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Holodomor in der SowjetunionDie künstliche Hungersnot

Stalins Politik führte Anfang der 1930er Jahre zum Hungertod von Millionen von Menschen – dem Holodomor. Die meisten Opfer waren Ukrainer.

Menschengemachter Hunger: Sowjetbeamte beschlagnahmen Getreide in der Ukraine, 1932/33 Foto: Pictures from history/ullstein bild

Regensburg taz | Bis heute gibt es viel Unwissen über die große Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933. Das liegt nicht nur an der lange in der deutschen Gesellschaft verbreiteten Ignoranz gegenüber der Ukraine, wie man immer wieder lesen kann. Es liegt auch an der komplexen Ereignis- und Erinnerungsgeschichte der Hungersnot, der nach heutigem Kenntnisstand in der Ukraine mindestens 4 Millionen Menschen zum Opfer fielen und die seit den späten 1980er Jahren in der Ukraine und in der nordamerikanischen ukrainischen Diaspora Holodomor genannt wird: Hungerkatastrophe. Gleichzeitig starben auch fast 2 Millionen Kasachen und mehrere Hunderttausend Russen und Deutsche an der mittleren und unteren Wolga an Hunger.

Holodomor im Bundestag

Der Bundestag wird am Mittwoch die Hungerkatastrophe in der Ukraine 1930 bis 1933 als Völkermord einordnen. So steht es in dem von SPD, Union, Grünen und FDP verfassten Antrag „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“. Die Mehrheit für den Antrag ist sicher. Initiiert haben ihn der Grüne Robin Wagener, Dietmar Nietan (SPD), Ulrich Lechte (FDP) und Knut Abraham (CDU). Die Einigung auf den Antrag kam kurz vor dem 90. Jahrestag des Holodomor zustande, der am 26. November in der Ukraine begangen wurde.

Während der früheren Hungersnot der Jahre 1921 bis 1923 in Sowjetrussland und der Sowjetukraine hatte die bolschewistische Regierung mit Lenin an der Spitze noch um internationale Hilfe gebeten und auf den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg 1918 bis 1920 als Ursache verwiesen. Stalin hingegen lehnte in der Hungerkatastrophe der Jahre 1932 und 1933 einen Hilferuf ab, weil er die Legitimität der Sowjetordnung infrage gestellt hätte. Die staatlich kontrollierte Presse sprach nur von „Versorgungsproblemen“ und es gab keine internationale Hilfe.

Erst spät, im Sommer 1933, gelangten sogenannte Hungerbriefe aus den ehemaligen deutschen Kolonien nach Deutschland. Und nur selten schafften es ausländische Journalisten, sich an der Zensur vorbei ein eigenes Bild von der Ukraine zu machen. In weiten Teilen Europas und darüber hinaus glaubte man aber ohnehin der Sowjetunion und ihrer Presse, denn die Sympathien für den ersten sozialistischen Staat der Welt waren angesichts der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in Deutschland noch weit verbreitet und kaum getrübt durch den folgenden Terror der 1930er Jahre.

Unabhängiger Informationsfluss war also spärlich und sporadisch. Doch Journalisten wie Paul Scheffer, der viele Jahre für das linksliberale Berliner Tageblatt aus der Sowjetunion berichtet hatte, sprachen schon 1933 von einer künstlichen Hungersnot, die nicht durch schlechte Ernten verursacht worden sei. Schuld sei vielmehr die sowjetische Politik ab 1928 – eine Sicht, die sich heute bei His­to­ri­ke­r:in­nen durchgesetzt hat.

IOS/neverflash
Guido Hausmann

leitet den Arbeitsbereich Geschichte am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und ist Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Universität Regensburg. Seit 2022 ist er zudem Sprecher der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission.

Stalin brauchte Geld für die Industrialisierung

Demnach ist eine der Ursachen für die Hungersnot in der Ukraine die brutale Wirtschaftspolitik, die Stalin und sein Umfeld in der gesamten Sowjetunion ab 1928 durchsetzten, um wirtschaftliche Krisen und Abhängigkeiten vom industrialisierteren Westen zu überwinden und die eigene Herrschaft zu festigen. Mit Getreideexporten auf dem Weltmarkt sollten Einnahmen für Investitionen in moderne Technik für eine forcierte Industrialisierung generiert werden.

Dafür führte die sowjetische Regierung 1928 erstmals seit dem Bürgerkrieg wieder Getreiderequirierungen mit festgesetzten Abgabequoten auf die Ernte ein. Ende 1929 verkündete sie dann die beschleunigte – also gewaltsame – Kollektivierung der Landwirtschaft und die „Liquidierung der Kulaken als Klasse“. Gemeint war die Enteignung und Deportation von Bauern, die als wohlhabend galten, sich häufig aber nur weigerten, ihre privaten Bauernwirtschaften aufzugeben und in genossenschaftliche Agrargroßbetriebe, die Kolchosen, einzutreten.

Die Ukraine war als wichtigstes Getreideüberschussgebiet der Sowjetunion besonders stark von dieser Politik betroffen. Doch es kamen weitere Gründe hinzu. Ein Nationalisierungsschub am Ende des Ersten Weltkrieges hatte dazu geführt, dass die überwiegend russischen Bolschewiki in der Ukraine lange als fremd wahrgenommen wurden. Dadurch hatten die Bolschewiki Schwierigkeiten, in der Ukraine auf dem Land Fuß zu fassen, auch wenn sie in den zwanziger Jahren einheimische Kader und die ukrainische Sprache und Kultur gefördert hatten.

Darüber hinaus hegten die städtisch geprägten Bolschewiki mit ihrer Fortschrittsideologie kulturelle Überlegenheitsgefühle und damit verbunden eine tiefe Unkenntnis und ein Misstrauen gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung, deren – auch religiöse – Lebensweise sie nicht verstanden und die sie bekämpften. So war bei den ukrainischen Bauern das Privateigentum verbreiteter als bei den russischen. Und die eigenständige ukrainische bäuerliche Kultur inspirierte eine wachsende Schicht ukrainischer Intellektueller und Kulturschaffender.

Die Bolschewiki misstrauten der Ukraine

Stalin und die Bolschewiki blickten außerdem mit besonderem Argwohn auf die Ukraine, weil sie dem polnischen Einfluss in der Sowjetukraine misstrauten und überall polnische Spione witterten, vor allem in den ukrainischen Parteiorganisationen. Denn Polen hatte sich während der Revolution und im Bürgerkrieg von 1917 bis 1921 erfolgreich gegen die Bolschewiki behauptet und im südöstlichen Teil Polens, in Ostgalizien und in Westwolhynien, lebten mehrere Millionen Ukrainer:innen.

Die ukrainischen Bauern leisteten 1930 massiven Widerstand gegen die Getreiderequirierung, flohen aus den Kolchosen, als es kurzfristig möglich war, schlachteten ihr Vieh, bevor sie es abgeben mussten und wanderten zu Hunderttausenden in die Städte ab. Gegen den Zwang zur Arbeit in der Kolchose und die Getreideabgaben, die die Hälfte und mehr der Ernte betragen konnten, setzten sie häufig auf Arbeitsverweigerung.

Requirierungskommandos werteten das als Sabotage und beschlagnahmten in wachsendem Maße auch Futtergetreide. Im Winter 1931/32 starben in der Ukraine bereits 150.000 Menschen. Die Lage eskalierte 1932 und 1933 weiter, da Stalin und die anderen bolschewistischen Führer an ihrer Politik der gewaltsamen Getreidebeschlagnahmung zur Unterwerfung der Bauern und Finanzierung der Industrialisierung festhielten. Viele ukrainische Parteikader setzten sich 1932 vergeblich für die Senkung der Abgabequoten ein.

Zu essen gab es nicht einmal mehr Wurzeln oder Baumrinde

Die Ernte im Jahr 1932 fiel geringer aus als 1931, war aber nicht schlecht. Das berüchtigte Gesetz vom 7. August 1932 „über den Schutz sozialistischen Eigentums“ drohte hohe Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für den „Diebstahl von Getreide“ und für andere sogenannte Sabotageakte an. Im Herbst desselben Jahres begann die massenhafte Requirierung auch von Futter- und Saatgetreide sowie aller anderen Lebensmittel, wenn die Abgabequoten nicht erfüllt wurden. Vielen Bauern blieb nichts mehr zu essen, nicht einmal Wurzeln oder Baumrinde.

Ende 1932 führte das Regime einen Inlandspass ein, um die Abwanderung in die Städte zu unterbinden. Im Januar 1933 dann ordneten Stalin und sein Außenminister Molotov an, die Ukraine nach außen abzuriegeln. Auch die ukrainisch besiedelte Region Kuban im Nordkaukasus wurde abgeschottet. Diese Maßnahmen, die nur in der Ukraine und nicht in der ebenfalls vom Hunger betroffenen Wolgaregion in Sowjetrussland eingeführt wurden, überließen die Ukrai­ne­r:in­nen massenhaft dem Tod.

Stalin ließ der Hungertod in der Ukraine unberührt, er gab aber das Ziel der unbedingten Unterwerfung der Ukraine nicht auf. Im August 1932 schrieb er in einem Brief an Parteigrößen: „Wenn wir uns nicht daranmachen, die Lage in der Ukraine in Ordnung zu bringen, dann können wir die Ukraine verlieren.“

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10 Kommentare

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  • Wer eine unvoreingenommene Sicht auf Holodomor und Kulakenvernichtung sucht, sollte folgendes Buch lesen. John Gunther: Inside Europe 1940 War edition (als pfd verfügbar) und dort den Abschnitt "The Iron Will of Stalin".

    Aus der deutschen Ausgabe 1937: (inhaltlich identisch, hier ... gekürzt). Siehe auch Stephen Kotkin: Stalin: Waiting for Hitler, 1929–1941 Abschnitt "Apocalypse"

    Natürlich herrschte Hungersnot. Niemand kann das länger leugnen. Sie setzte im Frühling 1933 ein, in den großen getreideerzeugenden Gebieten der U.S.S.R., im nördlichen Kaukasus und in der Ukraine. Nach anfänglichem Zögern geben die Kommunisten jetzt die Tatsache einer Hungersnot zu, wenn auch in kunstvoll umschriebenen Sätzen. Das Wichtigste bei dieser Hungersnot ist aber nicht - so darf man sagen - daß mehrere Millionen Menschen starben. ... Entscheidend war der Umstand, daß die Sowjetregierung, gerade in einem riesigen Kampf, mit der Sozialisierung des Lands zum Heil der Bauern befaßt war. Die Bauern leisteten Widerstand und mußten dafür - schrecklich genug - büßen. Um der Regierung Hindernisse in den Weg zu legen, weigerten sie sich, das Getreide zu ernten. Sodaß sie schließlich selbst nicht genug zu essen hatten und starben. Dies ist in kurzen Worten die innere Geschichte der Hungersnot.

    Aus dieser materialistischen Analyse wird klar , dass der Holodomor kein Völkermord war, sondern die gewaltsame Vernichtung der Bauern als ökonomische Klasse - wie so oft unter Vernichtung von vielen Menschen dieser Klasse.

  • "Unabhängiger Informationsfluss war also spärlich und sporadisch. "

    Wenn man der Zusammenfassung der Arbeit von Kasppler Glauben schenkt, dann stimmt das so nicht mit dem "wir haben von nichts gewußt"

    "Eine Analyse der zeitgenössischen Presse Österreichs zeigt, dass sich die Öffentlichkeit dennoch breit über die Hungersnot informieren konnte. Selbst Regionalzeitungen berichteten über die Katastrophe." heißt es dort. elibrary.bwv-verla...35998/oe-2020-0099

    Es müssen andere Faktoren gewesen sein, die zur Verdrängung des Völkermords im politischen Bewusstsein geführt haben.

  • Betreffs der Hungersnot 1932 und 1933 hat man selbstverständlich auch im offiziellen Russland eine feste Meinung.



    Wer diese kennenlernen will, kann sie ohne Umwege von Sergej J. Netschajew, dem Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland, erfahren: www.jungewelt.de/a...tenverdrehung.html



    Bereits der Titel: „KAMPF UM DIE GESCHICHTE - Absurde Faktenverdrehung“ lässt ahnen, worauf es hinausläuft!

    • @Pfanni:

      Richtig bizarr wird es dadurch, dass direkt unter dem Text die Junge Welt mit dem Slogan "Aufklärung statt Propaganda" wirbt.

  • Dann solte Biafra auch nicht in Vergessenheit geraten:

    de.wikipedia.org/wiki/Biafra-Krieg

  • Vielen Dank für diesen Artikel.

    Man hat den Eindruck, dass Putins Regime die Verbrechen Stalins nicht nur glorifiziert, sondern diese wiederholen möchte.

    Stand by Ukraine!

  • Die Ukrainer hatten schon schlechte Erfahrungen mit den Bolschwewiki, da diese eine unabhängige Entwicklung der Ukraine in Richtung von Machno inspirertem anarchistischem System verhindert hatten. Leo Trotzki schlug mit der roten Armee die anarchistische Bewegung nieder. Stalin als Machtpolitiker hatte wahrscheinlich aus dieser Erfahrung heraus die Ukraine "auf dem Kieker, weil die immer alles anders wollen".

    Irgendwie erinnert das an Nicholas Maduro, der das System Chavez entkernte zu stalinartiger purer Machtpolitik. Eine Hungersnot kam so auch über Venezuela. Man könnte Maduro also nun auch Völkermord vorwerfen.

    Was aber eine Übertreibung ist ist die Tatsache, dass der Bundestag in einer Entschließung den Holodomor als Vökermord anerkennen will. Diese Entschließung wäre aber ebenso absolut wertlos wie die entsprechende Entschließung über die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern, denn:

    Deutschland darf sich seit 1945 nie wieder über andere Völker erheben.

    Das heißt ganz konkret: Der Deutsche Bundestag muss zunächst SÄMTLICHE im Namen Deutschlands begangenen Völkermorde als solche offiziell anerkennen, also auch den an Herero und Nama sowie ähnliche Vorfälle in anderen Ex-Kolonien.

    Ohne diese Selbstbezichtigung sind die Völkermord-Entschließungen des Deutschen Bundestages ihr Papier nicht wert, denn die eigenen Völkermorde nicht zugeben, aber andere Länder dessen bezichtigen, dieses absolute Fehlverhalten muss die deutsche Politik und allen voran der Deutsche Bundestag nun bitte endlich berichtigen.

    • @Uwe Kulick:

      Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn sich Deutschland im Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine "über Russland erhebt", also klar und deutlich sagt, dass hier Russland der allein Schuldige an einem verbrecherischen Angriffskrieg ist.

    • @Uwe Kulick:

      Der Massenmord an den Herero wurde anerkannt von Deutschland und es befindet sich eine Entschädigung in Arbeit. Ich wüsste auch nicht das Deutschland die Brutalität in seinen Kolonien leugnet.

      "Deutschland darf sich seit 1945 nie wieder über andere Völker erheben." Das tut es nicht wenn es die Wahrheit ausspricht. Es fordert ja keine Konsequenzen sondern erkennt schlichtweg das Leid an.

      • @Machiavelli:

        @MACHIIAVELLI, das ist ja eine macchiavellische Antwort, die ausblendet, dass explizite Entschließungen des deutschen Bundestages zum Herero-und-Nama-Massenmord nicht den Tatbestand des Völkermordes anerkannt haben. Das ist z.B. gegenüber der Türkei höchstallersuperhochnotpeinlich, weil der Bundestag sich angemaßt hat, einen türkischen Völkermord an Armeniern per Entschließung anzuerkennen, einen deutschen Völkermord an Herero und Nama aber nicht.

        Was auf Regierungsebene an Abkommen mit der namibischen Regierung beschlossen wurde, ist nicht Sache des Bundestages, obwohl es da besser aufgehoben wäre, da es um Versöhnung von Völkern geht, und das sollten die Volksverteter beschließen. Es scheint auch eine Mogelpackung darin zu stecken, siehe dserver.bundestag....20/032/2003236.pdf

        Der Bundestag ist unser Gesetzgeber, und konservative Kräfte im Bundestag fürchten bei Verwendung der Begriffe Völkermord und Genozid Reparationsforderungen, haben also Angst davor, Recht in Gesetzesform zu setzen, Recht, wem Recht gebührt. das ist eigentlich deren Arbeit. Da hat man schon einen Riesenbundestag und lässt die Gesetze und Verordnungen immer noch die Ministerien machen.

        Eine Entschließung des Bundestages zur Anerkennung des Völkermordes an Herero und Nama würde also eine wichtige Übung unserer Abgeordneten in Demokratie sein, dem Parlamente würdig! Win-Win so zu sagen, der Bundestag und die betroffenen Völker im südwestlichen Afrika gewönnen an Würde zurück!