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Kriegspropaganda bei KindernRusslands kleine Schulsoldaten

Der Kreml schwört den Bildungssektor auf antiwestliche Ideologie ein. Bei Kritik bekommen es selbst Grund­schü­le­r*in­nen mit Behörden zu tun.

Der Beginn eines neuen Schuljahres im September 2022 in Moskau Foto: Artyom Geodakyan/Tass/imago

Moskau taz | „Hallo Soldat, mein Name ist Wika“, schreibt eine Achtjährige in geschwungener Krakelschrift in ihr liniertes Heft. Es ist eine Hausaufgabe aus ihrer Schule in der Region Irkutsk: einen Brief an die Front schreiben. Das Aufklärungsministerium, wie das Bildungsministerium in Russland heißt, hatte bereits im März seinen Bildungseinrichtungen „empfohlen“, sie mögen den Geist der Armee mit patriotischen Aktionen in Kindergärten und Schulen stärken.

„Wika“ schreibt: „Da ich schon lesen kann, weiß ich aus dem Internet, welche wichtige Aufgabe du, mein lieber Soldat, zu erfüllen hast. Du bist unser Verteidiger! Ich bin stolz auf dich.“ Dazu gibt es Kästchen, in die Wörter wie „Vaterland“, „Sieger“ und „Russland“ geschrieben werden sollen.

Der Bürgermeister aus „Wikas“ Heimatstadt Tscheremchowo präsentiert die Briefe der Kinder voller Begeisterung, sagt, wie verständnisvoll doch die Kleinen mit der Lage, in der sich Russland derzeit befinde, umgingen. Unter welchem ideologischen Zwang die Kinder solche Zeilen verfassen, sagt der Bürgermeister freilich nicht.

Regionalsender bringen derweil Reportagen aus den Schulen, wo Kinder teilweise weinen, weil ihre Väter eingezogen worden sind. Die Stimme aus dem Off sagt dazu trocken: „Auch manche Jungen reagieren emotional, aber sie werden bald lernen, dass die Verteidigung der Heimat die wichtigste Aufgabe im Leben eines Mannes ist, und diese Aufgabe später selbst übernehmen.“

System der Überwachung

Manche Er­zie­he­r*in­nen lassen Kleinkinder in Z-Formationen marschieren und veröffentlichen die Videos in den sozialen Netzwerken, Leh­re­r*in­nen teilen Vorlagen für die Soldatenbriefe aus und lassen ältere Schüler Gedichte schreiben, in denen sie der Armee huldigen.

Seit Russland Krieg in der U­kraine führt, versucht der Kreml, auch den Bildungssektor in den Kriegsdienst zu stellen. Wer kritisiert – ob Eltern, Lehrer*innen, Schü­le­r*in­nen – lebt in einem System der Überwachung und Bestrafung ein immer gefährlicheres Leben.

Lehrer*innen, die sich weigern, sogenannte „Gespräche über Wichtiges“ zu veranstalten, eine Art Klassenstunde im Patriotismus-Format, verlieren unter fadenscheinigen Gründen die Stelle. Manche Schulen kämpfen derweil gegen Lehrermangel an, weil gewisse Pädagogen mit der Ausrufung der Mobilisierung eingezogen wurden, andere eben davor ins Exil geflohen sind.

Manchmal holt die Polizei selbst Grund­schü­le­r*in­nen aus dem Klassenraum, weil die Schule ihre Schüler denunziert hat. Der krasseste Fall ereignete sich kürzlich an einer Schule im Südosten Moskaus. Ein zehnjähriges Mädchen soll in einem Klassenchat ukrainische Symbolik verwendet haben und darin über Krieg und Frieden diskutiert haben. So berichtet es die Schule.

Unter Aufsicht des Jugendamtes

Die Po­li­zis­t*in­nen holten das Kind aus dem Unterricht ab, mehrere Be­am­t*in­nen hatten es über dessen Freizeitgestaltung und den Beruf der Mutter ausgefragt. Die Schulleiterin hatte die Mutter nicht informiert. Sie hatte den Behörden ohnehin geschrieben, die Mutter „beeinflusse das Kind falsch“. Die Frau hatte ihre Tochter aus den „Gesprächen über Wichtiges“ nehmen lassen.

Darin lernen Erst­kläss­le­r*in­nen sowjetische Kriegslieder, Drittklässler*innen, dass es kaum etwas Wichtigeres gebe, als für die Heimat zu sterben, und Zehntklässler*innen, dass die „Spezialoperation“ eine vom Westen aufgezwungene Notwendigkeit sei.

An sich ist das Fernbleiben aus dem Unterricht möglich, weil die Stunde als Wahlfach gedacht ist. Manche Schul­lei­te­r*in­nen erklären die Stunde jedoch zur Pflicht. Der Druck der Schulen ist so groß, dass nicht alle Eltern den Weg des Widerstandes zu gehen bereit sind, weil sie den Schulalltag ihrer Kinder nicht gefährden wollen.

Die Mutter der Zehnjährigen weigerte sich – und fand ihr Kind auf der Polizeiwache wieder. Nun steht die ganze Familie unter Aufsicht des Jugendamtes und muss sich einer sogenannten „sozialen Betreuung“ der Behörde unterziehen. Dabei erklären staatliche Angestellte den Eltern, welche „Pflichten“ sie für die „richtige geistige, psychische und moralische Entwicklung“ ihrer Kinder erfüllen müssten. Ein Einzelfall sind solche Maßnahmen nicht.

Kitaprogramm: „Moralische Werte Russlands“

Laut russischer Verfassung ist politische Einflussnahme an Schulen verboten. Doch Gesetze legen die Ministerien nach eigenem Gutdünken aus. In den Geschichtsbüchern für die zehnte Klasse wird den Jugendlichen von der „Wiedergeburt Russlands“ erzählt und die „Wiedervereinigung der Krim mit Russland“ gelehrt. In Klassenstunden wird ihnen von der „notwendigen Vernichtung der Nazis in der Ukraine“ berichtet und die „Krise 2022“ erläutert, die „Russland nur Gutes“ bringe.

Den Schul­di­rek­to­r*in­nen stehen – wie zu Sowjetzeiten – Be­ra­te­r*in­nen für ideologische Erziehungsarbeit zur Seite. Auch beim sogenannten JeGE, dem russischen Abitur, soll in diesem Schuljahr das Wissen über die „Spezialoperation“ abgefragt werden.

Ab Januar sollen auch die Kindergärten des Landes ein neues Bildungsprogramm bekommen. Damit will das Aufklärungsministerium einen „einzigen Bildungsraum“ erschaffen, in dem die „nationale Färbung und die moralischen und spirituellen Werte Russlands“ gelehrt werden sollen. Dadurch verschwinde die Vielfalt der Einrichtungen, dem Individuellen werde noch weniger Raum gelassen, sagen die Kritiker der Reform.

Zum Spielen, ohnehin nicht besonders ausgeprägt in russischen Kindergärten, bleibt noch weniger Zeit, weil gewisse Lernstunden absolviert werden müssen: Stunden über die Bedeutung der russischen Trikolore, über den Beruf des Soldaten. Sergei Plachotnikow, der einen Holzbaukasten zum freien Spielen entwickelt hat und für die Vorschulbildung in einer Moskauer Privatschule zuständig ist, sagt: „Man erzieht damit Vollstrecker, keine Schöpfer des eigenen Lebens.“

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15 Kommentare

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  • Ein Artikel, den alle Querdenker und Merkel-Diktatur-Schreihälse mal zur Kenntnis nehmen sollten. SO sieht das Leben für Menschen in einer faschistischen Diktatur aus.

  • Noch mehr Gründe für Drain Brain. Noch mehr fleißige und gut ausgebildete Fachkräfte werden das Land verlassen. Jetzt auch noch, weil sie ihre Kinder schützen wollen.

  • "...und sie kommen nicht mehr frei ihr ganzes Leben!"

    Mir ist absolut unerklärlich, wie man in Russland keinen Faschismus sehen und sich als Linker nicht eindeutig und klar gegen dieses System stellen kann. Es ist die Pflicht jedes freiheitlich gesinnten Menschen, die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen den faschistischen Überfall zu unterstützen. Es ist mir unbegreiflich, wie man sich als links bezeichnen und das nicht so sehen kann.

  • Klingt wie Faschismus.

  • Es bestätigt sich erneut der TAZ Artikel "Gewalt von Kindesbeinen an". In den dortigen Kommentaren wurde schon im Juli laut Diskriminierung geschrien, es kann eben nicht sein was nicht sein darf.



    taz.de/Erziehung-in-Russland/!5862350/

  • Da wird die nächste Generation im Hass auf den Westen groß gezogen, aus dem Fernsehen schallt es auch unentwegt. Europa und insb. Deutschland muss sich darauf einstellen eine Rückkehr zum status quo ante wird es auf mindestens 10 Jahre nicht geben, vielleicht nie wieder.

  • Als ehemaliger DDR-Bürger habe ich ähnliche Erinnerungen an die eigene Schulzeit, wenn auch nicht ganz so extreme. Oberster Lehrsatz war, dass die DDR ein Friedensstaat sei, an der Seite der Friedensmacht Sowjetunion (das heutige Russland betrachtet sich wohl nicht mehr als solche?). Die Armeen beider Staaten stünden dazu nicht im Widerspruch, sondern seien die logische Folge der Bedrohung aus dem Westen (USA und Westdeutschland). Daraus resultierten regelmäßig wechselnde Parolen, z. B. „Der Frieden braucht die stärkeren Bataillone“.



    Allerdings konnte man in der Freizeit über West-Radio und -Fernsehen erfahren, was im Staatsbürgerkundeunterricht und in den Jugendorganisationen verschwiegen wurde. Die heutigen russischen Kinder haben zunehmend weniger Möglichkeit, sich über unabhängige Medien zu informieren. Sie sind Putins Propaganda ausgeliefert.

    • @Pfanni:

      Ach, das haben bei uns doch nur die Naivsten geglaubt.



      Der Rest war durch Angst erzeugter Gehorsam.



      Wird in Russland nicht anders sein.

  • Die russische Gothic-Rap Gruppe Ic3peak hat Damaskus in ihrem Video zu Марш ("Marsch") vorhergesehen:



    Besonders erschreckend, wenn man bedenkt, dass das Video zwei Jahre vor dem Krieg entstanden ist:

    youtu.be/xqohApD6Ng8

    • @Ruhrpott-ler:

      Bozhe moj, das ist gut. Danke für den Tipp!

  • Gehirnwäsche!

  • 0G
    06792 (Profil gelöscht)

    Wir können nur hoffen das Russland in seinem schleichenden Niedergang nicht zu viel Schaden anrichtet und das sie in der Ukraine gestoppt werden können...

  • Mein Gott, es kommt alles wieder.

  • indem man die kinder anfüttert ...

    müssen die eltern und oma und opa gezwungenermaßen vom gleichen teller essen.

  • Irgendwo gestern las ich einen Fachmenschen mahnend den Wissenszeigefinger zu erheben, um uns Nichtfachmenschen die Leviten zu lesen: Putin’s Russland als faschistisch zu bezeichnen wäre unrichtig, denn es liesse das Erbe des Stalinismus links – oder war’s rechts? – liegen (oder so ähnlich). Nun denn, Interesse & Applaus von irgendwem irgendwo sei ihm gegönnt.



    Mir aber ist das was dieser Schlächterverein von der Kremlschanze aufführt so was von Faschismus pur, dass es einem grau(s)t. Erst werden die Kinder vaterlandführergetrimmt, dann frontverheizt für einen Expansionswahn.