Israelisch-Palästinensische Gesellschaft: „Wir teilen den gleichen Schmerz“
Am Yom HaZikaron gedenkt Israel seiner getöteten Bürger:innen, Palästinenser:innen bleiben außen vor. Ein alternativer Gedenktag gibt beiden Seiten Raum zum Trauern.
A ls Layla Alscheichs Baby Qusay im Jahr 2004 durch Tränengas der israelischen Armee starb, hatte sie noch in der gleichen Nacht einen Traum. Qusay flog als weiße Taube zu ihr und ließ sich auf ihre Schulter nieder. „Wein nicht, Mama“, sagte er: „Ich bin glücklich.“ Damals verstand sie nur, dass es ihrem Sohn gut ging, erzählt Alscheich. „Die wirkliche Bedeutung verstand ich nicht.“ Hätte man ihr damals gesagt, dass sie 18 Jahre später gemeinsam mit Israelis eine palästinensisch-israelische Gedenkveranstaltung organisieren würde, in der der Opfer beider Seiten des Konflikts gedacht wird – sie hätte es kaum geglaubt.
In Israel ist für palästinensische Getötete am sogenannten Yom HaZikaron, dem „Gedenktag für die gefallenen Soldaten der israelischen Kriege und Opfer des Terrorismus“ kein Platz. In diesem Jahr findet er vom 3. auf den 4. Mai statt.
Seit seiner Einführung im Jahr 1963 ertönt am Vorabend und am Morgen des Yom HaZikaron eine Sirene und bringt das Leben für eine Zeit zum Erliegen, Autos auf den Straßen stehen still, Menschen bleiben stehen. Israelische Flaggen hängen auf Halbmast. Auf den Friedhöfen wird den Getöteten gedacht, hochrangige israelische Militärs besuchen nationale Gedenkveranstaltungen.
Doch eine Gruppe von Trauernden wählt einen anderen Weg, die „Joint Memorial Day Ceremony“ – eine palästinensisch-israelische Gedenkzeremonie, organisiert von den Combatants for Peace und dem Parents Circle Family Forum. Ihre Botschaft scheint simpel, ist aber in dem von Konflikten geprägten Landstrich vom Mittelmeer zum Jordan denkbar radikal: den Schmerz der anderen Seite zu sehen. Für Versöhnung zu kämpfen. Um darauf Frieden aufzubauen.
Robi Damelin hat ihren Sohn David verloren
Robi Damelin ist eine der Mitorganisator:innen. Mit mehr als 600 israelischen und palästinensischen Familien ist sie im Parents Circle organisiert. Sie alle haben gemeinsam, dass ein unmittelbares Familienmitglied im Konflikt zwischen den Palästinenser:innen und Israel getötet wurde.
Bei Damelin ist es ihr Sohn David. Sie hat die Geschichte ihres Sohnes schon oft erzählt, doch der Schmerz hinter ihrer Gefasstheit bleibt zu spüren. David war Philosophiestudent, Reserveoffizier – und Friedensaktivist. Er hatte, erzählt Damelin, gemeinsam mit anderen Offizieren einen offenen Brief unterschrieben, dass er nicht in den besetzten palästinensischen Gebieten dienen wolle. Doch dann wurde er zum Dienst aufgefordert, ausgerechnet an einem Checkpoint vor einer Siedlung in der Nähe von Ramallah.
Damelin erzählt von einem Gespräch, das sie mit ihrem hadernden Sohn geführt hatte. „Ich bin der Offizier, was wird mit meinen Soldat:innen sein, wenn ich nicht gehe?“, habe er sich und sie gefragt: „Wenn ich gehe, werde ich alle Menschen mit Würde behandeln und so werden es auch die Soldat:innen tun, die ich anführe.“ Er entschied sich, den Reservedienst anzutreten. Kurze Zeit später, im Jahr 2002, klopften drei Soldat:innen an Damelins Tür und erklärten ihr, dass ihr Sohn von einem palästinensischen Heckenschützen erschossen wurde. „Der Schmerz geht nicht weg“, erklärt die heute 78-Jährige: „Er bleibt dein ganzes Leben.“
Für sie war schnell klar, dass sie etwas unternehmen wollte, um anderen Müttern zu ersparen, das gleiche fühlen zu müssen – sich für Frieden einzusetzen. Wenige Monate nach dem Tod ihres Sohnes ging sie zum ersten Mal zu einem Treffen des Parents Circle.
Layla Alscheich hat ihren Sohn Qusay verloren
„Als ich am Tisch saß und in die Augen der palästinensischen Mütter geblickt habe, ist mir klargeworden, dass wir den gleichen Schmerz teilen. Und dass die Tränen, die ins Grab fallen, die gleiche Farbe haben.“ Es sind Sätze, die man immer wieder hört, wenn man mit Menschen des Parents Circle spricht. Auch von Layla Alscheich, die ihren Sohn Qusay verloren hat. Bei ihr dauerte es länger als bei Damelin, bis sie der anderen Seite ins Gesicht sehen konnte.
Seit der Nacht im Jahr 2004, als sie von der Schnappatmung ihres sechs Monate jungen Babys Qusay aufwachte, wollte sie nichts mit Israelis zu tun haben. Qusay hatte Tränengas eingeatmet, das die israelische Armee am Abend zuvor in den Garten der Familie in Batir nahe Bethlehem gesprüht hatte.
Sie und ihr Mann wollten mit ihrem Sohn ins Krankenhaus nach Bethlehem eilen, doch der Checkpoint war geschlossen. Die israelischen Soldat:innen ließen die Familie nicht durch. Sie schwenkten um nach Hebron, doch auch auf dem Weg dorthin ließen israelische Soldat:innen sie nicht durch. Alscheich hielt ihren nur noch schwer atmenden Sohn in ihren Armen, bettelte und flehte. Die Situation ihres Sohnes verschlimmerte sich, doch die israelischen Soldat:innen hätten gelacht, erinnert sie sich.
Als diese sie nach vier Stunden schließlich passieren ließen und Alscheich und ihr Mann mit dem gemeinsamen Sohn im Krankenhaus ankamen, sagte der Arzt, dass es zu spät sei. Der kleine Qusay starb im Krankenhaus. „Als ich ihn auf die Wange küsste, wie ich es sonst immer tat“, erzählt Alscheich, „fühlte er sich an wie ein gefrorener Stein.“
Im Parents Circle geht es auch um die unterschiedlichen Lebensumstände
„Sechzehn Jahre lang war ich davon überzeugt, dass alle Israelis am Tod meines Sohnes schuld sind“, berichtet die 44-Jährige. Bis sie eines Tages einen Freund zu einem Treffen des Parents Circle begleitet. Sie wollte aufstehen und gehen, als die israelischen Teilnehmenden den Raum betraten. Geschockt sah sie, wie sich Palästinenser:innen und Israelis zur Begrüßung umarmten – und beschloss zu bleiben: um zu verstehen, was sie so nah zueinander brachte. „Als sie ihre eigenen Geschichten erzählten, sah ich die Israelis zum ersten Mal als Menschen“, erklärt Alscheich. „Wir teilen den gleichen Schmerz und die gleichen Tränen. Auch wenn wir unter völlig unterschiedlichen Umständen leben.“
In den Projekten und Treffen des Parents Circle geht es um die gemeinsame Trauer, aber auch um die unterschiedlichen Lebensumstände – wie auch nicht, wenn Leben und Politik so eng miteinander verwoben sind wie bei den beteiligten Familien. „Wir sprechen über alles“, so Alscheich: „Über die Besatzung, über Checkpoints, über Hausdurchsuchungen durch das israelische Militär mitten in der Nacht. Und genauso höre ich von Israelis, wie sie manchmal Angst haben, durch die Straße zu laufen, weil sie fürchten, jemand könnte sich neben ihnen in die Luft jagen.“
Weil zu Beginn der Planung nicht klar war, ob die Coronapandemie ein gemeinsames Treffen zulassen wird, gibt es in diesem, wie im letzten Jahr, eine Liveschaltung nach Beit Jala, einer Kleinstadt im Westjordanland zwischen Bethlehem und Jerusalem. Alscheich organisiert die Gedenkzeremonie dort.
Der Yom HaZikaron ist ein israelischer Gedenktag. Die palästinensische Seite könnte den Tag ignorieren, doch Alscheich ist davon überzeugt, dass die gemeinsame palästinensisch-israelische Zeremonie eine Chance ist: „Es ist so wichtig, Menschen auf der ganzen Welt diese Botschaft zu vermitteln. Wenn wir, die wir unsere Kinder oder Familienmitglieder verloren haben, Seite an Seite stehen, dann ist alles möglich. Dann ist auch Frieden möglich.“
Rechte Israelis demonstrieren heftig gegen die Gedenkfeier
Wie radikal diese Botschaft ist, merkt man an dem Gegenwind, den die Zeremonie erfährt. Immer wieder haben die Organisator:innen in Israel Probleme, einen Veranstaltungsort zu finden, weil kaum jemand bereit ist, ihnen einen Raum dafür zu vermieten.
Damelin erhielt wegen ihres Engagements im Parents Circle Drohungen, sie erinnert sich an in Israelfahnen eingewickelte Gegendemonstrierende, die mit Urin gefüllte Beutel auf Teilnehmende der Zeremonie warfen, sie jagten.
Itamar Ben Gvir, ein rechtsextremes Mitglied des israelischen Parlaments, verhindert regelmäßig, dass Mitglieder des Parents Circle in Schulen sprechen können. Der Ort, an dem die Zeremonie stattfinden wird, wird bis kurz vor ihrem Beginn geheimgehalten.
Doch gleichzeitig sieht Damelin, dass der Parents Circle immer mehr an Einfluss gewinnt. 2019, bevor die Pandemie die Livegedenkfeiern für zwei Jahre unterbrach, kamen 10.000 Besucher:innen zu der Veranstaltung nach Tel Aviv. Beim Zoom-Event 2021 schalteten sich 250.000 Menschen weltweit zu. „Es sind nicht nur Linke, die zu der Feier kommen. Viele von ihnen hören zum ersten Mal eine palästinensische Geschichte von Verlust und Trauer.“ Genau darum geht es ihr.
„Gott will mich hier, als Friedensstifterin“
In Beit Jala ist es im letzten Jahr ruhig geblieben, berichtet Alscheich. Aber auch dort sind die Organisator:innen vorsichtig, lassen nur hinein, wen sie kennen und wer eingeladen ist – gerade jetzt, da Alscheich fast täglich von durch israelische Sicherheitskräfte getötete Palästinenser:innen hört, Israelis bei Anschlägen sterben.
Alscheich und Damelin sind im Parents Circle Freundinnen geworden. „Eigentlich mehr als das“, ergänzt Alscheich, „Schwestern.“ In einigen Tagen werden die beiden gemeinsam zu einer Konferenz nach Italien reisen. Das Thema ist „Wiederherstellung von Gerechtigkeit“ – es geht um eine Alternative zu den bei Verbrechen gängigen gerichtlichen Strafverfahren. Stattdessen sollen Wiedergutmachung und eine aktive Rolle von Täter:innen und Opfern im Zentrum stehen.
Als Alscheich zum Parents Circle stieß und zur Friedensaktivistin wurde, verstand sie nach und nach die Botschaft ihres Traums von Qusay als weißer Taube. „Gott will mich hier, als Friedensstifterin“, erklärt sie: „Er wollte nicht, dass mein Sohn von mir geht, ohne dass ich etwas daraus mache.“
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