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Debatte über Silvesternacht38 Spätpubertierende

Seit Silvester wird über Integration diskutiert. Wo bleibt die Debatte über Nazis, die zeitgleich Polizisten und Rathäuser angegriffen haben?

Seit Silvester unter anderem im Fokus: High-Deck-Siedlung in Berlin-Neukölln Foto: Markus Schreiber/ap

Alles, was im nachfolgenden Meinungsbeitrag steht, wurde schon gesagt, geschrieben, gemeint – mal plump wie eine Arschbombe, mal elegant wie Roger Federers einhändige Rückhand.

Texte, die damit beginnen, dass zum Thema X alles schon x-mal gesagt worden ist, sind ebenfalls x-mal geschrieben worden. Mal präziser, mal bissiger, mal treffender, mal schöner, mal ausholender, mal von prominenterer Seite. Texte, die so beginnen, handeln in den allermeisten Fällen von Rassismus. Oder davon, dass man sich in Deutschland ein drittes Auge zu wünschen scheint, dass man zudrücken kann, wenn Nazis eine Stadt kurz und klein kloppen, eine Synagoge angreifen, Menschen erschlagen, erschießen, attackieren, in einen Hinterhalt locken.

Aus Energiespargründen heizen seit Jahresbeginn Medien und Politiker statt ihrer Heizung die Stimmung gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund an. Beide Sportgruppen zeichnen sich durch zwei Wettkampfziele aus: bloß nicht zu viel Energie darauf verschwenden, erst mal zu recherchieren, was Sache ist.

Und um jeden Preis den Verdacht loswerden, dass man sich ein drittes Auge wünsche, um es zuzudrücken, wenn Jugendliche mit Mi­gra­tions­hintergrund Frauen attackieren, mit Messern hantieren, sich dem IS anschließen.

Tagelang wurde von SPD bis CDU, von taz bis Bild ein Gewaltproblem unter Jugendlichen in Berlin-Neukölln und Hamburg-Wilhelmsburg thematisiert, von Experten seziert, und die üblichen Forderungen wurden gestellt: „Aufklärung, und zwar schonungslos!“, „Es ist nicht rassistisch, die Täter zu benennen“, „Verurteilung der Straftäter! Und zwar schnell und konsequent!“.

Als stünde es Spitz auf Knopf, dass in Deutschland Straftäter nicht verurteilt werden, als diskutierten wir nicht seit Jahren darüber, dass auch Einwanderer kriminell sein können. Als hätte nicht jeder mediale Beitrag über das Berliner Silvester jemanden mit orientalischem Haar und Namen interviewt, der sagt: „Ja, ist sehr schlimm hier mit der Gewalt. Aber ich hab das mit Mehmet schon besprochen. Dagegen müssen wir echt was tun.“

Eine Woche lang hatte man das Gefühl, das Land stehe kurz davor, den Notstand auszurufen. Aber irgendwer merkte dann doch noch, dass nicht der Bundestag von einem enthemmten Mob aus Neuköllner Jugendlichen gestürmt worden war, sondern das brasilianische Regierungsviertel von rechten Anhängern des abgewählten Präsidenten.

Allerspätestens nach der Mitteilung der Polizei am Montag hätte es für hysterisierte Kommentare und Anschuldigungen vor allem Entschuldigungen hageln müssen. Gerade mal 38 Leute waren an Silvester in Berlin wegen Böllerattacken auf Polizisten und Feuerwehrleute festgenommenen worden. Die Mehrheit unter 21 Jahre. Zwei Drittel davon Deutsche.

Aber nichts dergleichen. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach bei seinem Neujahrsempfang von einem „enthemmten Mob“ und davon, dass Feuerwehr, Sanitäter und Polizei „die Prügelknaben für Frustrierte“ seien, die Berliner CDU will weiter die Vornamen der Festgenommenen wissen und der Chef der Bundes-CDU sprach im Fernsehen von „kleinen Paschas“, „Leute, die in Deutschland nichts zu suchen haben“ und „mangelnder Integration“.

Die Arschbombe unter den Silvesterdebatten

Die SPD-Bürgermeisterin der Hauptstadt nutzte die Debatte als Wahlkampfauftakt und organisierte innerhalb weniger Tage einen „Jugendgipfel“, der am Mittwoch die Erkenntnis brachte, dass man mehr in pädagogisches Personal investieren müsse.

Auch wenn es die SPD-Ver­tre­ter*in­nen geschickter hinkriegen. Hinter „Jugendliche“ und „enthemmter Mob“ kann sich schließlich jeder selbst überlegen, wer damit gemeint ist. An Nazis denken nur die, die überhaupt mitbekommen haben, dass an Silvester im sächsischen Borna 200 Nazis Polizisten beschossen und das Rathaus zerdeppert haben.

Wegen 38 böllernder Spätpubertierender ängstigen sich deutsche Medien und Politik vor der Zertrümmerung unserer stabilen Demokratie. 200 böllernde Nazis, die ihren Sturm aufs Kapitol im Kleinen üben, sind dagegen noch heute eine Randnotiz.

Denn: „Waren es wirklich Nazis, die in Borna Polizisten beschossen? Was wir wissen und was nicht.“ „Wie groß waren die Schäden am Rathaus in Borna wirklich?“ Lass erst mal sorgfältig prüfen, bevor wir das größer fahren.

Es spricht alles dafür, dass Medien und Politik immer wieder prüfen, ob und wo mit zweierlei Maß gemessen wird, wo es Lücken gibt, Nachbesserungen und Recherchen braucht. Solange es aber keine genauso aufgeregte Debatte über die Vorfälle in Borna oder einen Nazigipfel gibt wie über Neukölln, stimmt was mit der Überprüfung nicht.

Dass am Tag des „Jugendgipfels“ die Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung ihren Bericht vorstellt, in dem sie sich dem anschließt, was viele Einwanderer fordern würden: mehr unabhängige Beschwerdestellen einrichten; es klingt wie eine nicht mehr ganz so taufrische Nummer linker Fernsehkabarettisten: Die Bundesregierung bietet Einwanderern mehr Möglichkeiten, an Rathaustüren zu klopfen, um sich zu beschweren, während Nazis die Rathäuser abfackeln.

Die Silvesterdebatte wird als Arschbombe in die Geschichte der Silvesterdebatten eingehen. Respekt vor denen, die es dagegen mit Roger Federers einhändiger Rückhand hielten.

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17 Kommentare

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  • Es ist bezeichnend, dass hier die erfundene Geschichte von 200 randalierenden Nazis herhalten muss, um die zahlreichen Videos aus Neukölln zu bagatellisieren.

    In Borna waren es nach derzeitigem Wissensstand 6-8 Randalierer, von denen einer angeblich "Sieg heil" gerufen hat. Diese Information über den Ausruf stammt aus einem einzigen Facebookpost, der zudem mittlerweile gelöscht ist. Soviel also zur Debatte und Recherche.

    Auf der einen Seite objektivierbare Videos und auf der anderen Seite ein Facebookpost. Die Geschichte der attackierenden Nazis kam da schon sehr gelegen. Und es klingt ja auch zu gut: AfD Kerngebiet, Osten, Sachsen. Da muss man ja gar nicht recherchieren.

    Nicht einmal jetzt, wo die Geschichte als klare Ente enttarnt wurde, ist es genug.

  • 1. Bei den inzwischen vielfach bemühten Erzählungen aus Borna handelt es sich nach allem was bekannt ist um Fake News. Siehe hierzu die Entschuldigung von Lars Klingbeil für seine voreiligen Äußerungen.



    2. Die Anzahl durch die Polizei identifizierter Personen lässt keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Anzahl der Täter zu. Fest steht jedoch, dass es sich in Berlin um eine Täteranzahl im hohen dreistelligen oder sogar im vierstelligen Bereich gehandelt haben muss.



    3. Fragen der Integration lassen sich nicht mit Verweis auf deutsche Staatsangehörigkeiten beantworten.



    Es ist sehr interessant wie sich eine dringend nötige und eigentlich selbstverständliche Aufarbeitung und Debatte über Ursachen der Geschehnisse an Silvester in Berlin in eine Rassismusdebatte umlenken lässt. So werden sich die Probleme nicht lösen und die Ursachen nicht bekämpfen lassen. Eine Fortsetzung und Ausweitung derartiger Gewaltausbrüche ist ziemlich wahrscheinlich.

  • "Denn: „Waren es wirklich Nazis, die in Borna Polizisten beschossen? Was wir wissen und was nicht.“ „Wie groß waren die Schäden am Rathaus in Borna wirklich?“ Lass erst mal sorgfältig prüfen, bevor wir das größer fahren."

    Lesen sie mal die Welt online, dann werden Sie erfahren dass sich Lars Klingbeil wegen seinr voreiligen Äusserungen zu diesem Fall gerade entschuldigt hat

  • Dieser taz-Kommentar sollte vermutlich nochmal überarbeitet werden, nach dem die ZEIT recherchiert hat, dass im Fall der Sylvesternach in Borna "vieles in der Berichterstattung übertrieben" war.

    So gab es gar keine 200 Randalierer. Maximal 30 haben randaliert, dabei ist überhaupt nicht klar, ob es sich um Nazis/Rechtsextreme handelt.

  • "Wo bleibt die Debatte über Nazis, die zeitgleich Polizisten und Rathäuser angegriffen haben?"



    Berechtigte Frage.



    Ich schlage vor: Verfasst einen Tatsachenbericht und eröffnet damit die geforderte Debatte.

  • Ehrlich gesagt finde ich den Kommentar unterkomplex. Die Ereignisse in Neukölln mit Ereignissen in Sachsen zu relativieren ist wirklich schwach. Als langjähriger Tazleser weiß ich, dass Frau Akrap das viel besser kann.

    In Berlin erregte vor allem das Vorgehen gegen die Feuerwehr (im Text einmal erwähnt) große Besorgnis. Bereits bei zu Anfahrt zu dem brennenden Reisebus wurden Löschfahrzeuge durch brennendes Material aufgehalten. Beim Löschversuch wurden die Feuerwehrleute massiv attackiert. Den brennenden Reisebus hatten sie da noch gar nicht erreicht. Auch der Wurf eines Feuerlöschers auf einen RTW ist nicht spätpubertär sondern kriminell.

    Vor dem Hintergrund finde ich die Ergebnisse des gestrigen Gesprächs von Giffey zu dem Thema erstaunlich gehaltvoll.

    Und um die Faschisten in Sachsen können sich vor allem die Nicht-Berliner kümmern. Als Berlin interessiert mich zu allererst, dass meine Nachbarschaft nicht von Dumpfbacken irgendeiner Art abgefackelt und verwüstet wird.

  • Spätpubertierende? Kriminelle!



    Schuldrelativierung durch Vergleich "Spätpubertierende" und "Nazi"-Täter?



    Was soll der Vergleich, beides sind Straftäter, oder gibt es auch "Spätpubertierende Nazis"?

  • Ich finde es fast rührend, wie die TAZ sdogar dieses Thema zu einem rechts-links Thema vernbiegt.



    Wir haben in D kein Migrantenproblem, kein Naziproblem und kein Umweltterroristen- Problem und kein Linkschaotenproblem.



    Wir haben das Problem, dass eine verschwindend kleine (aber sehr hetreogene) Gruppe auf das Gewaltmomopol unseres Rechtsstaats pfeift und die jeweis regierenden nicht reagieren.

  • "Die Silvesterdebatte wird als Arschbombe in die Geschichte der Silvesterdebatten eingehen"

    Das ist sie doch jetzt schon. Und das, weil viele, die laut daran teilnehmen, auffällig an den Stellen übertreiben, relativieren, wegschauen, polemisieren, wo es je nach vorgefassten Standpunkt am Besten passt.

    Nimmt man den Artikel aus dem Tagesspiegel, in dem die Zahl der Festnahmen korrigiert wird und auf den sich hier bezogen wird, steht da eben auch:

    "Auch die Zahl der 38 nach Angriffen auf Polizisten und Feuerwehrleute Festgenommenen ist nur bedingt zu gebrauchen, lediglich das Alter gibt einen Hinweis auf mögliche Hintergründe....Klar ist, dass zahlreiche Personen, die Polizei und Feuerwehr attackiert haben, nach übereinstimmenden Schilderungen der Einsatzkräfte und belegt durch Videos einen Migrationshintergrund haben. Ferner gab es jedoch auch Mobs von Vermummten, die die Feuerwehr behindert und angriffen haben. "

    Daraus abzuleiten, es ginge um schlicht um "38 böllernde Spätpubertierende" ist doch am Ende auch eine Verkürzung, die der Sache so nicht gerecht wird.

    Zu Borna find ich sowohl in der FAZ, als auch in der Zeit, als auch in der Süddeutschen Artikel, die diese Vorfälle thematisieren. Und von der BILD erwartet doch niemand ernsthaft eine sachliche Auseinandersetzung mit den Problemen.

    Da finde ich den Gipfel in Berlin, zu dem eine sehr ausgewogene Runde an Vertretern verschiender Arbeitsbereiche und Communities die Sache diskutieren, wesentlich geeigneter, ein geweinnbringendes Ergebnis zu erzielen. Dass man sowas auch in Sachen und anderswo dringend bräuchte, muss ich nicht erwähnen.

  • Ich würde ja eher die Frage stellen warum gab es denn so wenig Festnahmen in Berlin und Borna. In Borna gab es übrigens sogar nur 2 Festnahmen. Dann ist ja nach der Logik alles über rechte Gewalt im Artikel reine Panikmache. Das Auftreten unserer Polizei wird von männlichen Heranwachsenden in der Altersgruppe halt nicht ganz zu Unrecht als Schwäche des Staates interpretiert. Für mich ist das weiterhin das eigentliche Hauptproblem. Mit Stuhlkreisen und Kumbaya Gesängen kriegen wir das nicht hin. Wenn ich mit meinen türkischen Kollegen aus Berlin rede, wünschen die sich mehrheitlich klare Kante gegen diese Randalierer. Ist das Einzige was in dem Alter verstanden wird. Genau wie in unseren Schulen hat unsere Gesellschaft inzwischen völlig den Zugang zur Lebensrealität von jungen Männern verloren. Was bei Gymnasiastinnen aus dem Bildungsbürgertum das richtige Konzept ist, muss noch lange nicht bei jungen Männern funktionieren.

  • "Wo bleibt die Debatte über Nazis, die zeitgleich Polizisten und Rathäuser angegriffen haben?"

    Dazu gehört erst einmal die Berichterstattung darüber.



    Wo also bleibt die Berichterstattung darüber, liebe taz!?

  • Also nur weil 38 Menschen festgenommen wurden heißt das nicht, dass nur diese Anzahl an den Krawallen beteiligt waren - anhand der überall verfügbaren Videoaufnahmen ist offensichtlich, dass viel mehr Personen Chaos verursacht haben. Da ist es schon ein verzerrendes Framing, diese 38 Festgenommen jetzt 200 (vermeintlichen) Nazis entgegenzustellen.

    Und auch wenn man in einem Kommentar natürlich etwas zuspitzen darf, wurde nirgendwo ein Rathaus "abgefackelt".

  • Möglicherweise iust Frau Akrap einer Fake-Nachricht aufgesessen:

    www.berliner-zeitu...ilvester-li.306198

  • Bitte nicht so!



    Diese 38 sind keine "Spätpubertierende", es sind Kriminelle.



    Deren Staatsbürgerschaft oder Herkunft spielt für die rechtliche Beurteilung keine Rolle - vorm Gesetz sind alle gleich. Bestenfalls kann man bei der Prävention mal darüber nachdenken, was falsch gelaufen sein könnte.



    Unerträglich aber finde ich diese Taten dadurch zu relativieren, dass man sie mit Taten von "Ultrarechten" vergleicht, welche natürlich mit dem mindestens gleichen Elan bekämpft werden müssen.



    Eine Tat wird nicht dadurch besser, dass man auf eine möglicherweise noch schlimmere Tat hinweist. Also lassen die das Wort "Nazi" hier mal außen vor, es hilft dem Problem nicht.

  • Nazis geben ihre Wählerstimmen ab, die anderen (noch) nicht. Es lohnt sich gegen die "Anderen" zu hetzen. Das umso mehr, wenn man selbst nicht weit von brauner Idologie entfernt ist. So sind es laut Herrn Merz ja nur migrationshintergründige Eltern, die deutsche Lehrerinnen bedrohen. Das würde einem treuen, blonden Deutschen nie einfallen, sich gewaltbereit über schlechte Noten seines Zöglings zu beschweren. I wo - WIR doch nicht.

  • "Wegen 38 böllernder Spätpubertierender..."

    Wie niedlich. Rettungswagen in einen Hinterhalt zu locken, Feuerwehrleute und Sanitäter mit Pyrotechnik, Steinen und Eisenstangen anzugreifen, mindestens 125 Menschen zu verletzen, einen Bus anzuzünden, Feierwerk durch gekippte Fenster in Wohnungen zu werfen: das muss man den Jungs schon mal durchgehen lassen. Die feiern eben gerne mal.

    Sorry, aber was genau hindert einen dann noch daran, dieselbe Verniedlichungstaktik auf die Nazis in Borna anzuwenden? "Das ist da im Osten halt so, da ist man als Jugendlicher eben mal Nazi und probiert sich in der Rebellion gegen die Staatsmacht. Das wächst sich aus, spätestens mit dem Ende der Spätpubertät ist es damit vorbei."

    Ich frage das nicht rhetorisch. Was genau ist der essenzielle Unterschied zwischen den beiden Geschehnissen? Ist es nicht vielleicht besser und in jeder Hinsicht konsequenter, beides zu verdammen und und gegen beides vorzugehen?

  • www.belltower.news...-silvester-145269/

    Ergänzend hierzu ein Zitat:



    "Die Rede ist nicht etwa um die rassistische Integrationsdebatte um Berlin-Neukölln. Die Rede ist vom sächsischen Borna."

    Und ja, diese Debatten sind rassistisch. Volle Zustimmung.