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Raúl Krauthausen über BVerfG-Urteil„Der Staat muss uns schützen“

Das Triageurteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Erfolg für Menschen mit Behinderungen, sagt Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen.

Dem Aktivisten Raúl Kraut­hausen geht es nicht darum, neue Triage-Regeln aufzustellen Foto: Anna Spindelndreier
Simone Schmollack
Interview von Simone Schmollack

taz: Herr Krauthausen, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am Dienstag entschieden, dass behinderte Menschen bei Behandlungen nicht benachteiligt werden dürfen, auch wenn Intensivstationen und Kliniken überlastet sind. Wie bewerten Sie das sogenannte Triage-Urteil?

Raúl Krauthausen: Das Bundesverfassungsgericht hat uns und unsere Bedürfnisse ernst genommen, das ist sehr gut. Damit wird Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes …

… der besagt, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf …

… das wird jetzt ausgeweitet: Der Staat verpflichtet sich, Menschen mit Behinderungen stärker zu schützen.

War das bislang nicht so?

Die staatliche Schutzverpflichtung ist neu. Jetzt muss der Gesetzgeber auch gemäß der UN-Behindertenkonvention dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen bei intensivmedizinischen Behandlungen nicht benachteiligt werden – auch wenn die Ressourcen pandemiebedingt knapp sind.

Nancy Poser, eine der neun Be­schwer­de­füh­re­r:in­nen und selbst Richterin mit Behinderung, hat vor einem Jahr in der taz gesagt, dass Menschen wie sie im Falle einer pandemiebedingten Triage zuerst „geopfert“ würden, weil Menschen mit Behinderungen von jeher eine schlechtere Gesundungsprognose erteilt werde. Aktuell stellt sich die Lage auf den Intensivstationen aber anders dar: Schlechtere Überlebenschancen haben eher Ungeimpfte ohne Behinderung als Geimpfte mit einer Behinderung.

Im Interview: Raúl Kraut­hausen

Der 41-Jährige ist Men­schenrechts-­ und Behinder­tenaktivist. Er sitzt im Rollstuhl und hat die sogenannte Glasknochen­krankheit

Uns ging es nicht darum, neue Triage-Regeln aufzustellen. Da ist der Gesetzgeber jetzt in der Pflicht, der uns jetzt stärker schützen muss.

Oliver Tolmein, der Anwalt der Beschwerdeführer:innen, argumentiert, dass es gut sei, wenn erst gar keine Triage-Entscheidungen getroffen werden müssen. Im nächsten Jahr kommen In­ten­siv­me­di­zi­ne­r:in­nen aber womöglich nicht mehr an einer Triage vorbei.

Als wir die Klage vor einem Jahr angestrebt haben, war die Lage in den Kliniken, so wie wir sie jetzt haben, bereits absehbar. Nur hat das damals kaum jemanden interessiert. Das Problem dahinter ist doch die unzureichende Ausstattung in Krankenhäusern: Es mangelt an Betten, an Ausstattung und vor allem an Personal.

Haben Sie selbst schon einmal erlebt, dass Sie aufgrund Ihrer Behinderung im Krankenhaus oder in einer anderen medizinischen Situation „geopfert“ wurden?

Als ich geboren wurde, prophezeiten die Ärzte meinen Eltern, dass ich nur drei Tage leben werde. Dann waren es drei Wochen, später drei Monate. Jetzt bin ich 41 Jahre alt. Oder anders gesagt: Was würde passieren, wenn wir Menschen, die länger brauchen, um gesund zu werden, von vornherein eine medizinische Versorgung verwehren? Die Antwort ergibt sich von selbst.

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23 Kommentare

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  • Wenn ein Mensch wegen einer Vorerkrankungen so sehr vorbehindert ist, dass eine ECMO kontraindiziert ist, wird er auch keine bekommen.

  • Dankeschön. Und wie immer gut auf den Punkt gebracht.

    • @Lesebrille:

      Sorry, der Kommentar geht natürlich an Lawandorder.

  • Manoman - was geht denn hier ab!

    Horchenmer doch mal rein:



    www.bundesverfassu...16_1bvr154120.html



    “ - 1 BvR 1541/20 -

    Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung in der Triage

    Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich für den Staat das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und ein Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen.



    Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Dazu gehören die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen wegen einer Behinderung, eine mit der Benachteiligung wegen Behinderung einhergehende Gefahr für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter wie das Leben oder auch Situationen struktureller Ungleichheit.



    Der Schutzauftrag verdichtet sich hier, weil das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen besteht.



    Dem Gesetzgeber steht auch bei der Erfüllung einer konkreten Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Entscheidend ist, dass er hinreichend wirksamen Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung bewirkt.“

    Mißverständlich ist daran nichts.



    Rest bitte selbst lesen.



    Daß Karlsruhe schon immer die grundgesetzlich abgesicherte Bindungswirkung der Grund&Menschenrechte der Öffentlichen Gewalt auch in eine intendierte Schutzpflicht ausgelegt hat - ist dort bindende ständige Rechtsprechung.



    Bei den öffentlichen Leistungen hapert es (noch). Vgl =>



    Grundrechte im Leistungsstaat. Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung



    Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Regensburg 1971

    • @Lowandorder:

      Danke für den nüchternen Kommentar!



      Bei manchen Sätzen unter dem Artikel kam mir das Grausen.

    • @Lowandorder:

      Quelle zu letzterem - zum Nachlesen -



      Martens vs Häberle -



      www.degruyter.com/...783110890211.7/pdf



      (entre nous - Nur Konrad Hesse & a weng Otto Bachof! - sprangen Häberle bei (seine Seminare dazu Sternstunden!)



      & the whole shit



      www.degruyter.com/...9783110890211/html

      • @Lowandorder:

        Asche auf mein Haupt - unsauber formuliert - korrekt =>



        statt “… eine intendierte Schutzpflicht …“



        Richtig => “…einen intendierten Schutzauftrag gegebenenfalls in eine Schutzpflicht ausgelegt hat.…“

  • Natürlich muss der Staat dafür sorgen, dass Behinderte nicht benachteiligt werden. Das darf aber nicht zu einer Bevorzugung führen - wenn dann nämlich ein Arzt im worst case bei einer Triage aus Angst vor einem Prozess für die Behandlung des Gehandicapten entscheidet. Fairness heißt Gleichberechtigung und nicht Bevorzugung.

    • @Holger Steinebach:

      Es geht nicht um Fairness oder Fairplay. Das ist ja nun auch der Unterschied zwischen Gleichberechtigung (Fairness) und Gleichstellung (zweckgebundene Bevorzugung). Geklagt wird im Falle einer Triage im Anschlusss garantiert immer. Es wäre wohl besser Ärzten im Falle einer Triage gesetzliche Immunität zu geben.

  • „ Das Problem dahinter ist doch die unzureichende Ausstattung in Krankenhäusern: Es mangelt an Betten, an Ausstattung und vor allem an Personal.“

  • Ich habe das Urteil nicht gelesen, daher meine Frage: Bedeutet es, dass jeder Mensch mit Behinderung - ob nun mit konkreten gesundheitlichen Risikofaktoren oder nicht - bevorzugt behandelt werden soll gegenüber z.B. chronisch kranken oder sehr alten Menschen?

    • @MartinSemm:

      Ich habe das Urteil gelesen, weil ich nach den Artikeln vor- und hinterher befürchtet habe, es ginge weiter als es wirklich geht. Richtigerweise lässt das Gericht dem Gesetzgeber durchaus etwas Spielraum.

      Es geht also nicht darum, dass das Los entscheiden muss oder "wer zuerst kommt...." - sondern es ist legitim, die konkrete Überlebensprognose - bezogen auf den Notfall, der zur Behandlung auf der ITS führt zum Kriterium zu machen. (das Gesetz soll ja über Corona hinaus gelten) - nicht dagegen die längerfristige Perspektive, so dass also nicht zwingend Jüngere gegenüber Älteren bevorzugt werden.

      Der Satz, dass jedes Leben gleichwertig ist (und daher eigentlich nur ein Losverfahren zulassen würde) gilt nach dem Urteil ausdrücklich so nicht:

      " Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf (vgl. BVerfGE 115, 118 ), steht einer Regelung von Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden, nicht von vornherein entgegen".

      Das ist ein ganz wichtiger Satz, der das Kriterium der konkreten Überlebenswahrscheinlichkeit weiter zulässt (zum Glück, sonst besteht das hohe Risiko, dass am Ende beide tot sind, obwohl eine Person relativ gute Chancen gehabt hätte, aber zu spät kam oder Lospech hatte).

    • @MartinSemm:

      Nein, es bedeutet, kurz gesagt, dass niemand benachteiligt werden darf und der Gesetzgeber zu diesem Zweck die Triage gesetzlich zu regeln hat.

  • Ich fürchte, die am Interview Beteiligten haben das Urteil nicht ganz verstanden (oder nicht gelesen?). Nein, der "Staat" hat sich nicht verpflichtet, Menschen mit Behinderung stärker zu schützen: Das BVerfG hat schlicht festgestellt, dass die Triage durch ein förmliches Gesetz zu regeln ist (das dann selbstverständlich dem Grundgesetz genügen muss). Der Regelungsinhalt wurde jedoch komplett offen gelassen (Mein Tip: Man wird sich eng an den derzeit gültigen Leitlinien orientieren). Es gibt übrigens auch keine Zeitvorgabe, was bei der durchschnittlichen Arbeitsgeschwindigkeit unseres Parlaments heißen kann: Das Gesetz kommt nach der Triage. Im Ergebnis wird sich für keinen der Petenten oder für Herrn Krauthausen etwas ändern.

    • @Samvim:

      das Urteil zieht schon ein paar "Leitplanken", dass es zum Beispiel nicht auf vermeintliche "Lebensqualität" ankommen darf oder auf eine Überlebenswahrscheinlichkeit, die von der konkreten Erkrankungssituation unabhängig ist.

      Heißt, der 41-jährige mit schwerem Verlauf hat ggf. schlechtere Chancen als der 81-jährige mit etwas besserer - allein auf Covid bezogene - Prognose. Selbst wenn es bei ihm um durchschnittlich noch fast 40 Jahre Leben geht, beim anderen nur um weniger als 10.

  • Es gibt eine Menge zu berücksichtigen. Danke Hr. Krauthausen sehr!



    Sollte es zu Triagen kommen möchte ich kein Arzt sein.



    Nimmt man den mit der Glasknochenkrankheit, den Heilerziehungspfleger, der eine Schachtel Zigaretten p.d. raucht, den Covidioten, der quer ist, oder denjenigen keinen Zugang zu Informationen hatte. Solls ja auch geben.

  • Herr Krauthausen lebt und das ist gut so. Wo haben Ärzte bisher denn Behinderte geopfert? Was für ein Bild wird hier von deutschen Ärzten gezeichnet?

  • Hahnebüchener Schwachsinn!



    Es gibt überhaupt kein Indiz für eine Benachteiligung, aber mal wieder hat sich diese schlagkräftige Gruppe der angeblich Lobbylosen einen Regelungsbedarf erstritten. Um dann in dieser Regelung ausführlich die eigene Bevorzugung zu zementieren, denn Besserstellung gegenüber den Normalen ist die einzige "Gleichbehandlung", die all die Verbände akzeptieren können.



    Eine Triage ist per se ein Zustand des Staatsversagens. Das Menschenrecht auf Beistand in einer medizinischen Notsituation kann nicht gewährt werden.



    Das kommt vor - verstößt aber generell gegen die Menschenwürde. Auch gegen die des Mediziners, da diesem eine unmenschliche Pflicht auferlegt wird: sich zwischen zwei Hilfsbedürftigen in seiner Obhut zu entscheiden.



    Statt hier Abhilfe zu schaffen, z.B. indem die Krankenhäuser ermächtigt werden, notfalls Dritte zur Hilfe zwangszuverpflichten, z.B. private Ärzte, wird die ohnehin schon schwere Aufgabe durch eine gesetzliche Regelung auch noch durch Strafandrohung zusätzlich erschwert.



    So ein Gesetz kann prinzipiell nicht einfach sein.



    Und direkt nach der Verabschiedung werden weitere Gruppen Schutzbedürftiger wegen Benachteiligung klagen. Da gibt es noch genug: Kinder, Alte, Dauerkranke, Frauen, Sexuelle Orientierung, Herkunft, äußeres Erscheinung, etc...



    Das Ergebnis kann nur ein absurdes Konstrukt abenteuerlicher Komplexität werden, dessen Anwendung dadurch komplett unmöglich wird.

  • Verstehe nicht warun so ein Urteil gefällt wurde, das ergibt sich doch meiner Meinung nach aus dem Grundgesetz. Dann müßte es doch auch ein entsprechendes Urteil für Menschen mit chronischen Erkrankungen geben oder für Menschen über 60 Jahre die auch eine schlechtere Prognose haben. Oder sollen diese dann bei einer Triage benachteiligt werden dürfen und Behinderte nicht?

  • Es freut mich auch für Sie.



    Da gilt erneut: die Regierung und die Corona-Krisen-akteure müssen längerfristig planen und vorsorgen, vorbauen, nicht weiter so kurzfristig. Gesundheit für alle zuerst!

  • Herr Krauthausen ist ein echter Lichtblick, eine Inspiration und ein Vorbild für jeden von uns. Ich lese seine Texte und Meinungen immer sehr gerne.

  • Es ist natürlich kränkend, wenn der 14jährige dem 41jährigen vorgezogen wird, weil er bessere Chancen hat. Aber mal im Ernst: wie soll der Schutz aussehen, wenn zwei Menschen mit Behinderung um einen Platz auf der ITS buhlen, nachdem die zwei Nicht-Behinderten sich bereits ohne Beatmung durchkämpfen müssen? Sollen alle 4 sterben oder darf einer durchkommen.

  • "Aktuell stellt sich die Lage auf den Intensivstationen aber anders dar: Schlechtere Überlebenschancen haben eher Ungeimpfte ohne Behinderung als Geimpfte mit einer Behinderung."



    Einmal abgesehen davon, dass diese Behauptung so generell jedenfalls einfach nur Quatsch ist, stellt sich mir darauf sofort die Frage: Wie besessen kann man eigentlich vom Hass auf eine Menschengruppe sein. Raul Krauthausen, der ein ganz wundervoller Mensch ist, hat es jedenfalls nicht verdient, für so etwas instrumentalisiert zu werden. PS: Ich bin geimpft & habe nichts mit irgendwelchen Verschwörungstheorien am Hut. Schlimm auch, dass man fühlt, das dazuschreiben zu müssen.