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Selenskis Besuch in GroßbritannienEs geht nicht nur um Waffen

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Worum in der Ukraine eigentlich gekämpft wird, wird im Streit um Waffenlieferungen inzwischen fast vergessen. Selenski hat in London daran erinnert.

Wolodymyr Selenskyj (r) am Mittwoch bei Rishi Sunak in der 10 Downing Street Foto: Dan Kitwood/reuters

D ie Ukraine will Kampfjets – dies bleibt nachrichtlich vom Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski in Großbritannien am Mittwoch hängen. Die Forderung nach den „Flügeln der Freiheit“ stand im Mittelpunkt seiner Rede vor den britischen Parlamentariern, ähnlich wie die nach Patriot-Luftabwehrraketen bei seinem Auftritt vor dem US-Kongress kurz vor Weihnachten. Patriots hat er danach bekommen. Folgen jetzt die Kampfjets, ohne die die vielen angekündigten Kampfpanzer aus dem Westen an der Front schutzlos bleiben?

Es ging bei diesem Besuch aber um viel mehr als neue Rüstungslieferungen. Es ging auch darum, wofür die Ukraine überhaupt kämpft. Das ist mehr als einfach nur der Sieg über Russland, den in Großbritannien kaum jemand ernsthaft als Kriegsziel hinterfragt. „Wir wissen, dass Russland verlieren wird; und wir wissen genau, dass der Sieg die Welt verändern wird“, rief Selenski und zeichnete die Konturen einer „neuen Welt“ nach dem Sieg: eine Welt, „die weiß, wie man schnell hilft, wie man sich effektiv wehrt, die in dunklen Stunden prinzipienfest bleibt, die ehrlich verhandelt, den Tätern keine Immunität gewährt, die Vetos überwinden kann; die keine Furcht kennt und die weiß, wie man siegt“.

Man kann das als hohle Rhetorik abtun, aber von Selenski formuliert klang es wie ein klares Zukunftsprojekt mit eindeutigen Wurzeln in der Geschichte: dem gemeinsamen Kampf gegen „das Böse“ im Zweiten Weltkrieg, der das Böse damals aber nicht aus der Welt schaffte.

In der deutschen Ukraine-Debatte ist vom politischen Fernziel des Kampfes gegen Putins Aggression kaum die Rede. Man führt eine sinnfreie Dauerdebatte um Waffenlieferungen, es kursiert das böse Wort vom „Überbietungswettbewerb“, der Begriff „moralisch“ dient als herablassendes Schimpfwort. In London hat Selenski an den eigentlichen Sinn des ukrainischen Abwehrkampfes erinnert: den Aufbau einer gerechteren Weltordnung. Er sollte auch anderswo Gehör finden.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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20 Kommentare

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  • Zumindestens passen Bennets Aussagen zu Recherchen von Guardian, NY Times und ForeignAffairs. Übrigens denken auch Milley, Burkhard und Kujat (höchste Soldaten von den USA und Frankreich bzw ehemaliger höchster Soldat von Deutschland), dass Verhandlungen mit Russland möglich sind!



    Ich bezweifle, dass alle von Putin gekauft sind.

  • Was ist eigentlich dran an dem, was Naftali Bennett behauptet?



    Dass ein Waffenstillstand möglich war und angeblich von Natoseite beiseite geschoben wurde:



    www.berliner-zeitu...lockiert-li.314871

    • @Nansen:

      Wie soll der Westen den bitte einen Waffenstillstand verhindern? Drohen wir Zelenskyy wenn er Waffenstillstand mit den Russen macht marschiert stattdessen der Westen ein? Die Argumentation ist doch absurd. Bennett hat übrigens auch gesagt er schätze die Chancen auf maximal 50% ein.

      • @Machiavelli:

        Kann man als absurd abtun, wenn man möchte. Sind Sie der Meinung, dass er lügt?



        Warum erzählt Bennett das jetzt eigentlich? Was hat er (oder wer sonst) davon?

        Chancen bis zu 50% wären jedenfalls ne Menge gewesen.



        Vor dem Hintergrund mehr als 200.000 Toter, wäre es schrecklich, wenn auch nur eine Einprozentchance ungenutzt geblieben wäre.

        • @Nansen:

          Solange dies nicht ausführlich dargelegt wird ja,gehe ich davon aus das es eine bewusste oder unbewusste Unwahrheit ist. Der Westen hat schlichtweg keinen Druckpubkt um die Ukraine von einem Waffenstillstand abzuhalten.

        • @Nansen:

          "Warum erzählt Bennett das jetzt eigentlich? "



          Da gibt es verschiedene mögliche Antworten: Er kriegt es bezahlt, er ist einer von Putins nützlichen Idioten, er will sich wichtig tun. Ich tippe auf "wichtig tun".



          Dass Putin seit Jahren rechte Parteien im Westen hofiert und rechte Politiker kauft, ist aber auch nichts Neues.



          Zum Nachlesen: Honorare für AFD-Politiker für Reisen auf die Krim, Honorare für FPÖ-Politiker für Gesetzesvorlagen und Interviews, die die Aufhebung der Russlandsanktionen fordern:



          www.occrp.org/en/i...nexation-of-crimea



          40 Mio Euro für die Front national:



          www.faz.net/aktuel...skau-13289425.html

  • Bisher sind ukrainische "Diplomaten" und Politiker nur durch Forderungen nach mehr Waffen aufgefallen.



    Marder werden bewilligt, drei Tage später sollen Leopard Panzer geliefert werden, die werden zugesagt, es vergeht nicht einmal mehr ein Tag nachdem die Ukraine Raketen und Flugzeuge fordert.



    Da plötzlich zu erkennen, dass es eigentlich um etwas Anderes geht, ist schwierig.



    Herr Selensky sieht sich selbst scheinbar nicht nur als Verteidiger seines Landes, sondern als "Speerspitze für eine neue Weltordnung".



    Ich teile seine Ansicht nicht.



    Die Ukraine zu unterstützen ist gut, es gäbe aber auch Viel Anderes oder Andere die man/ frau unterstützten könnte.



    Vom "Verteidiger der Demokratie" ist die Ukraine weit entfernt. Die Ukraine war vor dem Krieg gerade mal auf dem Weg, sich zu einer Demokratie zu entwickeln.



    Seitdem herrscht Kriegsrecht . Parteien wurden verboten. Grundrechte eingeschränkt.



    Die jüngste Offenlegung von Korruptionsfällen zeigt, dass hier noch einiges an Arbeit zu tun ist.



    Herr Selensky ist allerdings der Meinung, ihm stehe ein beschleunigtes Verfahren zur EU Mitgliedschaft zu.



    Warum das? Warum sollte die Ukraine andere Maßstäbe erhalten, als die vielen Länder zuvor, die sich den europäischen Standards annähern mussten?



    Ja, es ist an der Zeit auch mal über Zielsetzungen nachzudenken und diese zu formulieren.



    Es ist auch an der Zeit Herrn Selensky Grenzen aufzuzeigen.

    • @Philippo1000:

      stimme vollumfänglich zu. Ich denke auch nicht, dass eine Lösung des Konfliktes ( Sieg ) auf dem Schlachtfeld, wie sie von Hr. Selensky , bei ausreichender Versorgung mit jedweder Militärtechnik, propagiert wird, ohne aktives Eingreifen der NATO denkbar ist. Insofern ist es an der Zeit Zielsetzungen realistisch zu evaluieren u. , wie korrekt angemerkt, Herrn Selensky sinnhafte Handlungsspielräume (Grenzen) aufzuzeigen, diese zu unterstützen und nicht länger als reine Erfüllungsgehilfen/Lieferanten von Kriegstechnik zu dienen.

  • Es stand in der "Berliner Zeitung", nicht aber in der taz: Naftali Bennett, der damalige Premier Israels, der im März 2022 zwischen den Kriegsparteien vermittelte, berichtete nun in einem Interview, dass die Unterhändler aus Kiew und Moskau offenbar kurz vor einem Kompromiss standen. Damals erklärte auch Selenskij, dass er sich einen neutralen Status der Ukraine vorstellen könne. Als Boris Johnson dann (daraufhin?) nach Kiew reiste, war nach diesem Besuch von möglichen Vereinbarungen keine Rede mehr, und der Krieg ging weiter.



    Dass eine Nicht-Nato-Mitgliedschaft der Ukraine die Freiheit des Westens bedroht hat und gefährdet hätte, ist m.E. nicht so ganz sicher; sicher ist aber, dass die Fortsetzung des Krieges bisher über 200 000 Tote zur Folge hatte, darunter ca. 100 000 ukrainische Soldaten, die also(??) für "unsere" "wertebasierte" Weltordnung gefallen sind.



    Ob die "gerechtere Weltordnung" (Dominik Johnson), die das Ergebnis eines Siegs der



    NATO in "ihrem" (Annalena Baerbock) Krieg sein soll, Afghanen, Iraker, Libyer, Jemeniten und viele andere Völker nicht doch eher an die waffenstarrende und kriegsträchtige "Ordnung" erinnern, die sie erfahren haben und erleben (falls sie sie überlebt haben), ist nicht ausgemacht!

    • @Hans Steih:

      In der Berliner Zeitung werden sie immer schnell fündig, wenn der Westen der eigentlich Schuldige sein soll. Bennets Aussage ist lediglich seine vage Einschätzung, und die Ukraine wird hier als Marionette des Westens dargestellt, die anscheinend sofort pariert, wenn Boris befiehlt. Ich weiß, diese Form der Welterklärung kommt bei nicht wenigen gut an.

  • Hätten wir eine gerechtere Weltordnung gewollt, hätten wir dann nicht zwischen 2014-2021 mit den Russen darüber verhandeln können? Hätten wir nicht unsere Kriegsverbrecher (aus den USA und GB, aber auch der Ukraine, die Teil der Koalition der Willigen war) vor Gericht stellen müssen, wegen der Invasion im Irak?

    • @Kartöfellchen:

      Ja, dem ist wohl so, "wir" hätten es nicht nur können, nein, "wir" hätten es sollen/müssen . Jedoch ( der Westen , insbesondere die US Regierung) hat Saddams Treiben sehr lange nicht nur zugesehen, nein , es sogar massiv unterstützt. Erst als es ans "Eingemachte" , will heißen ans Öl und die damit verbundenen eigenen Interessen ging , entschied man sich zur Invasion. Moral ist geopolitisch immer eine Frage des Zeitpunktes.

    • @Kartöfellchen:

      Überall Kriegsverbrecher.

      Russland hatte gar keine andere Wahl, als sich militärisch gegen die zur Wehr zu setzen.

      • @Jim Hawkins:

        Bei Ihnen scheint es immer einen Bezug zu Putin zu geben.



        Nun, sagen wir es so: Der Irakkrieg (und der Lybienkrieg) usw. haben sicher nicht dazu beigetragen, Putins Vertrauen in den "friedlichen" Westen zu stärken, auch wenn es seine Verbrechen nicht besser macht.



        Nein, ich meinte damit: Der Westen kann nicht glaubwürdig vertreten (Völkerrecht, Kriegsverbrecher bestrafen), was er selbst nicht lebt. Ganz einfach: Was Du von anderen als Standard willst, lebe es selbst.

        • @Kartöfellchen:

          Nur leben wir leider nicht in einer Welt, in der die Staaten Selbsterfahrungsgruppen sind.

          Es ist vielmehr ein One World Kapitalismus, in dem sich Konkurrenten gegenüber stehen.

          Vielleicht erschreckt Sie das jetzt, Russland ist ein kapitalistischer Staat, der seine Interessen von Fall zu Fall auch mal militärisch durchsetzt.

          Zudem ist es eine fiese Diktatur.

          Warum haben Sie für dieses Regime, dass seine Opposition verfolgt, unterdrückt, einsperrt und Protagonisten immer wieder kalt lächelnd ermordet mehr Verständnis als für seine immerhin demokratischen Gegenspieler?

          Wo können Sie ihre bürgerlichen Freiheitsrechte besser ausleben, in Moskau oder in New York oder Berlin?

    • @Kartöfellchen:

      Diktaturen sind Krieg der Herrscher gegen die Bevölkerung im Irak hat man schlichtweg auf Seiten der Angegriffen eingegriffen Saddam wurde von einem irakischen Gericht verurteilt das ist gut das es dazu kam.

      • @Machiavelli:

        Mit hunderttausenden toten Iraker:innen als "Nebenprodukt"? War es das Wert? Hatte die Koalition der Willigen das Recht dazu? Wie sieht der Irak heute aus? Versuchen Sie doch nicht immer, die USA für deren Gräueltaten zu entschuldigen.

        • @resto:

          Das Problem scheint mir zu sein, dass es eine Position gibt, die Imperialismus nur dann wahr nimmt wenn er aus dem Westen kommt.

          Kommt er aus dem Osten, wird er als legitimes Sicherheitsinteresse wahrgenommen.

    • @Kartöfellchen:

      "Wir" hätten darüber verhandeln können, aber definitiv nicht mit "den Russen". Putin-Russland ist nicht an einer gerechteren Weltordnung interessiert, sondern an einer, die sich an den Großreich-Ansprüchen zb eines Alexander Dugin ausrichtet. Putin hat dieses Gespinst nicht erst seit gestern im Kopf.

      • @dites-mois:

        Darf ich vielleicht einmal korrigieren.



        Alexander Dugin wurde für seine Meinung zur Ukraine als Professor entlassen. Schon 2014.



        Ebenso wurde seine Tochter 2021 bei einem Anschlag getötet. Denken Sie, dies wäre Putins "Einflüsterer" passiert?



        Ich empfehle eher Tim Marschalls "Die Macht der Geographie" zum Verständnis Putins.



        Nebenbei,