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Ideologische Logik hinter Putins KriegPutins Pest

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Der Krieg des russischen Präsidenten gegen die Ukraine ist von völkischem Denken motiviert, das die Rechte der eigenen Nation über die anderer erhebt.

Währen Putin die Ukraine angreifen lässt, besucht er eine Produktionsstätte des Raumfahrtprogramms Foto: Sergei Guneyev/Sputnik/ap

D ie Wiederkehr des 1. September 1939 mit anderen Teilnehmern. Stalins Begründung für den Einmarsch der Sowjetunion in Polen im selben Jahr. Der Angriff der Sowjets auf Finnland vom Herbst 1939. Der Überfall auf die Tschechoslowakei 1968, die Unterdrückung des Ungarn-Aufstands 1956. Jetzt, mitten im Krieg in Europa, werden die historischen Analogien bemüht. Diese Suche nach Vorbildern für das Verhalten der russischen Führung ist verständlich. Wenn wir uns schon das scheinbar irrationale Verhalten Putins nicht erklären können, so suchen wir nach Abziehbildern in der Vergangenheit, die uns vielleicht einen Hinweis darauf geben können, was sich dahinter verbergen mag und was er noch vorhaben könnte.

Ja, es existieren Parallelen – aber sie stammen allesamt aus anderen Epochen. Die Militäraktionen der Roten Armee nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem Machtbereich waren Ergebnis einer bipolaren Welt, in der jede der beiden Großmächte in ihrem Hinterhof tun und lassen konnte, was ihr beliebte. Das hoch gerüstete Gleichgewicht des Schreckens sorgte mit knapper Not dafür, dass ein dritter Weltkrieg vermieden werden konnte. Auf die kleineren Nationen aber nahm es keine Rücksicht. Wer sich im Machtbereich des sowjetischen Blocks befand, brauchte auf Hilfe nicht zu hoffen.

Noch weniger lässt sich das Verhalten Josef Stalins mit dem Wladimir Putins vergleichen. Ja, auch Stalin ging es um eine unbedingte Ausweitung seiner Macht, auch er nahm nicht die geringste Rücksicht auf die eigene Bevölkerung. Aber dahinter stand auch die Vorstellung eines anderen ideologischen Rahmens, genannt Kommunismus, dieser vorgebliche Weg zu immerwährendem Sonnenschein auf der Welt unter Führung einer Partei. Eine solche Ideologie gibt es nicht mehr – der Kapitalismus in Russland ist heute nur noch raubtierartiger und ungebremster als in der westlichen Welt.

Wenn es ein durchgängiges Motiv für das Verhalten der Moskauer Kriegstreiber gibt, dann ist es: der überbordende Nationalismus. Wenn der russische Präsident die Ukrainer abfällig als „Kleinrussen“ abqualifiziert, wenn er ihnen jegliche Nationalgeschichte außerhalb der Sowjetunion aberkennt und ihnen das Recht auf Eigenstaatlichkeit abspricht, dann agiert er als völkischer Denker, der die eigene Nation über andere erhebt. Zugleich sind seine Reden schallende Absagen an jegliche Vorstellung des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen. Putins Behauptung, der Feind müsste „denazifiziert“ werden, entspricht nicht einer militärischen Überlegung, er setzt den Gegner vielmehr mit dem Bösen gleich, das es zu vernichten gelte.

Diese Vorstellung gründet verkürzt gesagt auf dem Gedanken ethnisch „reiner Völker“, deren Lebensrecht über dem anderer Nationen stehe. Beispiele für dieses Denken sind mannigfaltig, und man muss dazu keineswegs nur das NS-Regime betrachten, dem angesichts seiner Vernichtungspolitik eine besondere Rolle in der Geschichte zukommt.

Eine „ethnische Reinheit“ strebten Griechen nach dem Ersten Weltkrieg ebenso an wie nationalistische Türken nach dem Zweiten Weltkrieg, sie fand sich in Reden gestandener Demokraten der Weimarer Republik ebenso wie unter polnischen Patrioten in der Zwischenkriegszeit.

Der Zerfall der alten bipolaren Weltordnung hat in den vergangenen 30 Jahren zu einer beispiellosen Rückbesinnung auf nationale Deutungsmuster in Osteuropa und auf dem Balkan geführt. Diese Entwicklung verwundert wenig, wenn man bedenkt, dass die vorgeblich „sozialistische“ Internationalisierung samt ihrer Bruderküsse in diesen Gesellschaften primär auf staatlichem Zwang beruhte und keineswegs dazu führte, alte Bruchlinien, Vorurteile und Ungleichgewichte zu beseitigen. Nicht in allen Fällen führte diese Renationalisierung zu einem aggressiven Verhalten gegenüber den Nachbarn.

Aber der Geist, der da wieder aus der Flasche kam, manifestiert sich heute im Bestreben serbischer Nationalisten nach Eigenstaatlichkeit im multikulturellen Bos­nien-Her­zego­wina. Er hat in Tschetschenien zu unfassbarem Leid geführt, in Moldau das Land faktisch geteilt, in Georgien Hass produziert und mit russischer Unterstützung eine Sezession ermöglicht. Und auch die Ukraine war keineswegs frei von nationalistischen Tendenzen wie der Diskriminierung der russischsprachigen Bewohner.

Doch diese nationalistischen Aktionen in Ost- und Südosteuropa waren und sind stets limitiert, weil die Macht ihrer Träger Grenzen besitzt. Sie haben dennoch viele Opfer verursacht und ganze Regionen für Menschen der „falschen“ ethnischen Gruppierung unbewohnbar gemacht. Die EU konnte deshalb lange an der Hoffnung festhalten, diese Exzesse irgendwie eindämmen zu können – mit Geld, guten Worten und gefährlichen Kompromissen.

Bei Russland ist das nicht möglich. Wladimir Putins völkisches Denken hat ihn zu einem Kriegsverbrecher gemacht. Seine fortgesetzten Lügen lassen jede Glaubwürdigkeit für mögliche weitere Gespräche vermissen. Die Lügen sorgen zudem dafür, dass über seine künftigen Ziele bleierne Ungewissheit besteht. Denn welche Garantie gibt es dafür, dass der Despot im Kreml nicht eines Tages auf die Idee verfällt, auch jene „Russen“ mit militärischen Mitteln zu „befreien“, die als Minderheit in Estland, Lettland oder Litauen leben, also innerhalb von Nato-Staaten?

Völkischer Nationalismus mitsamt seinen Unterarten Rassismus und Antisemitismus begleiten Europa seit über hundert Jahren. Wir haben lange geglaubt, diese Pest eingehegt zu haben. Europa hat sich darin geirrt. Die größte Herausforderung wird es nicht sein, einem Wladimir Putin seine Grenzen aufzuzeigen. Sondern diese mörderische Ideologie einer angeblichen Minderwertigkeit anderer ethnischer und religiöser Gruppen, Völker und Nationen aus den Köpfen zu verbannen.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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14 Kommentare

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  • Zumindest gibt es diese Abgenzungsbestrebung des Russischen gegen das Ukrainische und umgekehrt.



    Das Mischmasch ist Surschyk bzw. Suržyk vgl. de.wikipedia.org/wiki/Surschyk



    Brudervölker!



    und überall:



    türkisch-kurdische Lebensstile haben im Alltag fließenden Übergang. Diese organisatorisch abzugrenzen ist unrealistisch. Und genau solch ein irrationaler Krieg um das Beherrschen den Anderen.

  • Die panslawistische Ideologie vom Kopf auf die Beine gestellt endet dann doch in derselben Intetessenmelange wie MAGA, China First, "europäischer Geist" etc: es sind die milden Vorboten der kommenden Verteilungskämpfe um begrenzte Resssourcen in einer Welt mit zuviel kapitalistischer Verschwendung und Wachstumsbedarf und mit zu vielen Menschen die dieser Planet verkraftet. Diese materialistischen Begrenzungen sind der eigentliche Grund. 99% der Friedensdemonstranten in Berlin werden nicht veteit sein, auf ihr komfortables Leben in Drutschlsnd zu verzichten, damit die Verteilung der Güter auf der Welt gerecht wird. Sue glauben immer noch, dass "die anderen" irgendwann so leben können wie sie selbst. Das wird nicht möglich sein auf dieser sehr endlichen Welt. Und dann bleibt nur Krieg.

    • @Ignaz Wrobel:

      Es leben nicht zu viele Menschen auf der Welt. Wenige Menschen möchten zu viel! Außerdem ist dieser Ansatz nicht zielführend, da kaum beeinflußbar. Beeinflussbar ist aber durchaus da Konsumverhalten junger Menschen. Sie irren, wenn Sie glauben 99% sind nicht zu Einschränkungen breit. Es sind 99% der älteren und satten die auf nichts verzichten wollen.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Doch diese nationalistischen Aktionen in Ost- und Südosteuropa waren und sind stets limitiert, weil die Macht ihrer Träger Grenzen besitzt. [….]Die EU konnte deshalb lange an der Hoffnung festhalten, diese Exzesse irgendwie eindämmen zu können.“



    Wie sieht es aus mit (Nord)Irland, Schottland, Baskenland, Katalonien? Überall „Mischen impossible“. Und btw.: Ein Kommentar muss nicht mit einem Fazit enden. Mit Pest-Vergleichen schon gar nicht.

    • @95820 (Profil gelöscht):

      Naja, dieses Denken ist ansteckend, vergiftet die Gesellschaft und ist, wie man nun sieht, tausendfach tötlich. Das passt schon mit der Pest...

  • Eine bessere Analyse habe ich hier gelesen:



    www.freitag.de/aut...-verfolgt-russland

    Diese hier läuft mal wieder darauf hinaus, davon abzulenken, dass die Diplomatie gnadenlos versagt hat. Wenn die USA (und die Europaer) wirklich so genau wußten, dass Putin angreift, warum haben sie dann nicht auf ihre eigenen Vordenker gehört und einen sinnvollen Status für die Ukraine ausgehandelt?

    • @LD3000 B21:

      "Wenn die USA (und die Europaer) wirklich so genau wußten, dass Putin angreift"

      Wie kann man das behaupten?

      Der Westen hatte gehofft Putin hält Wort und ist eines Besseren belehrt worden. Dass Putin eiskalt über seine Absichten gelogen hat wissen wir letztlich erst seit dem Einmarsch.

      Die Diplomatie hat eben gerade nicht versagt - ist aber machtlos wenn ein Putin kein Interesse an eine diplomatischen Lösung hat - sondern nur so tut, um Zeit dafür zu bekommen, seine Truppen in Stellung zu bringen.

      • @Grisch:

        Mir ist nicht so klar welche "diplomatische Lösung" sie meinen, an der Russland kein Interesse zeigt.

        Die amtierende Regierung der Ukraine hat ja die wenig diplomatische Position, das Krim und Flottenstützpunkt Sewastopol von Russland abgetrennt werden müssen.

        Wie ein Beschluss vor genau einem Jahr belegt. Dazu ruft es seine Verbündeten.

        VERORDNUNG DES PRÄSIDENTEN DER UKRAINE №117 / 2021



        Über die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021



        „Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“



        In Übereinstimmung mit Artikel 107 der Verfassung der Ukraine beschließe ich:



        1. Umsetzung des Beschlusses des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 „Über die Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ (im Anhang) .



        2. Genehmigung der Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol.



        3. Die Kontrolle über die Umsetzung des durch dieses Dekret erlassenen Beschlusses des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine liegt beim Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine.



        4. Dieses Dekret tritt am Tag seiner Veröffentlichung in Kraft.



        Präsident der Ukraine V.ZELENSKY 24. März 2021

        Oder ist dieses Dekret eine Fälschung russischer Propaganda und umschreibt nicht die Position der ukrainischen Regierung in einer geostrategischen Frage?

  • Sehr guter Beitrag, danke. Schaut man sich die Denke in den Telegram-Kanälen an, dann sieht man welche Fans Putin hat: es sind die völkischen.

  • Auch Danke dafür. Und dazu passt auch diese tolle Rede des Kenianers Martin Kimani:



    taz.de/UN-Rede-zu-...Konflikt/!5833849/

    Allerdings schürt er in mir die Hoffnung, dass einige Menschen weiterdenken und aufgeklärter sind.

  • Ich schließe mich dem Lob von Herrn Waldhaus an.

  • Stimmt völlig. Panslawismus.



    Was ich mich aber frage ist ob diese Komponente nicht doch auch schon zu Stalins Zeiten sehr wichtig war: wie groß war die kommunistische Komponente innerhalb des Ostblocks damals tatsächlich? Ich meine mich zu erinnern, dass westliche Kommunisten sehr enttäuscht waren bei Besuch von Stalins UdSSR. Erst die Poststalinära ging wieder in die richtigere Richtung. Ich wage zu behaupten mit weniger Nationalismus.

  • Na also, endlich sagts mal wer in aller Länge und Breite.

    Putin ist ein Throwback in die Zeiten von Nilus (der im Putin-Faschismus mit staatlicher Förderung von der Kirche promotet wird), großrussischem Imperialismus (Invasionsdrohungen gegen Finnland ud Polen), Rasputinismus (Dugin und Fomenko als "spirituelle" Drehbuchschreiber), einem aufgeblähten Militärapparat aus demoralisiserten, schlecht versorgten, und von Dieben und Säufern mit Lügen in den Krieg geworfenen Soldaten (Tsushima und Tannenberg), einer unheiligen Allianz aus Führer, Klerus und Großkapital, und pseudoplebiszitärer Fassade (eine gesteuerte Opposition aus Unfähigen, Kriminellen und Militaristen).

    Kein Wunder also, dass Putin in seiner Brandrede an das Volk Lenin als Quell allen Übels das Russland heute betrifft diffamierte! Er ist von Angst getrieben; was die Welt jetzt dringend braucht, ist ein neuer Lenin, aber mehr noch ein neuer Yurovsky.

    Denn der Putinismus wird erst enden, wenn er folgerichtig endet: so wie das Vorbild geendet ist.

  • Danke Herr Hillenbrand. Die bisher beste Analyse zu diesen furchtbaren Geschehnissen und dem Gebaren Putins.



    Es ist und bleibt ein fast unmögliches Unterfangen aus der Geschichte zu lernen, bzw. daraus die 'richtigen' Schlüsse zu ziehen, so lange die ,Pest' in Form von Nationalismus mit allen seinen Unterarten nicht ausgemerzt werden kann. Leider gibts hierfür kein Vakzin. Diese Erkenntnis ist furchtbar und frustrierend, aber wohl realistisch.