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Deutsche Kolonialvergangenheit in AfrikaErbärmliche Gesten

Gastkommentar von Henning Melber

Deutschland wird von der kolonialen Erblast und der eigenen Gewaltgeschichte eingeholt. Das deutsche Wesen bedarf endlich einer Genesung.

Foto: ullstein/picture alliance

Verdammt seien die Deutschen! Gott! Ich flehe dich an, höre meinen letzten Willen, dass dieser Boden niemals mehr von Deutschen betreten werde!“ Dies waren am 8. August 1914 einem Augenzeugen zufolge die letzten Worte von Rudolf Manga Bell, bevor er gemeinsam mit seinem Vertrauten Adolf Ngoso Din gehängt wurde.

Die deutschen Henker benötigten keine Übersetzung. Manga Bell hatte als Spross der kamerunischen Königsfamilie Douala Manga Bell, deren Oberhaupt er 1908 wurde, zwischen 1891 und 1897 die Lateinschule im schwäbischen Aalen, danach das Gymnasium in Ulm besucht und zahlreiche Freundschaften mit Einheimischen geschlossen.

Das Todesurteil wegen Hochverrats war in einem Pseudo-Verfahren vom Bezirksgericht Duala im „Schutzgebiet“ Kamerun binnen weniger Stunden tags zuvor verhängt worden. Der im wahrsten Sinn kurze Prozess sprach deutscher Rechtsprechung Hohn. Nicht nur basierte die Anklage auf erfundenen Behauptungen. Auch war den prominenten Anwälten der Angeklagten – den sozial­demokratischen Reichstagsabgeordneten Hugo Haase und Paul Levi (auch Anwalt Rosa Luxemburgs) – die Teilnahme am Verfahren verwehrt.

Der Skandal war Teil der kolonialen Willkürherrschaft des deutschen Kaiserreichs in Kamerun. Diese brach die dem Volk der Duala im „Schutzvertrag“ von 1884 gemachten Zusicherungen und beraubte sie ihrer garantierten Existenzgrundlage. Rudolf Manga Bell wurde von den Duala-Gemeinschaften mit der Wahrnehmung deren Interessen beauftragt.

Im Unterschied zu den meisten antikolonialen Widerstandsformen jener Zeit vertraute er dem von ihm geschätzten deutschen Rechtssystem. Er verfasste Beschwerdebriefe und Eingaben an staatliche Behörden und den Reichstag und entsandte Adolf Ngoso Din als Emissär nach Deutschland. Im Mai 1914 wurden beide verhaftet. Der Beginn des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 1914 verhinderte nicht deren mit einem Scheinprozess bemäntelte Exekution. Der Befund eines Justizmords durch Paul Levi war eindeutig. Inzwischen sind die Fakten auch in der deutschen Öffentlichkeit verbreitet und zugänglich. Sie könnten als Allgemeinwissen gelten – so denn jemand darum wissen möchte.

Die Urenkelin eines von den Deutschen hingerichteten Justizopfers hält sich gerade in Deutschland auf

Aber selbst solches Wissen bedeutet nicht, sich um begangenes Unrecht zu kümmern. Dabei stellt der Koalitionsvertrag der Ampelregierung fest: „Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden.“ Immerhin wird damit eingeräumt, dass es diese gibt. Sie manifestieren sich auch in der Passivität, koloniales Unrecht da rückgängig zu machen, wo es zumindest als ein symbolischer Akt möglich wäre.

Im Falle von Manga Bell und Ngoso Din fragte schon im November 2014 der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele die Bundesregierung, weshalb die beiden Opfer nicht rehabilitiert würden. Damals antwortete Michael Roth als Staatsminister im Auswärtigen Amt, eine entsprechende Forderung der Duala würde es bislang nicht geben – als ob es dieser bedarf.

Rehabilitierung gefordert

Seit Beginn dieses Jahres zirkuliert eine Petition, die diese Rehabilitierung fordert. Zu deren Initiatoren gehört mit Prinzessin Marilyn Douala Bell eine Urenkelin und mit Jean-Pierre Félix Eyoum ein Großneffe des Hingerichteten. Letzterer lebt als Lehrer in Deutschland, Prinzessin Marilyn leitet in Kameruns Hauptstadt das Kunstzentrum Doual’art.

Sie wurde 2021 mit der Goethe-Medaille „für die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in Kamerun und für den gesellschaftlichen Dialog über die Auswirkungen des Kolonialismus“ geehrt. Als Gast des Goethe-Instituts hält sie sich die letzte Mai-Woche in Berlin und Hamburg auf.

Ihren Besuch nahm die Abgeordnete Sevim Dağdelen (Die Linke) die geforderte Rehabilitierung zum Anlass für eine Kleine Anfrage. Die Antwort der Bundesregierung ist ernüchternd. Auf die Frage, ob es, wie seinerzeit von Michael Roth zugesagt, ein Gespräch mit dem Außenminister über den Umgang mit einer Bitte um Entschuldigung und Vergebung gegeben habe, heißt es lapidar: „Nachweise über ein Gespräch im Sinne der Fragestellung sind den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen“.

Die Bundesregierung bestätigt, dass ihr die Petition und die Rolle von Prinzessin Marilyn bekannt ist. Doch bleibt unter Verweis auf „durchaus sensible Identitätsfragen in den Nachfolgegesellschaften“ eine verbindliche Reaktion dazu aus.

Größenwahn per Humboldt Forum

Nach über einem Jahrhundert an Amnesie grenzender Verdrängungsleistung wird Deutschland von der kolonialen Erblast eingeholt. Dazu tragen nicht nur zahlreiche postkoloniale Initia­tiven und afrodeutsche Stimmen bei. Auch an Geschichtsklitterung grenzende größenwahnsinnige Projekte wie das Berliner Humboldt Forum haben eine Diskussion ausgelöst, die für das lange mit Gedächtnisschwund behaftete Kapitel deutscher Gewaltgeschichte in Übersee sensibilisiert.

Das 2015 erfolgte Eingeständnis, dass die kaiserlichen „Schutztruppen“ (welch Euphemismus!) in „Deutsch Südwestafrika“ den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts verübten, machte einige Kolonialgräuel einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im Mai 2021 wurde von den Sonderbeauftragten Deutschlands und Namibias eine zum „Versöhnungsabkommen“ stilisierte Übereinkunft paraphiert.

Darin wird gerade mal ein Siebtel der veranschlagten Baukosten von Stuttgart 21 als Entschädigung für die strukturellen Konsequenzen dieser kolonialen Zerstörung lokaler Gemeinschaften angeboten. Diese erbärmliche Geste grenzt an eine Beleidigung der Nachfahren der damaligen Opfer und ist einer mehrerer Gründe, weshalb die namibische Regierung das Dokument noch immer nicht ratifiziert hat.

Nein, am deutschen Wesen ist die Welt nicht genesen. Vielmehr bedarf das deutsche Wesen weiterhin der Genesung – gerade wenn es um einen halbwegs aufrichtigen und adäquaten Umgang mit seiner kolonialen Gewaltgeschichte geht.

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36 Kommentare

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  • >> Die moderne nationale Identität der Deutschen beginnt meist bei der Weimarer Republik und dem Ende des Ersten Weltkrieges.

    • @Francesco:

      Hm, "nationale Identität" ist ein schwieriges Thema.

      Selbst wenn man von "kultureller Identität" der Deutschen redet, lässt sich keine klar abgrenzbare Definition fassen, weil die deutsche Kultur erstens eine gewisse regionale Diversität umfasst, zweitens aber auch historisch stetig Veränderungen durchgemacht hat.

      Darum geht es aber eigentlich gar nicht. Es geht um die postkoloniale Reparationsfrage, also um die Frage, was Deutschland den ehemaligen Kolonien, die es einst ausgebeutet hat, zurückgeben kann. Ich würde sagen: Es ist viel mehr möglich. Deutschland ist ein reiches Land.

      • @Ein alter Kauz:

        Es kann doch nicht so schwer sein mit den Reparationen, wenn man Großbritannien mit in das Boot holt und sich die Kosten teilt. Jeder nach Anzahl der Jahre in denen die Kolonialmächte die Staaten ausgebeutet haben, oder nach Anzahl der Sklaven die nach Südamerika verschleppt wurden.

  • Nach Manga Bell wurden Straßen benannt, die Urenkelin wurde geehrt, wie es im Artikel heißt. Ist das nichts wert?

  • Ja, schwingt die Geisel bis der Rücken blutig ist. Vielleicht ist das ja typisch deutsch.

    Das "deutsche Wesen".... als ob noch jemand an diesen Sch der Vergangenheit glaubt. Wir ziehen ja auch nicht mehr mit "Gott mit uns" auf der Gürtelschnalle in den Krieg.

    Heutzutage gibt es ganz andere Probleme - z.B. Neonazis! Mit den Sünden der Vergangenheit im Falle Namibia hat das konkret eher wenig zu tun.

    Ich denke, da wird journalistisch wieder einmal etwas hochgepusht. Passt ja prima in die Raubkunstdebatte oder ist Folge davon.



    Natürlich war es Unrecht, was damals in Namibia passierte. Aber das trifft doch für alle Kolonialmächte zu. Die Deutschen waren nicht die Schlimmsten. Leopold der II war der Schlimmste von allen.



    Wo soll man anfangen? Bei den Sklavenhändlern, bei den Kreuzzügen?

    • @cuba libre:

      "Aber das trifft doch für alle Kolonialmächte zu. Die Deutschen waren nicht die Schlimmsten. Leopold der II war der Schlimmste von allen."



      Schade, so eine Relativierung von Ihnen zu lesen. Hier geht es um Deutsche Kolonialismus nicht um andere Länder. Als solcher sollte dieser auch kritisiert werden wie auch der Umgang damit.



      Also zu meiner Schulzeit in Westdeutschland wurde über "Entdeckungen", Kaiserreich unkritisch, verharmlosend und verschweigend berichtet.



      Die Kaiserzeit ist durchaus wichtig für deutsche Nationalerzählung und wenn bspw. bloß auf die relativierende Weise, die auch Sie hier zum besten gegeben haben. An der Nationalerzählung knüpft dann auch Verharmlosung und Negierung von Rassismus an. Schwarze Deutsche dürfen heutzutage dann immer noch so einen verletzenden Unsinn ertragen, den sie in Schule zu hören bekommen, in Zeitungen vorgesetzt bekommen. Und weiße Deutsche ja auch, von denen das einige dann noch unreflektiert übernehmen.

    • @cuba libre:

      Man könnte Anfangen den Rassismus in Kuba gegen die Afrokubaner nach der Revolution aufzuarbeiten. de.wikipedia.org/w...ach_der_Revolution

      • @Rudolf Fissner:

        Da haben sie recht! Castro war kein Heiliger und hat durchaus Fehler gemacht.



        Allerdings würde ich eher in anderen die Priorität setzen.

  • Es gibt aktuell eine Ausstellung zu Manga Bell in Hamburg: markk-hamburg.de/a...ungen/hey-hamburg/

  • „Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden.“

    An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!

  • Der Artikel enthält zwei Begriffe, die das Problem des Autors verdeutlichen:



    „Urenkelin“ und „Großneffe“.

    Dabei ist Marilyn Douala Bell selbst bereits 65 Jahre alt. Jean-Pierre Félix Eyoum wird in anderen Medien gar als „Urgroßneffe“ bezeichnet.

    Die starke nationale Identität, die sich Herr Melber wünscht, hat in Deutschland kaum jemand.

    „Wir“ sind nicht Kaiserreich.

    Deshalb fallen die Reichsbürger_innen ja so auf und gelten als bizarr.

    Die moderne nationale Identität der Deutschen beginnt meist bei der Weimarer Republik und dem Ende des Ersten Weltkrieges.

    Alles davor ist historisch.

    Irgendwo zwischen Bismarck und der Schlacht im Teutoburger Wald.

    Man kann sich dafür interessieren, aber es ist nicht identitätsstiftend.

    Die Hinrichtung von Rudolf Manga Bell und Adolf Ngoso Din ist ein Justizmord, keine Frage.

    Geraubte Kunstschätze sollen zurückgegeben werden, Entschädigungen sollen gezahlt werden. (Gerne auch vom Privateigentum der Hohenzollern.)

    Eine Erblast sehe ich nicht. Deshalb muss ich auch nichts verdrängen.

    Dazu fehlt es mir schlicht am nationalistischen Denken.

    Eine Rehabilitierung der Opfer von Justizverbrechen aus der Kaiserzeit durch die Bundesrepublik Deutschland heute wirkt deshalb auf mich skurril.

    Kann man machen, da man es manchen Menschen in Kamerun offensichtlich viel bedeutet.

    In Kamerun ist man anscheinend nationalistischer, was ich nicht kritisieren möchte.

    Aber vom Verdrängen einer Erblast zu reden, passt nicht.

    • @rero:

      Beziffern kann ich es nicht, aber ich würde doch davon ausgehen, dass ein gewisser Teil des heutigen Wohlstandes Deutschlands seine Ursache darin hat, dass Deutschland früher Kolonien ausgebeutet hat und auch heute noch in einer global entfesselten Marktwirtschaft eher den Ton angibt als Länder wie Kamerun. Wohlstand wird vererbt, auch Wohlstand, der durch Ausbeutung zustande gekommen ist. Und wenn die Erben sich weigern, etwas zurückzugeben, erben sie auch Schuld.

      Also: Der Ausdruck "Erblast" passt.

    • @rero:

      So ein Quatsch, die viel ältere Weimarer Klassik darf noch immer als identitätsstiftend herhalten. Außerdem liegt doch klar auf der Hand, dass lediglich die Gnade der Geburt als Mädchen Frau Merkel mit ihrer langen Amtszeit die Bismark-Vergleiche erspart hat - see Kohl.



      By the way, die heutige Regierungspartei SPD erlebte ihre wesentliche Konsolidierungsphase als Partei in der Kaiserzeit und na ja Liberalismus und Lebensreform traten kaum in Gestalt von FDP und grüner Partei auf - doch wären diese Regierungsparteien würden wir ihre Vorläufer vergessen wohl um einen wesentlichen Teil ihrer Wurzeln beschnitten ...

      So ist das nun mal und das bestreitet auch niemand, nur an die wirklich hässlichen Ereignisse der deutschen Geschichte (hier Kolonialgeschichte) erinnern sich die Leut` halt nicht so gerne.

      Diese einseitige Erinnerung ist nichts als durchsichtige Schuldabwehr. Hast du´s nicht gesehen? Dann empfehle ich Augen auf, Klappe zu ... aber vielleicht bist du ja ein Strategietiger. Da muss ich dann leider sagen du bastelst dir ein brutal verkürztes Geschichtsbild zurecht um dir deinen eigenen Nationalismus sauber zu quatschen.



      Deine Strategie versagt leider moralisch und argumentativ.

    • @rero:

      "Kann man machen, da man es manchen Menschen in Kamerun offensichtlich viel bedeutet."



      Ich denke das der überwiegende Großteil der Menschen in Kamerun aktuell ganz andere Probleme und Interessen hat ,als vor der über 100 Jahren verübte Justizmord an zwei Mitgliedern der damaligen (Adels)Elite eines Teilvolkes des heutigen Kameruns.



      Auf deutsche Verhältnisse übertragen ist das so ähnlich interessant für die Mehrheit, wie der Versuch der Hohenzollernfamilie das vor Generationen an ihren Vorfahren verübte Unrecht der Enteignung diverser Wertgegenstände und Immobilien rückgängig zu machen oder wenigstens zu entschädigen.

    • @rero:

      Die Kolonialzeit, die Kaiserzeit, der 1. Weltkrieg, die Weimarer Republikund der 2. Weltkrieg hängen für mich als deutschsprechend sozialisierte Person zusammen. Diese Zusammanehänge zu untersuchen ist ein legitimes Identifikationsangebot für alle Bürger*innen. Rudolf Manga Bell hat sich sehr stark mit dem deutschen System identifiziert und seine Zuverlässigkeit geglaubt. Mich berührt das. Das ist eben gerade nicht nationalistisch (und Bell auch nicht). Wie war der deutsche Kolonialismus möglich? Was unterscheidet ihn von anderen Kolonialismen? Wird er dadurch ,,besser''? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen ist für mich identitätstiftend, besonders aber friedensbewahrend (und - einfordernd), gerechtigkeitsbewahrend (und -einfordernd) und



      demokratisch. Wenn Rudolf Manga Bell schon an die Gerechtigkeit deutsche Institutionen glaubte, ist das für mich eher ein Ansporn, einzufordern und zu kämpfen. ,,Nationalistisches Denken" ist kein Beweggrund dieses Kampfes und die Unterstellung desselben zeugt vielleicht selbst von subtilem Nationalismus, auch wenn man sich davon ja gerade freisprechen will?!

      • @gleicher als verschieden:

        Eine Literaturempfehlung habe ich noch für Sie: Ernest Gellner.

        Er war der Erste, der mir im Hauptstudium erklären konnte, was eine Nation sein soll.

        Er erklärt es nämlich nicht von innen heraus.

        Leider gibt es ihn meines Wissens nur noch antiquarisch.

        Sehr schade.

  • Deutschland ist Meister darin, Gedenktage mit getragenen Reden, getragener Musik und Kerzenschein zu zelebrieren. Gesenkte Häupter murmeln das in vielen Fällen nur wohlfeile „Nie wieder“ und faseln, dass die Toten „uns mahnen“. Um die lebenden Nachkommen in irgendeiner Form zu unterstützen, ist dann nichts mehr übrig: weder Empathie noch Aufarbeitung, geschweige denn Geld. Aber was erwartet man von einer Gesellschaft, die sich empört, wenn man sachlich auf ihre rassistischen und antisemitischen Auswüchse aufmerksam macht? Aufarbeitung ist in Deutschland vor allem eins: eine weitgehend leere Worthülse.

    • @Markus Wendt:

      ... jupp, und wird für Symbolpolitik zur Imageaufbesserung/-bewahrung instrumentalisiert, damit Deutschland nach rassistischen Morden vor ausländischen Medien und Politiker*innen nicht als Land mit Nazi-Problemen dasteht.

  • "Das deutsche Wesen bedarf endlich einer Genesung."

    Wer solche Sätze ernsthaft schreibt denkt in Kategorien von Erbsünde, Kollektivschuld, Sippenhaft und Vendetta.

    Das Ganze ist Geschichte.

    • @DiMa:

      Das ganze ist Geschichte, ja, aber Geschichte wirkt nach.

      Wenn Ihnen jemand Ihr Fahrrad klaut und der Bestohlene will's am nächsten Tag wieder haben, kann der Dieb sich mit dem Argument rausreden, das sei doch Vergangenheit? Oder soll er nicht doch lieber das Fahrrad zurückgeben, bevor er verlangt, dass die Sache vergeben und vergessen ist?

    • @DiMa:

      Nun, der Umgang damit ist ganz und gar nicht Geschichte, wie auch in obigem Gastkommentar ausgeführt wird.

    • @DiMa:

      "Erbsünde, Kollektivschuld, Sippenhaft und Vendetta" ist es wenn ein Individuum für Verbrechen, die es nicht begangen hat, seinen Kopf hinhalten muss.

      Das ist etwas völlig anderes als öffentliches Gedenken, Erinnerungskultur, Aufarbeitung von Geschichte und Schadenserzatzzahlungen.

      Völlig anders!

    • @DiMa:

      Trotzdem muss eine klare Darstellung der Kolonialgeschichte und Rückgabe der geraubten Kunstwerke sowie auch Reparation durchgeführt werden.

      • @aujau:

        Reparation durch Entwicklungshilfe und Personenfreizügigkeit zwischen ehemaliger Kolonie und ehemaliger Kolonialmacht wäre eine Maßnahme.

        Was Kunstwerke betrifft, muss man Provenienzforschung betreiben. Viele sind geraubt worden, andere womöglich auf moralisch vertretbare Weise nach Europa gelangt. Das ist im Einzelfall zu klären. Mit geraubten Kunstwerken kann man den Leuten ein Stück ihres kulturhistorischen Erbes zurückgeben. Vermutlich wissen sie das aber auch erst dann zu schätzen, wenn dringendere Bedürfnisse zuerst gedeckt sind: Nahrung, Bildung, finanzielle Sicherheit. Diese Bedürfnisse müssen also bei postkolonialer Reparation die oberste Priorität haben. Ansonsten wäre die Rückgabe von Kunstwerken im wesentlichen Symbolpolitik, von der allenfalls ein paar privilegierte Leute im betroffenen Land etwas hätten.

    • @DiMa:

      Korrekt!

  • Das Wort "postkolonial" lasst mich zusammenzucken. Der Kolonialismus dauert an; er hatte begonnen, lange bevor seine Protagonisten offiziell Kolonien in Besitz nahmen, und die nominelle Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien hat das System nur mit Feigenblättern versehen. Afrika ist reich, aber dieser Reichtum wird noch immer gestohlen, noch immer werden afrikanische Menschen, auch Kinder, versklavt, wenn auch nun meist in Afrika selbst. Aufarbeitung der Vergangenheit ist wichtig, aber darf weder von der Gegenwart ablenken noch zu einem Absolutionsritual werden. Die Schuld Toter ist nicht unsere, aber an der gegenwärtigen Ausbeutung sind wir beteiligt.

    • @BUBU:

      " auch Kinder, versklavt, wenn auch nun meist in Afrika selbst"



      Also, Sie können doch jetzt den Deutschen nicht ihre Schokolade miesmachen! /Sarkasmus/



      Als Ergänzung: Kindersklaverei im Kakaoanbau ist seit vielen Jahren bekannt. Verändert hat sich so gut wie nichts. Siehe auch:



      "Kakaobauern in Armut : Schokolade bleibt ein bitteres Geschäft"



      www.zdf.de/nachric...ern-armut-100.html



      Schokolade - Das bittere Geschäft (ZDF-Info Dokumentation)



      "Sklaven- und Kinderarbeit auf illegalen Kakaoplantagen sowie die Vernichtung von Regenwäldern: Die Rohware Kakao wird unter den Augen großer Konzerne wie Nestlé, Cargill oder Ferrero unter fragwürdigsten Bedingungen produziert. Besonders im Fokus: die Elfenbeinküste ..."



      www.zdf.de/dokumen...geschaeft-100.html

    • @BUBU:

      Genau das beschreibt der Begriff postkolonial.

      • @Jesus:

        "Post" heißt nämlich im Lateinischen "nach". Worauf Bubu, so wie ich's verstehe, mit der Kritik am Begriff "Postkolonialismus" abzielt, ist, dass wir nicht wirklich "nach" dem Kolonialismus leben, weil die Misstände weiter bestehen.

        Dem könnte man entgegen halten, dass der lateinische Begriff "colonia" von "colonus" abgeleitet ist, das heißt "Siedler". Kolonialismus im wortwörtlichen Sinne ist also eine Siedlungsbewegung. Und nicht jede Form der Ausbeutung fremder Gebiete geht mit Siedlungsbewegungen einher. Die Siedlungsbewegungen sind vielerorts vorbei, sodass fortdauernde Ausbeutungsprozesse nicht mehr als "kolonial" bezeichnet werden können, sondern im Wortsinne als "postkolonial", weil sie chronologisch nach der Siedlungsbewegung geschehen.

        Ich weiß natürlich nicht, ob die, die den Begriff "Postkolonialismus" geprägt haben, so weit gedacht haben. Vermutlich ging es denen eher darum, eine Zeit zu benennen, in der die klare politische Abhängigkeit betroffener Gebiete von jeweils einem bestimmten Besatzerstaat nicht mehr der Form gegeben ist wie im klassischen neuzeitlichen Kolonialismus. Man hat zwar immer noch Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse, aber die sind komplexer: Es ist nicht mehr EIN bestimmtes Mutterland, das das betroffene Gebiet offen beherrscht und ausbeutet. Das Unrecht dauert an, die Organisationsform hat sich gewandelt.

  • Leider geht es in diesen Fällen meist nicht um "Gesten", sondern um möglichst hohe Entschädigunszahlungen. Die Summe muß nur entsprechend hoch sein, dann wird aus einer "Unverschämtheit" eine "Geste der Versöhnung"

  • Die deutsche Kolonialgeschichte war die kürzeste der europäischen Mächte.



    Natürlich sollte aufgearbeitet werden und eine Lösung mit den Opferfamilien gesucht werden. Aber neue Schuldkomplexe in Deutschland aufzubauen dürfte in der Bevölkerung das Gegenteil von dem bewirken, was man erreichen möchte und könnte, nämlich eine faire Auseinandersetzung !

    • @Barthelmes Peter:

      Faire Auseinandersetzung, das wäre was! Wie wäre es damit aufzuhören, eine Thematisierung deutschen Kolonialismus mit dem Satz einzuleiten, dass "Die deutsche Kolonialgeschichte [...] die kürzeste der europäischen Mächte [war]."? Zur Besprechung von Rassismus und dessen Kontinuitäten ist das nicht gerade hilfreich.

    • @Barthelmes Peter:

      Die Länge der Kolonialgeschichte ist jetzt genau was für ein Argument für oder gegen was noch mal?

      Hätten die Deutschen nur ein Jahr Shoah durchgezogen, wäre das dann auch nicht ganz so schlimm wie 12?

      • @Bouncereset:

        "Hätten die Deutschen nur ein Jahr Shoah durchgezogen, wäre das dann auch nicht ganz so schlimm wie 12?"



        Die Anzahl der Ermordeten wäre jedenfalls geringer. Ich denke das das schon einen Unterschied ausmacht.

  • Deutsche Untaten werden gerne in abstrakten Schuldbekenntinisblasen isoliert und dann als politischer Fetisch in überwiegend selbstbezogenen Ritualen kultiviert.



    Um die tatsächlichen direkten und indirekten Opfer geht es dabei meist nur am Rande.

    Wichtiger als Schuldrituale und Gesten wären daher Taten, die es wirklich besser machen.



    Aber Courage und Großmut zu zeigen, scheint das offizielle Deutschland einfach nicht hinzukriegen- weder in Afrika noch in der Ukraine.

    • @Sebastian1341:

      Das würde ja auch etwas kosten.

      Schuldrituale kosten gar nichts, außer ein bissel Zeit. Stolz haben die deutschen Politiker eh nicht, von daher ist das die perfekte Lösung für solcherlei historische Hinterlassenschaften.

      Ist natürlich erbärmlich, aber wenn man sich so den gesellschaftlichen Gesamtzustand anschaut sollte es nicht wundern, das für Kolonialopfer auch nichts anderes als warme Worte übrig sind. Und teilweise nicht mal das, irgendwie muss sich die heimische Bevölkerung ja besser behandelt fühlen.