Politik in Krisenzeiten: Besser mal zögern

Unter Zeitdruck werden selten kluge politische Entscheidungen getroffen. Eine Verteidigung eines in Ungnade gefallenen Politikstils.

Eine Figur schaut auf ein Schachbrett auf dem nur ein einzelner Panzer steht - vor dem Schachbrett steht eine Schachuhr

Seine Züge gut abzuwägen ist nicht dasselbe, wie nichts zu tun Illustration: Katja Gendikova

In der Pandemie, bei der Frage der Panzerlieferungen und darüber hinaus: Beständig heißt es in den öffentlichen Debatten in Deutschland, dass nicht gezögert werden darf. Schon in der Pandemie war der Tenor stets, man müsse unverzüglich und entschlossen handeln. Verkennend, dass Pandemiepolitik auf eine Verzögerung der Ausbreitung des Virus ausgelegt war, um die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht zu überlasten. Verkennend damit auch, dass pandemischen Lagen nicht mehr, wie in Pestepidemien der Vergangenheit, primär durch räumliche Eingrenzung, sondern vor allem zeitlich begegnet wird.

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Hieran erinnert nicht nur Albert Camus’ Pandemie-Bestseller Die Pest, sondern auch die lange, ungeachtet ihrer Konsequenzen praktizierte Pandemiepolitik Chinas. Die räumliche Isolation von Viren wird von den Gegebenheiten einer global vernetzten Welt eben rasch überholt. Flatten the Curve, ein auf Zeit spielendes Vorgehen wird in einer solchen Welt zum Mittel der Wahl.

Abermals begegnet uns die Ablehnung des Zögerns in der Debatte über den von Wladimir Putin vom Zaun gebrochenen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Erneut heißt es, dass nicht gezögert werden darf, weil es eine sträfliche Unterlassung sei, nicht ohne Verzug auf die Ereignisse zu reagieren. Und erneut wird die Bedeutung einer Politik des Zögerns verkannt. Wird das komplexe Feld politischer Entscheidungsfindung zwischen multiplen Verantwortungsbereichen, einer keineswegs im Konsens geeinten Öffentlichkeit, der Bewegung in und der Absprache mit der Staaten­welt sowie dem Umgang mit einer Atommacht, simplifiziert auf ein Gebot zur Entscheidung.

Gewiss, Politik ist an Entscheidung und aus dieser resultierenden Aktivität ausgerichtet. Während Philosophie die Welt interpretiert, habe Politik sie zu verändern. Die von Politik zu beantwortende Frage laute daher: Was tun?

Indes bemisst dieses Aktivitätsparadigma die Frist zur Antwort immer knapper. Knapp wird die Frist zur Antwort durch die Tilgung Gottes aus der Gleichung, blickt man auf die longue durée, die lange Dauer also, historischer Prozesse. Es wartet nicht mehr die Erlösung im Jenseits, erwartet wird, dass der an die Stelle des Weltenrichters getretene, richtende Staat für Gerechtigkeit im Diesseits sorgt. Befürchtet wird eine diesseitige, säkulare Apokalypse, sofern der Staat nicht handelt und sofern die Enttäuschung über das Ausbleiben seines Handelns schließlich überhandnimmt.

Knapp wird die Frist zu einer Antwort somit auch durch die Erwartungen der Öffentlichkeit sowie der berichtenden Medien. Das Aktivitätsparadigma produziert also Ereignishunger und daraus folgend einen Wettbewerb in der von Aufmerksamkeit lebenden Medienökonomie. Über eine noch nicht getroffene Entscheidung lässt sich schwer berichten, stellt sie doch kein Ereignis dar. Wenig berichtenswert ist das zögerliche Abwägen einer Entscheidung besonders dann, wenn es im eher verborgen bleibenden Bereich der Politik geschieht: in den Außenseitern verschlossenen Hinter- und Besprechungszimmern, den Telefon- und Videokonferenzen.

Zögern wird somit zu einem Instrument der Ermächtigung. Souverän ist, wer zu zögern vermag

Als der Entscheidung vorgelagerter Abwägungsprozess steht das Zögern also dem Paradigma der Aktivität und dem Ereignishunger entgegen. Es ist dem Aktivität und Ereignis erwartenden Beobachter damit meist ebenso schwer verständlich wie erträglich. Die mit einer Politik des Zögerns verbundenen Vorzüge geraten so aus dem Blick. Doch erst durch das Zögern wird bewusstes Entscheiden möglich, das alternative Handlungswege voneinander scheidet, statt Pfad­abhängigkeiten zu folgen und bloßes Reagieren in der Logik gegebener Strukturen als Entscheiden auszuweisen.

Zur Entscheidung gehört Unvorhersehbarkeit. Was bereits determiniert ist, ist nicht mehr zu entscheiden. Die Versicherungen diverser Verunsicherungsmakler, eine zu treffende Entscheidung sei alternativlos, ist schon deshalb falsch, weil zum einen die Alternative des Unterlassens immer zur Verfügung steht (ob die Folgekosten des Unterlassens bezahlt werden können, ist damit zwar nicht beurteilt und gilt es in Betracht zu ziehen, ehe entschieden wird). Zum anderen wird von solchen Ver­un­sicherungsmaklern damit lediglich zum Ausdruck gebracht, dass zu entscheiden sei, wie sie es wünschen. Sie bieten keine Optionen für alle Fälle, sondern allein für die von ihnen als legitim erachteten Fälle.

Zögern wird damit zu einem Instrument der Ermächtigung, zum Ausdruck von Souveränität. Souverän ist, wer zu zögern vermag. Wer dem Zeitdiktat anderer unterworfen ist, ist nicht Herr seiner Zeit, hat die ihm gegebenen Fristen zu befolgen und lässt sich in eine Beschleunigungsspirale treiben. Entscheiden gleicht dann der Fahrt durch eine Helix – bei der nur in eine Richtung gelenkt werden kann, man auf Sicht fährt, da die vorangegangenen und erst recht die folgenden Wendungen im Sichtfeld noch nicht beziehungsweise nicht mehr auftauchen.

Der eingeschlagene Weg steht nicht mehr infrage. Was nicht erfragt und zu beantworten ist, kann zügig weiterverfolgt werden. Eine solche Politik ist verantwortungslos. Wer nicht weiß, was hinter der nächsten Kurve auf ihn wartet, nimmt das Risiko in Kauf, einem Hindernis nicht mehr ausweichen oder rechtzeitig bremsen zu können. Es bleibt dann nur zu hoffen, dass die Kollision nicht im Totalschaden endet.

Dagegen kann eine Politik des Zögerns der Vergewisserung dienen, sich noch auf der richtigen Spur zu befinden. Ebenso kann sie das Weiter-so durchbrechen, indem Herkommen, Fahrtrichtung und Ziel wieder erkannt werden. Sie begegnet damit dem Strategiedefizit einer am Aktivitätsparadigma ausgerichteten Politik.

Eine Politik des Zögerns hat überdies soziale Politik zu sein, auch die Bürger müssen sie sich buchstäblich leisten können

Als strategieaffinere Form von Politik, die nicht die berechenbare Fortführung des immer schon so Gemachten ist, sondern nach dem Sinn und Zweck einer Entscheidung fragt, ist die Politik des Zögerns aber auf ihren Hinterzimmerbereich angewiesen. Bedingungslose Transparenz steht strategischem Handeln und Entscheiden entgegen. Eine am Zögern ausgerichtete Politik hat ihr Blatt bedeckt zu halten. Gerade deshalb ist die Kommunikation politischen Zögerns diffizil und dennoch erforderlich: um Vertrauen zu gewinnen; um Entscheidungen als bewusste Willensakte wahrnehmbar zu machen.

Nur dann bleibt sie nicht erratisch und der Prozess der Entscheidungsfindung nachempfindbar. Dem Wirtschaftsminister gelang es zeitweilig besser, seine Entscheidungen im Ringen um die Unabhängigkeit von russischem Gas zu erklären, als es dem zögernden Kanzler in seiner Ukrainepolitik gelingt.

Während eine Politik des Zögerns Vertrauen gewinnen muss, wird einer Politik der Aktivität ein Vertrauensvorschuss gewährt, da sie der Erwartung nach schneller Handlung und dem Ereignishunger vorerst gerecht wird. Paradoxerweise läuft sie jedoch Gefahr, das ihr gewährte Vertrauen bald wieder zu verspielen, sofern sie ihrem Stil treu bleibt und der ihr inhärente Konflikt zwischen Aktivitätsparadigma und Strategiedefizit eskaliert. Eine Politik des Zögerns dagegen sträubt sich gegen die Eskalation. Nüchternheit jenseits der Erregung der Aufmerksamkeitsökonomie prägt sie.

Das nüchterne Abwägen wird durch die Verzögerung möglich und zum Ausdruck politischer Klugheit, sodass noch immer der Satz Senecas gilt: „Das größte Gegenmittel gegen den Zorn ist der Aufschub.“ Denn unter Stress und Zeitdruck, übernächtigt oder von Emotionen diktiert werden selten politische Entscheidungen getroffen, die den Test der Zeit überdauern. Diese erfordern zeitaufwändige Abstimmung und Kompromisse.

Eine Politik des Zögerns bewegt sich daher doch, sie ist kein Stillstand, ist nicht mit Passivität zu verwechseln oder als solche zu verschmähen. Aber damit sie gelingen kann, benötigt sie eine nüchterne Erwartungshaltung aller Beteiligten. Zu Zögern muss man sich leisten können. Mithin hat eine Politik des Zögerns ihre eigenen Voraussetzungen zu erzeugen. Politik hat abzuwägen, welche Abhängigkeiten perspektivisch einzugehen sind, um sich dem Zeitdiktat anderer nicht zu unterwerfen. Eine Politik des Zögerns hat überdies soziale Politik zu sein, auch die Bürger müssen sie sich buchstäblich leisten können. Wenn Krisen existenzbedrohende Formen annehmen, ist aufschiebendes Vorgehen kaum noch vermittel- und vertretbar.

Zögernde haben die Balance zu halten zwischen den an die Politik gerichteten Erwartungen der Öffentlichkeit und der Medien und der Erfordernis, das Arkanum – also jenen Hinterzimmerbereich der Politik – zu wahren und vor allem zu erkennen, wann der Moment zum Handeln gekommen ist.

Den Kriterien einer Politik des Zögerns genügt die öffentliche Debatte in Deutschland über Waffenlieferungen an die Ukraine nicht. Sie lässt sich bereitwillig vom tagespolitischen Ereignishunger treiben. In Etappen wird über die Lieferung diverser Waffen diskutiert. Diskutiert wird, ob die Äußerung der Außenministerin, „wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“, eine Kriegserklärung gewesen sei. Diskutiert wird über Ereignisse der Tagespolitik.

Geführt werden Platzhalterdebatten. Sie nehmen den Platz ein, der durch den in Ungnade gefallenen Stil zögernder Politik, von Debatten über die Ziele von Politik zu ersetzen ist. Darüber zu diskutieren, worin diese bestehen, verlangt einen Schritt zurückzutreten. Von der Erregung des Augenblicks abzulassen, um sich nicht dem Aktivitätsparadigma gemäß vom tagespolitischen Geschehen treiben zu lassen.

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