils der Menschheit."



    Müsste es nicht heißen: "... sowie durch seine ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit definierten Teils der Menschheit."



    Oder kann der Genozid an den Herero und Nama nicht als Völkermord bezeichnet werden? Und wie verhält es sich mit den aus Myanmar vertriebenen muslimischen Rohingya oder den indigenen Gemeinschaften im Amazonas-Gebiet, deren physische Existenz durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen (des Regenwaldes) ebenfalls bedroht ist?

  • Danke für diesen kompetenten Fachbeitrag!

  • Ich erkenne ideologische Fixierung vor allem auf einer Seite der Debatte (nicht bei allen, aber bei einigen Teilnehmenden, auch in der taz).



    Es reicht ja schon, differenzierende Positionen einzunehmen - etwa, die Faschismusanalyse im Hinblick auf die russische Gesellschaft zu hinterfragen oder die Vorgeschichte des Konflikts in den Blick zu nehmen und den Anteil des Westens daran herauszuarbeiten - , um wütende Reaktionen zu provozieren.



    Als wenn in Abrede gestellt wird, dass es sich um einen verbrecherischen Angriffskrieg handelt und Putin als Hauptverantwortlicher dafür zur Verantwortung gezogen werden muss.



    Warum ist das so? Die Fixierung auf die Deutung des Krieges als Vernichtungskrieg, als Genozid am ukrainischen Volk - es soll jedoch lediglich die staatliche Souveränität sowie der Freiheitswille der Ukraine vernichtet/gebrochen werden - wie auch die Markierung Russlands als faschistischer Staat dient hier in erster Linie der (linken) Selbstlegitimierung, um das Umschwenken auf den "Kriegskurs" der NATO (konkret: die Zustimmung zu Waffenlieferungen) zu rechtfertigen. Obwohl Linke i.d.R. keine Pazifisten sind oder waren, sondern Antimilitaristen (im kapitalismuskritischem Sinn), trifft der Vorwurf des Bellizismus bzw. des Umschwenkens ins transatlantische Lager - man könnte auch sagen: Verrat an den ursprünglichen Idealen, ein Vorwurf, dem sich aktuell besonders die Grünen ausgesetzt sehen - offenbar einen empfindlichen Nerv.



    Sie können halt von ihrer ideologischen Fixierung nicht lassen, diesmal nur unter anderen, gewendeten Vorzeichen (um nicht der argumentativen Schieflage bezichtigt zu werden, füge ich gleich hinzu, dass meine Kritik ebenso den Wagenknechten und klassischen Antiimps gilt, dort mit anderen Vorzeichen).



    Um das so zu sehen, muss man wohl den Standpunkt von "aussen" einnehmen.

  • Dieser Artikel ist ein wichtiger Beitrag zu einer Debatte, die sich allzu oft in einem rhetorischen Überbietungswettbewerb erschöpft - schon allein deshalb mein Dank an den Autor; ich frage mich aber, ob es nicht selbst wieder in die gleiche Falle tappt, wenn er am Ende Russland als "quasifaschistisch" beschreibt; das ist nicht nur ein akademisches Problem (vor einigen Monaten hat Ulrich Herbert der taz ein kluges Interview dazu gegeben), sondern hat selbe Funktionen - den anderen als absolut böse zu markieren - mit allen politischen Folgen, die es hat, wenn man den Ukraine-Krieg eben nicht mehr als analysier- und lösbaren politischen Konflikt versteht, sondern als Ringen von Gut und Böse. Das allerdings ist dann ein Abrutschen in eine säkularisierte Apokalyptik.

    • @O.F.:

      'Absolut böse" ist der Krieg an sich, niemals die Menschen, die ihn führen, aus welchen Motiven auch immer ... hier haben die Pazifisten einmal recht. Herrscht erst einmal der Krieg, ist das Kind längst in den Brunnen gefallen.



      Oder können Sie auch nur einen "gerechten" Krieg anführen?



      Die Dämonisierung des jeweiligen Kriegsgegners soll nur darüber hinweg täuschen, dass im Krieg alle positiven Werte - ich will es so drastisch formulieren - in den Dreck getreten werden.



      Und weil man ja auf der Seite des "Guten" steht, ist es nur noch ein kleiner Schritt, eigene Kriegsverbrechen bzw. die des Verbündeten zu legitimieren (s. die Hinrichtung von 25 russischen Kriegsgefangenen). Oder man rechnet die Zahl der Todesopfer gegeneinander auf.



      Weil die eigentlichen Verantwortlichen nicht zu fassen sind - in diesem Fall Putin, trotz internationalen Haftbefehls -, wird der Soldat als unmittelbarer, an der Front einem Auge in Auge* gegenüberstehender Gegner zu russischen "Orks" entmenschlicht, um möglicherweise die Skrupel/Zweifel bezüglich der eigenen Kriegsführung zu betäuben. Das geschieht auch durch Heroisierung der eigenen Taten im Krieg ("unsere Helden").



      Wer das kritisch sieht oder ablehnt, wird gleich mit in eine Reihe mit dem Gegner gestellt ... auch das gehört zur Dynamik des Krieges.



      *Für die moderne Kriegsführung gilt das allerdings nicht mehr ... die Brutalisierung kommt ja gerade dadurch zum Ausdruck, dass man seinen Gegner nicht mehr sieht und nicht mehr die Folgen seines Tuns erkennen kann, wenn sich der Bombenschacht öffnet.

  • Wichtig und richtig.

  • Man kann Vernichtungskrieg historisch definieren wie der Artikel es tut, wobei die Frage ist ob es eine physische Vernichtung braucht oder ob schon der Plan die Identität zu vernichten reicht, man kann ihn aber auch funktional definieren Vernichtungskrieg als Kriege deren ziel der Zerstörung eines Volkes, Staates, einer Religion oder ist. Geht man mit der funktionalen Definition kann man das Phänomen Vernichtungskrieg tiefgreifender analysieren da man dann dann ein Phänomen in all seinen Facetten analysiert.

    • @Machiavelli:

      Soviel ich weiß, hat Putin noch im Herbst vorletzten Jahres - als sich die militärische Eskalation des Konflikts schon abzeichnete - noch die historische und kulturelle Verbundenheit der drei ostslawischen Völker (Russen, Belarusen, Ukrainer) betont, mit Verweis auf die Kiewer Rus, auf die sich ja ebenso die national(staatlich)e ukrainische Identität beruft.



      Dieses "Liebeswerben" wurde von den Ukrainern brüsk zurückgewiesen ... Putin hat einfach nicht verstanden, dass nationale Zugehörigkeitsentscheidungen nicht ausschließlich unter historischen und kulturellen Aspekten erfolgen, sondern auch dem Willen der Ukrainer entsprechen, sich an attraktiveren politischen Gesellschaftsmodellen wie dem westlichen zu orientieren. Wer empfindet Putins Autokratie schon als attraktiv? Nicht einmal die Russen.



      Auf die zurückgewiesene "Liebeserklärung" erfolgte dann ab dem 22. Februar 2022 die Vernichtungsandrohung mit entsprechender Rhetorik. Das ist in vielen geplatzten Beziehungen so, nichts ungewöhnliches also.



      Versuch einer "psychologischen" Erklärung des Konflikts.

  • Äußerst wichtiger Beitrag!

  • Es mag sich bei dem Krieg in der Ukraine um keinen Vernichtungskrieg handeln, aber das dort ein Genozid, also Völkermord geschieht hat der Yale-Historiker Timothy Snyder im Oktober letzten Jahres bei der Ellie Wiesel Memorial Lecture in Boston, m.E. überzeugend, herausgearbeitet.

    Wen es interessiert, der Vortrag ist auf YouTube:



    youtu.be/d_2y2LgTvoI

    • @magor:

      Snyder ist in diesen Fragen (und ganz besondern in seinen populistischen Schlagwort-Begriffen) aber nicht ernstzunehmen, sondern konstruiert und instrumentalisiert ganz bewusst überzogene historische Parallelen und Begriffsfelder, um seine nationalpatriotische Osteuropabegeisterung zu popularisieren. Er "hat sich mehr und mehr in einen Aktivisten verwandelt, der sich massiv für die nationalen Interessen vor allem von Polen und der Ukraine einsetzt und dort wie ein Heilsbringer gesehen wird." (Ulrich Herbert)



      taz.de/Historiker-...ine-Krieg/!5861372

      • @Günter Picart:

        In dem Vortrag wird die allgemein akzeptierte Definition eines Genozids Punkt für Punkt durchgegangen und für jedes einzelne Kriterium gezeigt und belegt, dass es erfüllt ist. Das sind Alles nachprüfbare Fakten. Und wohlgemerkt reicht explizit schon ein einziges erfülltes Kriterium für das Zutreffen der Definition. Es spielt also keine Rolle ob man Snyder mag oder für glaubwürdig hält.

        Was in der Ukraine geschieht erfüllt die Definition eines Völkermordes. Daran gibts nichts zu rütteln. Das ist leider nun mal so.

        Es ist dabei aber auch wichtig sich vor Augen zu halten, dass Genozide nach genau dieser Definition in der Menschheitsgeschichte eben leider keine Seltenheit darstellen. Es passiert praktisch immer einer, irgendwo auf der Welt. Es ist halt einfacher das auszublenden und wegzuschauen.

        Wenn wir das wenigstens bei der Ukraine diesmal nicht tun, dann ist das vielleicht ein guter Anfang.

        • @magor:

          Das ist eine ziemlich abseitige Einzelmeinung, die außer von propagandistischen Quellen und Leuten, die unkritisch den Narrativ der ukrainischen Offiziellen reproduzieren, soweit ich weiß im internationelan Recht nirgendwo ernsthaft vertreten wird.



          Mit solchen Dingen bitte vorsichtig sein, es ist ja nichts damit gewonnen, die furchtbaren russischen Verbrechen durch immer schrillere Etiketten hochzulabeln, sie sind so schon schlimm genug.



          Einzelne genozidale Züge (wie die Kinderverschleppung) machen noch kein Genozid, ein Ethnozid ist auch kein Genozid und sowieso ein unscharfer und auf Verwechslung hin geprägter Begriff, der nur Munition für die Propagandaschlacht liefern soll. Völkermord läuft zurzeit in China, da können Sie protestieren.

          • @Günter Picart:

            UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, nachzulesen im Original hier (ab S. 290):

            treaties.un.org/do...olume%2078/v78.pdf

            Da heißt es:

            Article II



            In the present Convention, genocide means any of the following acts



            committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical,



            racial or religious group, as such:



            (a) Killing members of the group;



            (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group;



            (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to



            bring about its physical destruction in whole or in part;



            (d) Imposing measures intended to prevent births within the group;



            (e) Forcibly transferring children of the group to another group.

            Das ist doch Alles gegeben, oder?

            Der einzige Knackpunkt ist das "... with intent to destroy..." aber da gibts Reden von Putin, die sich nur so lesen lassen, dass das tatsächlich die Absicht ist. *schulterzuck*

            Text unverändert seit 1951, übrigens.

            Wie gesagt, Völkermorde sind leider nicht so selten wie wir das Alle gerne hätten.

            > Völkermord läuft zurzeit in China, da können Sie protestieren.

            Eh schon. Sind Sie auch dabei? ;-)

  • M.E. sind an dieser Begriffverwischung Politiker und Journalisten schuld, und dies betrifft nicht nur den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Häufig werden Begriffe wie z.B. EU, Europa oder Euroraum undifferenziert verwendet. Auch Zuweisungen wie "Nazi", Terrorist" oder "Rassist" werden gerne sehr niederschwellig eingesetzt, was letztlich zu einer Verharmlosung dieser Begriffe führt.



    Etwas mehr Disziplin und Genauigkeit bei der Verwendung bestimmter Begriffe täte der öffentlichen Debatte jedenfalls gut.

  • Warum erwähnt der Autor mit keinem Wort die Vernichtungsrhetorik Putins, Lawrows und Medwedews vor allem zu Kriegsbeginn?



    Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Dass es (noch) kein Vernichtungskrieg ist liegt an den militärischen Defiziten des Angreifers.



    Dass es einer sein soll zeigen zum Beispiel die Kriegsverbrechen von Butscha und die demonstrative Honorierung der Verbrecher durch die russische Führung.

  • Mir ist wirklichnicht ganz klar: Was soll diese feinsinnige Unterscheidung, Putin führe keinen Vernichtungskrieg, er wolle ja gar nicht alle Ukrainer und Ukrainnerinnen umbringen, sondern nur einige von ihnen... Geht´s noch?! Um Hitlers monströse Singularität von massenmördersicher Völkervernichtung herauszustellen, bedarf es keiner Verniedlichung des grotesken, massenmörderischen Umtriebes von Putin. Putins Angriffskrieg ist Massenmord, Vernichtung von ziviler Bevölkerung, kriegsberbrecherisch!! Reicht das nicht, um dieses Verbrechen vollkommen, uneingeschränkt und mit aller Klarheit zu verurteilen?!

    • @Munio Eunano:

      Eigentlich werden Ihre Fragen im obigen Artikel kompetent beantwortet.



      Ein Krieg ist nicht automatisch ein Vernichtungskrieg.



      Kriegsverbrechen sind nicht automatisch mit einem Genozid gleichzusetzen.