piwik no script img

Parteitag der GrünenGanz oben wirds prekär

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Interessant, wie persönliche Armutserfahrungen vom neuen Grünen-Vorstand thematisiert wurden. Aufschlussreich auch, dass es kaum um Boni ging.

Farbenfroh ins Amt: Der neue Co-Vorstand Omid Nouripour, hier mit Muhterem Aras Foto: Kay Nietfeld/dpa

D er neue Grünen-Vorstand hat Ahnung von Armut. Die neue Vorsitzende Ricarda Lang erzählte auf ihrer Bewerbungstour bei jeder Gelegenheit von ihrer alleinerziehenden und zwischendurch arbeitslosen Mutter. Die Eltern ihres Co-Vorsitzenden Omid Nouripour haben nach ihrer Flucht aus dem Iran einen sozialen Abstieg erlebt. Und der neue Parteivize Heiko Knopf aus Jena sprach auf dem Parteitag am Wochenende von seiner Kindheit in der Nachwendezeit, als seine Mutter 50 Bewerbungen pro Woche schrieb und trotzdem höchstens prekäre Jobs fand.

Solche Perspektiven sind weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für engagierte Sozialpolitik; die Geschichte der Bundesrepublik kennt schließlich sowohl Sozialrevolutionäre aus reichem Haus als auch Aufsteiger, die den Sozialstaat zersägt haben. Interessant war aber doch, welchen Raum die Armutserfahrungen rund um die Neuwahl des Vorstands einnahmen. Ob sie in den nächsten Jahren dazu beitragen können, dass die Grünen dort neue Anhängerinnen finden, wo sie bislang kaum punkten – unter Arbeiter*innen, Arbeitslosen und gering Qualifizierten?

Nun, es wird schwierig. Der Koalitionsvertrag der Ampel sieht in Verteilungsfragen punktuell durchaus Fortschritte vor. Aber nachdem die SPD in Großen Koalitionen jahrelang zusehen musste, wie sozialpolitische Erfolge bei Angela Merkel einzahlten, wird jetzt wohl erst mal sie profitieren.

Mit dem Sozialstaat als Markenkern kann die SPD fast 20 Jahre nach der Agenda-Politik wieder Wahlen gewinnen. Programmatisch bleibt sie nicht hinter Forderungen der Grünen. Und Vorhaben wie die Mindestlohnerhöhung darf der sozialdemokratische Minister für Arbeit und Soziales verkünden. Manchmal, etwa bei der Kindergrundsicherung, wird wohl die grüne Familienministerin Anne Spiegel neben ihm stehen. Zum sozialen Gesicht der Ampel wird sie damit allein aber nicht werden.

Und dann ist da ja auch noch die Klimapolitik, die durchaus den Grünen zugeschrieben wird, das aber oft in Verbindung mit kurzfristig steigenden Preisen. Was Ricarda Lang am Samstag in ihrer Bewerbungsrede sagte, stimmt zwar: Klima- und Sozialpolitik müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Können sie aber. Der soziale Kompensationsmechanismus namens Klimageld ist im Koalitionsvertrag nur angedeutet.

Die Grünen müssten die SPD im Regierungshandeln und in der Programmatik schon übertrumpfen, um das Gutverdiener-Image hinter sich zu lassen. Das wiederum würde aber bei denen auf Widerstand stoßen, die die Partei in eine andere Richtung vergrößern wollen. „Wir müssen wirtschaftsfreundlich sein“, erinnerte Winfried Kretschmann auf dem Parteitag. Dank seiner Wahlergebnisse steht er dabei nicht ohne Argumente da. Wie gesagt: Es wird schwierig.

Eine notwendige Bedingung gibt es dann aber doch, die vergleichsweise einfach zu erfüllen ist: Nebenverdienste nicht angeben und Boni kassieren – das sollte sich der neue Grünen-Vorstand nicht leisten, wenn er sozialpolitische Glaubwürdigkeit aufbauen will. Auf dem Parteitag war wenig Raum für die Aufarbeitung von Fehlern des letzten Jahres. Wichtiger waren gut inszenierte Abschieds- und Einführungsrituale, weitgehend frei von Selbstkritik. Hinter den Kulissen muss sich der neue Vorstand mit der angekündigten Aufarbeitung aber beeilen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Die Linke macht in Klima, die Grünen in sozialer Gerechtigkeit.

    Nicht dass das alles viel bedeutet, aber verwirrend ist es erstmal schon.

  • taz: "Solche Perspektiven sind weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für engagierte Sozialpolitik; die Geschichte der Bundesrepublik kennt schließlich sowohl Sozialrevolutionäre aus reichem Haus als auch Aufsteiger, die den Sozialstaat zersägt haben."

    "Wir Sozialdemokraten verkörpern die Perspektive, dass diese Bürger kein unabänderliches Schicksal haben. Viele von uns kommen aus kleinen sozialen Verhältnissen und haben sich durchgeboxt." - Olaf Scholz, auf die Frage, ob die SPD sozial benachteiligte Bürger noch erreiche, Stern Nr. 31/2008

    Gut "durchgeboxt" haben sich viele "SPD-Volksvertreter" ja tatsächlich, die letztendlich den Sozialstaat dann ja auch 'zersägt' haben. Der eine ist bei Gazprom Multimillionär geworden, der andere ist Bundespräsident, und ein "Schröderianer" wurde jetzt sogar Bundeskanzler. "Scholz bezeichnete die Agenda-Pläne im März 2003 als „sozialdemokratische Politik“ sowie als „vernünftig, ausgewogen und deshalb auch zulässig“." [Wikipedia]

    Eine soziale Ungerechtigkeit, die seit Langem währt, heißt in Deutschland Agenda 2010 und dieser umstrittenen Reform-Agenda 2010 von Gerhard Schröder (SPD) wurde mit etwa 90 Prozent von den Grünen im Jahr 2003 zugestimmt. Und heute sitzen die Grünen mit der SPD wieder am Regierungstisch, aber an der Agenda 2010, mitsamt dem menschenverachtenden Hartz IV, wird wohl weiterhin festgehalten. Die Fortführung der sozialen Ungerechtigkeit in diesem Land kann man jetzt aber wenigstens der FDP zuschustern, die ja auch mit in der Regierung ist. Nun ja, "fast" die gleiche Wählergruppe haben die Grünen und die FDP ja ohnehin schon, auch wenn der Grünen-Wähler in seinem SUV zum Biomarkt fährt, während der FDP-Wähler mit dem SUV zum Delikatessenladen chauffiert.

    taz: Der neue Grünen-Vorstand hat Ahnung von Armut." - Das ist ja schön für den Grünen-Vorstand, aber wird jetzt auch mal endlich etwas gegen Armut in diesem Land gemacht oder drückt man nur wieder auf die Tränendrüse und das war es dann?

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Vielleicht sollte die Sozialpolitik von Leuten organisiert werden, die sozial abgestiegen waren. Die haben vermutlich mehr Empathie.



    Aufsteiger sind weniger hilfreich, da sie die Schwäche anderer Leute nicht selbst erlebt, sondern nur beobachtet haben.

    • @4813 (Profil gelöscht):

      Ist es nicht großartig, welche Aufstiegsmöglichkeiten die grüne Partei so zu bieten hat bei Grundgehältern um die ??? € netto ? Querdenker haben da keine Chance...

  • anstatt zu betonen ...

    wo man heute steht und was zu tun wäre, wird die schublade geöffnet und der staub von jahrzehnten ins publikum geblasen.

    der applaus ist sicher.



    und es tut der eigenen seele gut.



    nicht mehr und nicht weniger.

  • Mir ist die soziale Herkunft der Kandidaten relativ egal, weil es wie ja auch im Artikel erwähnt sehr wenig über die Politik von jemandem aussagt, alles andere ist identitätstheoretischer Quatsch. Aber wenn man die Herkunft schon zum Thema macht, sollte vielleicht trotzdem darauf hingewiesen werden, dass sowohl Lang als auch Nouripour Akademikerkinder sind, die Abitur gemacht haben und studiert haben. Das spielt für die Aufstiegschancen wahrscheinlich eine größere Rolle, als die (vorübergehende) finanzielle Situation der Eltern

  • Es ist aber wirklich sehr punktuell. Solange die Renten sehr niedrig sind und weiter sinken könnten, private Vorsorgeinstrumente nicht Auslgeich schaffen, Arbeitgeber aber nicht beteiligt werden müssen, kann ich nur sagen, leben wir in Deutschland deutlich unter dem Niveau von Nachbarländern. Hier wird es bald sehr viele Rentner geben, die weiter arbeiten müssen, nicht um Urlaube zu machen oder teure Hobbys zu finanzieren, sondern um im Discounter bei den Angeboten einzukaufen. Dazu kommen 1,5 Mio. Kinder und Jugendliche, die in Armut leben und von denen viele aus diesem Kreislauf nicht gut rauskommen, weil Armut bei Jugendlichen dafür sorgt, dass die 'reichen' und die 'wohlhabenden' Jugendlichen lieber unter sich bleiben wollen. Die Anhebung des Mindestlohns ist dann noch der Art, dass jemand, der sein Leben lang damit durcharbeitet, am Ende auf Hilfe angewiesen ist oder eben als Rentner arbeitet. Soziale Absicherung haben hingegen Bundestags- und Landtagsabgeordnete - meist nach ein oder zwei Legislaturperioden erwoben. Bei hohen Einkommen sind private Vorsorgeinstrumente oft sehr gut, aber nicht bei einem freiberuflichen Grafiker oder einer Journalistin. Ich frage mich, was es noch braucht, bis Deutschland wieder eine normale soziale Absicherung hat?



    Und natürlich ist es schön, dass bei den Grünen in der Programmdebatte mehr geht, als bei der SPD. Das macht aus den Grünen nicht unbedingt die sozialere oder bessere Reformpartei, weil deren Anhänger und Wähler inzwischen deutlich über dem Durchschnitt bei Bildung, Einkommen und Vermögen liegen. Das sind meist Menschen, die gar nicht darauf angewiesen sind. Und in dieser Regierung haben sie die "punktuellen" Erfolge auch nicht durchgesetzt.

  • Zu betonen, in welchen ach so schwierigen und Mitleid erregenden Verhältnissen man aufgewachsen ist, nenne ich "Amerikanisierung" des Wahlkampfes. In den USA ist es immer von Vorteil, so etwas vor einem herzutragen (zum Teil gelogen oder übertrieben), weil das erstens zeigt, dass man das Leben der Nichtprivilegierten kennt und quasi eine/r von denen ist, und zweitens gewinnen so die eigenen Leistungen - nämlich sozial aufgestiegen zu sein -einen größeren Wert. Rückschlüsse auf die eigene Politikziele sollten daraus allerdings nicht gezogen werden; das "Narrativ" dient zumeist lediglich als Verkaufsstrategie im Wahlkampf.

  • Die sozialpolitischen Erfolge der SPD in der GroKo wurde durch die permanente



    Kritik der eigenen Partei, insbesondere der Jusos unter Kühnert, an der Arbeit der



    GroKo überdeckt und eliminiert.

  • Dass es ‚ganz oben prekär wird‘, sehe ich nicht und erst recht nicht in dem Sinne, dass von dem Momentum des neuen Leitungsduos der Grünen irgendetwas Prekäres ausgeht. Imponierend finde ich eher die Tatsache, dass ihre frühe(re) Armutserfahrung sie offenkundig nicht daran gehindert hat, ihrer ‚präkeren‘ Situation zu entkommen und damit zumindest und irgendwie auch vorbildlich die Möglichkeit der eigenen Lebensgestaltung in diesem häufig als sozial verrufen dargestellten Land bestätigt haben.