Verteidigungsexpertin Claudia Major: „Raus aus der Kuschelecke“
Zum Krieg Russlands gegen die Ukraine bezieht Claudia Major klar Stellung. Ein Gespräch über die Chancen von Verhandlungen und deutsche Versäumnisse.
Es ist gar nicht so schwierig, mit Claudia Major termineinig zu werden, obwohl sie als eine der wichtigsten deutschen Verteidigungsexpertinnen auch international ständig unterwegs ist. Nahe der U-Bahn-Station Nollendorfplatz in Berlin treffen wir uns in einem Café; sie nimmt sich für alle ihre Erwägungen Zeit. Ihr Mobiltelefon zeigt immer wieder Pushmeldungen an. Am Ende sind es fast zwei Stunden, die wir uns miteinander austauschen, einen Termin hat sie zwischenzeitlich sausen lassen.
wochentaz: Frau Major, der Ukraine-Krieg …
Claudia Major: Ich unterbreche Ihre erste Frage ungern, aber das ist nicht das richtige Wort: Ukraine-Krieg. Es lässt den Angreifer außen vor: Es ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine.
Sie haben Recht. Sie sind mit dem Beginn dieses Krieges vor einem Jahr zu einer der gefragtesten Expertinnen in Sachen Sicherheitspolitik geworden. Wie kam es zu Ihrem Interesse an diesem Thema?
Fragen der Freiheit und Selbstbestimmung und wie und in welchem Rahmen sie gewährleistet werden kann, so würde ich mein Interesse begründen. Ich bin in der DDR aufgewachsen und kann mich, da war ich 13, noch gut an die Wende erinnern. An die damit verbundene Freiheit, die wir plötzlich empfunden haben. Und wie groß die Welt auf einmal geworden ist.
Claudia Major wurde 1976 in Ostberlin geboren. Sie hat ein deutsch-französisches Doppeldiplom in Politikwissenschaften und promovierte zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Major leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Seit 2010 ist sie Mitglied im Beirat „Zivile Krisenprävention und Friedensförderung“ der Bundesregierung. Claudia Major ist verheiratet und hat drei Kinder.
Wie erging es Ihnen dann im Westen?
Mich fasziniert immer noch alles. Ich will verstehen, lernen. Immer. Das treibt mich an.
Doch weshalb haben Sie sich ein Wissens- und Analysegebiet ausgesucht, das klassisch als männlich verstanden wird?
Die Frage, ob männlich oder weiblich, stellte sich mir nicht. Ich habe zwar auch den Eindruck, dass sich Kolleginnen die Anerkennung härter erarbeiten müssen, also besser, durchdachter, analytischer sein müssen als die Männer. Aber das hat mich immer eher angespornt, oder ich habe mich einfach daran gewöhnt.
Wie macht sich diese Art von Gender Gap noch bemerkbar?
Wir Frauen in unserem Metier – ich bin ja nicht die einzige – kriegen viele sexistische Beschimpfungen ab. Männer kriegen seltener hässliche Kommentare in den sozialen Medien darüber, wie sie aussehen, ob dick oder dünn oder zu groß oder zu klein, was sie anhaben. Und wahrscheinlich auch weniger Einladungen zum Kennenlernen und schlüpfrige Kommentare. Aber ich beschreibe es nur, als Opfer tauge ich nicht.
Und jenseits der Kommentarspalten, etwa unter französischen oder amerikanischen Sicherheitsexperten?
Männlichen Kollegen wird bei der Entwicklung ihrer Expertise ein Bonus gegeben, wahrscheinlich häufig unbewusst. Ein Mann wird schon etwas wissen, wenn er über Panzer spricht. Ihnen eilt, nicht nur in meinem Fachgebiet, eine Art Kompetenzvermutung voraus.
Ihnen doch auch inzwischen, oder?
Das können Sie wahrscheinlich besser einschätzen. Aber ich hoffe, dass ich sie mir erarbeitet habe.
Sie äußern in Talkshows oft sehr dezidierte Positionen, so im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine.
Ich bemühe mich immer, erst die Situation zu erklären, Optionen aufzuzeigen und die Folgen von diesen unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten, also zum Beispiel Waffenlieferungen oder nicht, zu analysieren. Und dann kann und sollte man seine Position auch klar benennen und sich nicht wegducken.
Sind Sie, aufgewachsen eben in der DDR, nach der Wende häufiger in Osteuropa gewesen?
Ja, in Mitteleuropa und im Kaukasus, auch in der Ukraine. Ich erinnere mich, nur eine Episode, als ich als Wahlbeobachterin in Georgien war – mit einem armenischen Kollegen, dem georgischen Fahrer und der georgischen Übersetzerin. Am Abend machten die unsere Verabredung für den nächsten Tag klar – auf Russisch. Ich erwiderte: Ja, da kann ich auch. Die drei drehten sich völlig überrascht um, und als ich ihnen erklärt hatte, woher ich Russisch kann …
Claudia Major:
… in der DDR die erste Fremdsprache …
… sagten sie: Du bist ja eine von uns. Das reichte für ein gemeinsames Grundverständnis.
Und im Hinblick auf die DDR, Ihr erstes Heimatland?
Christa Wolf, wenn ich mich recht erinnere, sagte mal, die DDR sei ein grauer Staat gewesen, aber wir haben in diesem Grau viele Farben gesehen. Wir konnten nicht nach Westdeutschland reisen, dafür aber reiste ich als Kind nach Rumänien, Ungarn, in die Tschechoslowakei.
Für die westdeutsche Sozialdemokratie galt allermeist: Mit Russland müssen wir ins gute Benehmen kommen oder es bleiben. Die restlichen Länder Osteuropas …
… wurden zu wenig als eigene Staaten wahrgenommen, sondern mehr als Gebiet zwischen Russland und Deutschland. Zu wenig wahrgenommen wurde auch, das gilt nicht allein für die sozialdemokratische Perspektive, die Verschiebung der inneren Verhältnisse in Russland, insbesondere seit der Machtübernahme durch Wladimir Putin 1999. Er hat das Land mehr und mehr in einen autokratischen Staat verwandelt und kritische Stimmen ausgeschaltet. Auch die aggressive Außenpolitik, sei es der Krieg in Georgien 2008 oder die Annexion der Krim, und die Einmischung in andere Staaten, wie die Intervention bei den US-Wahlen, der Tiergartenmord – das alles hat zu wenig Veränderung in der deutschen Russlandpolitik geführt. Russland wurde mehr so gesehen, wie viele es sehen wollten, aber weniger, wie es sich tatsächlich entwickelte.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Aber die SPD und ihr legendärer Ostpolitik-Kanzler Willy Brandt haben die sogenannte Entspannungspolitik in der Bundesrepublik doch erst durchgesetzt – inklusive eines anderen, um Aussöhnung bittenden Blicks auf Osteuropa. Warum?
Das Ziel der Aussöhnung ist ja auch ein guter Ansatz. Aber wenn wir von Wandel durch Handel reden, müssen wir beide Dimensionen beachten, nicht nur den Handel, auch den Wandel. Aus deutscher Perspektive hieß es, wenn man mit Russland nur mehr eng zusammenarbeitet, dann werden sie sich uns annähern, werden demokratisch, wirtschaftlich liberal und international verantwortungsbewusst. Und enge Kooperation verhindert Konflikte. Da war auch eine Prise Arroganz dabei, den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern gegenüber.
Hochmut – inwiefern?
In Deutschland wurden ihre Sorgen oft abgewiegelt: Ach, diese kleinen Länder mit ihren Befindlichkeiten und Ängsten vor Russland. Sie sind so von ihren traumatischen Erfahrungen mit Russland getrieben, wir können das besser einschätzen.
Mir scheint, diese Perspektiven, die die osteuropäischen Erfahrungen während der sowjetischen Zeit in sich tragen, werden in der deutschen Linken nicht gern gesehen. Offenbar lieben manche Linke die Freiheit nicht.
Das will ich nicht beurteilen, aber der Krieg findet, dies darf Deutschen gesagt werden, in jenen Gebieten statt, die der Historiker Timothy Snyder als „Bloodlands“ beschrieb, als Gebiet, auf dem die Wehrmacht wütete, die Stalinschen Behörden und Militärs. Natürlich müssen wir die russischen Sicherheitsbedürfnisse beachten. Aber wie wir durch den Krieg sehen, werden gerade die ukrainischen verletzt. Putin äußerte, sinngemäß, zur Ukraine: Du wirst dich fügen müssen, Schöne.
Claudia Major:
Dieser Satz des russischen Präsidenten arbeitet direkt mit einer Drohung, als sei die Ukraine eine Frau und der Mann, Russland, könne sich nicht zügeln. Wie empfinden Sie eine solche Bemerkung?
Würden Sie diese Frage auch einem Mann stellen?
Selbstverständlich, neulich Ihrem Kollegen Carlo Masala.
Ich möchte es mal so formulieren: Es zeigt die sexistische Gewaltdimension in diesem Krieg. Und impliziert auch eine Täter-Opfer-Umkehr. Auf Twitter schrieb jemand in etwa: Der Rock der Ukraine war halt zu kurz, selber schuld, dass sie das provoziert hat. Dieses vergangene Jahr war in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung, auch für mich als Wissenschaftlerin. Die Zeit des Krieges hat mich enorm mitgenommen. Ich bemühe mich um analytische Distanz, um erklären und kommentieren zu können. Mich trifft der Hass, den ich im Netz und in Zuschriften gegen mich erlebe, immer noch. Es gibt auch wahnsinnig viele nette Kommentare, klar. Aber dieser Trollmist, der ist schon gewaltig.
Aber in der Sache …
… ist mir jede Diskussion nicht nur recht, sondern auch willkommen. Ich wachse am Austausch, am Hinterfragen. Man sollte in jede Debatte gehen und sich fragen – vielleicht hat der andere ja doch recht und ich liege falsch? Aber wenn mich jemand dumme Nazihure oder Kriegstreiberin nennt, dann ist das keine Einladung zur Debatte.
Was haben Sie vor dem 24. Februar 2022 gedacht, zu welchem Resultat kam Ihre Analyse zu Putin und seinen Kriegsambitionen?
Dass ein Angriff wahrscheinlich ist, aber ich hätte einen kleineren militärischen Einsatz erwartet. Die Konstante Russlands ist, dass es versucht, mit militärischer Macht seine Interessen durchzusetzen. Tschetschenien, 2014 die Krim, davor Georgien, dann Syrien. Aber das waren alles räumlich und zeitlich begrenzte Einsätze. Ich hielt noch kurz vor dem 24. Februar einen umfassenden Krieg für unwahrscheinlich, wenn auch nicht ganz ausgeschlossen.
Warum?
Aus unserer Logik ist ein Krieg kein Mittel der Wahl, um Interessen durchzusetzen. Wir haben aus unserer Historie erfahren, wie viel Leid ein Krieg mit sich bringt.
Aber?
Ich habe unterschätzt, wie anders die russische Kosten-Nutzen-Kalkulation ist. Aus deren Sicht scheint sich Krieg zu lohnen.
Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt?
Es war ein Donnerstagmorgen, mich hat der Anruf einer Freundin geweckt, morgens um sechs Uhr. Ich war sofort beunruhigt, weil ich um diese Zeit wenig Anrufe bekomme. Sie hatte lange in Kijyw gelebt. Wir hatten über die letzten Tage viel telefoniert, sie hatte erzählt, dass Freunde die Stadt verlassen hatten, der Flughafen geschlossen war. Sie sagte, es hat begonnen. Sie bombardieren Kyjiw, es ist Krieg. Und wir haben beide geweint.
Kanzler Olaf Scholz rief am 27. Februar 2022 die „Zeitenwende“ aus. Was würde eine solche für Sie bedeuten?
Sie kennen dieses Bonmot: Deutschland delegiert Fragen der Sicherheit an die Amerikaner, bekommt Energie aus Russland und hat die Produktion nach China ausgelagert. Und wir merken nun, dass wir aus dieser geoökonomischen Kuschelecke rausmüssen. Zeitenwende heißt für mich anzuerkennen, dass sich unsere europäische Sicherheitsordnung fundamental und langfristig verändert hat und wir uns in allen Bereichen – politisch, wirtschaftlich, verteidigungspolitisch – neu aufstellen müssen.
Claudia Major:
Das wird, in wesentlichen Teilen der deutschen Gesellschaft, krass kritisiert: Deutschland – nie wieder ein militarisiertes Land.
Von einer Militarisierung sind wir doch weit entfernt: Das hieße ja, Staat und Gesellschaft auf die Bedürfnisse der Streitkräfte auszurichten. Das will doch niemand. Und keiner stellt die grundsätzlich friedensorientierte Position Deutschlands infrage. Wenn aber unser Nachbar meint, er kann mit den Mitteln des Militärs seine Interessen erreichen, dann müssen wir als Staat und Gesellschaft wehrhafter werden, um das schützen zu können, was wir uns aufgebaut haben – so steht es übrigens auch im Grundgesetz. Oder was wir als Ziele definiert haben, das Völkerrecht zu schützen zum Beispiel. Und dann müssen wir anerkennen: Nichthandeln hat auch Folgen, siehe Srebrenica, siehe Ruanda. Wir können nicht mehr so tun, als seien wir eine große Schweiz.
Kein übler Flecken, diese Schweiz.
Deutschland ist ein großes Land in der Mitte von Europa, international eng vernetzt, sehr darauf angewiesen, dass es vernetzt bleibt: über Personalströme, Geldströme, Warenströme. Aber wir haben nicht nur ökonomische Interessen. Wir haben auch eine Vorstellung von dem, was gut ist in der Welt – etwa in puncto Menschenrechte, internationales Recht, Völkerrecht. Dann können wir nicht sagen, was draußen passiert, ist uns egal.
Egal ist es vielen Linken in Deutschland auch nicht. Sie warnen vor Waffenlieferungen an die Ukraine. Denn diese setzten das Sterben fort und verhinderten den Frieden.
Dass es Linke sind, finde ich besonders irritierend, aber vielleicht habe ich als Kind nicht genug beim Marxismus-Leninismus aufgepasst. Doch ich dachte immer, ein Mensch, der sich als Linker versteht, kann doch keinen imperialistischen Krieg rechtfertigen. Würde man die Waffenlieferungen stoppen, würde man der Ukraine die Verteidigungsmittel nehmen und sie einer russischen Besatzung ausliefern. Das wäre aber kein Frieden – sondern eine Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung, Kultur, Identität. Also ein Friedhofsfrieden.
Es sind inzwischen Hunderttausende in Deutschland, die das „Manifest für Frieden“, angeführt von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, unterzeichnet haben. Es fordert einen Stopp von Waffenlieferungen und diplomatische Bemühungen.
Ich kann den Wunsch nach einer diplomatischen Lösung verstehen, das wünsche ich mir auch. Und es gibt ja Gespräche, Russland und die Ukraine vereinbaren regelmäßig Gefangenenaustausche, russische Regierungsvertreter sprechen auch mit der US-Regierung, mit Kanzler Scholz. Aber nicht über einen Waffenstillstand – weil Russland bislang daran kein Interesse hat, sondern weiter Gebiete erobert und hofft, seine Kriegsziele noch zu erreichen. Russland will ja offensichtlich die Ukraine als eigenständigen Staat abschaffen.
Klingt pessimistisch. Wann kommt dann der Frieden?
So brutal es klingt: Krieg führen ist letztlich Teil eines Verhandlungsprozesses. Vereinfacht endet ein Krieg, wenn eine Seite gewinnt, beide nicht mehr können oder sich politisch auf einer Seite etwas verändert und die Kriegsziele sich ändern. Kriegsparteien nehmen häufig erst dann Verhandlungen auf, wenn sie erkennen, dass sie vom Aufhören mehr profitieren als von der Fortsetzung der Kämpfe. Diesen Moment müssten wir dann von außen unterstützen. Aber da sind wir noch nicht. Ein Kapitulationsfrieden, von dem nur eine Seite profitiert, wie im Manifest vorgeschlagen, wird nicht stabil sein. Denn die Stabilität von Abkommen hängt zu großen Teilen davon ab, dass beide Seiten sie als gerecht wahrnehmen, innenpolitisch dafür Unterstützung erhalten und sie umgesetzt werden. Nur dann haben sie Aussicht, dauerhaft zu bestehen. Das Minsker Abkommen ist das beste Gegenbeispiel.
Was wünschen Sie sich politisch?
Dass unsere politische Kommunikation, auch seitens des Kanzlers, mal ein wenig grundsätzlicher und empathischer wird. Dass er sagt: Wir tun das für die Ukraine. Weil es um uns geht. Weil es das ist, was uns ausmacht: Unsere Freiheit, unsere Sicherheit, die wird dort errungen.
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