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Geschichtsaufarbeitung in DeutschlandAufarbeitung ist keine Impfung

Essay von Susan Neiman

Die Deutschen haben in ihrer Vergangenheitsbewältigung gelernt, die Perspektive zu wechseln. Den USA steht dies erst noch bevor.

Illustration: Katja Gendikova

A ls Richard von Weizsäcker 1985 seine berühmte Rede hielt, lebte ich schon drei Jahre in Westberlin. Obwohl ich nach Deutschland als Doktorandin für Philosophie gekommen war, waren meine Kenntnisse der jüngeren deutschen Geschichte inzwischen nicht schlecht. Kurz nach meiner Ankunft begann das stadtweite Gedenken zum 50. Jahrestag der Machtergreifung; ich habe beinahe jede Veranstaltung besucht. In den Bekanntenkreisen, in denen ich verkehrte, wurde dauernd über Vergangenheitsaufarbeitung gesprochen.

Zerknirscht erzählten Freunde von ihren Nazi-Eltern; einige verrieten, dass ich sie immer an Dachau erinnerte. (Meistens war ich die erste Jüdin, der sie begegnet sind.) Und dennoch konnte ich die Aufregung über Weizsäckers Rede so gar nicht verstehen. Der Inhalt schien mir fürchterlich banal: Deutsche haben gelitten, aber andere Völker noch mehr, schließlich hat Deutschland den Krieg begonnen. Wer brauchte solche Selbstverständlichkeiten zu hören? Denn für jeden, der nicht in der Bundesrepublik aufgewachsen war, enthielt die Rede nur Binsenweisheiten.

Doch damit brachte der Bundespräsident die Nation in Einklang mit der Welt. Für die war Deutschland ein Land der Täter. Selbst der renommierter Historiker Neil MacGregor, Gründungsintendant des Humboldt Forums, behauptete 2015 in einer BBC-Sendung zur deutschen Geschichte, die Trümmerfrauen hätten sich unmöglich als Opfer verstehen können – im Gegensatz zu den Bürgern von London, die ebenfalls Trümmer zu beseitigen hatten. Warum wollte es nicht in unsere Köpfe, dass sich die meisten Deutschen ausgerechnet als die größten Kriegsopfer verstanden?

Zum einen erschienen es den Deutschen nicht erwähnenswert; dafür war das Gefühl zu selbstverständlich. Zum anderen war das Foto von Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos das Bild von Nachkriegsdeutschland, das die ausländische Wahrnehmung prägte. Weil die Geste der Reue uns selbstverständlich erschien, nahmen wir sie für typisch. Kaum einer wusste, wie oft Brandts Geste in der BRD kritisiert wurde, oder dass die CDU Wahlkämpfe gewann, in denen sie versuchte, Brandt seine – vom Ausland so bewunderte! – Emigration zum Verhängnis zu machen.

Susan Neiman

ist seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Ihr jüngstes Buch, „Von den Deutschen Lernen“, erschien im Frühjahr bei Hanser.

Heute kann ich die damals als so banal empfundene Weizsäcker-Rede schätzen. Selbst wenn, wie Alexandra Senfft mit Recht betont, er die Schuld seiner eigenen Familie dabei verdrängt. Trotzdem forderte die Rede einen Perspektivwechsel, der tatsächlich historisch war. Jeder Mensch neigt dazu, sich, seine Familie, seine Nation zu idealisieren; wem das nicht gelingt, wird sich als Opfer stilisieren. Wer will schon die Scham empfinden, die unweigerlich mit der Anerkennung der eigenen Schuld verbunden ist?

Insofern war Björn Höckes Frage, welche andere Nation ein Denkmal der Schande im Herzen ihrer Hauptstadt errichtet hat, richtig; nur seine Schlussfolgerung war falsch. Es geht nun darum, dieses Signal als Leistung anzuerkennen, denn Deutschland ist die erste Nation, die die Perspektive vom Opfer zum Täter gewechselt hat.

Südstaaten verstehen sich noch immer als Opfer

Um diese Leistung zu verstehen, muss man vergleichen. 155 Jahre nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs ist dieser Perspektivwechsel in den USA noch nicht vollzogen. Die Südstaaten, die einen Krieg begannen, um die Sklaverei fortzusetzen zu können, werden immer noch als Opfer verstanden, und nicht nur von den Südstaatlern selbst. (Donald Trump hat kürzlich den Film „Vom Winde verweht“ – eine reine Verklärung des KuKluxKlan – als Vorbild empfohlen.)

Kein Volk kann sich auf Dauer nur als Tätervolk verstehen; es muss ein differenzierter Blick auf die eigene Geschichte entstehen, der neben Opfern und Tätern auch Helden erlaubt

Die Städte des Südens lagen im Schutt und Asche, die Männer waren tot, verwundet, oder in Kriegsgefangenschaften, die Frauen und Kinder haben gehungert und gelitten, fremde Truppen besetzten ihre Häuser. Und die blöden Yankees haben ihnen den letzten Rest gegeben, indem sie den Südstaatlern die Schuld gaben – bloß weil sie ihre Freiheiten und ihre Heimat zu verteidigen versuchten!

Verbringen Sie einige Tage in Mississippi, dann werden Sie heute die gleichen Litaneien hören, die in der Bundesrepublik bis 1985 gang und gäbe waren. Die Opfergeschichte wird nicht nur in Tausenden von Denkmälern festgehalten, die die Soldaten der Konföderation glorifizieren, sondern in Filmen und Liedern, die in den ganzen USA präsent sind. (Kenner der amerikanischen Musik können sich etwa über Joan Baez’s Aufnahme von „The Night They Drove Old Dixie Down“ wundern.)

Doch Scham tut gut, erzählte mir Bryan Stevenson, denn nur durch Scham wird etwas verändert. Stevenson ist ein afroamerikanischer Rechtsanwalt, dessen Arbeit darin besteht, Gefangene vor der Todesstrafe zu retten, und dessen Buch darüber breite Bewunderung unter fortschrittlichen Amerikanern gefunden hat. Vielleicht noch wichtiger ist sein Denkmal für die Tausende, die dem Lynchmord zum Opfer fielen. Das Denkmal ist das erste, der den Blick auf diese Schande richtet: nach der Abschaffung der Sklaverei wurden verschiedenste Wege gefunden, schwarze Amerikaner in virtueller Sklaverei zu halten, bis hin zum Mord.

Das „National Memorial for Peace and Justice“ – so der offizieller Name des Denkmals – ist atemberaubend genug, um eine Reise nach Alabama zu rechtfertigen. Die Inspiration dafür kam Stevenson, als er Deutschland besuchte. Dort war er erstaunt von der Erinnerungslandschaft, wie auch von der Bereitschaft, mit der Deutsche offen über ihre Geschichte sprachen, in der Hoffnung, die Zukunft anders zu gestalten. Das wünscht er sich auch für die USA, die teils immer noch die Sklavenhalter heroisiert.

Von der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung zu lernen heißt nicht, diese Aufarbeitung zur Erfolgsgeschichte zu erklären. Vor allem können andere von den Deutschen lernen, wie schwer der Weg zu diesem Perspektivwechsel ist. Selbst bei den schwersten Verbrechen wird es Widerstand geben, die eigene Schuld zu erkennen. Es wird immer Menschen geben, die Entlastungen suchen, in dem sie auf die Sünde der anderen zeigen, um die eigene zu vergessen. Und es wird immer Menschen geben, die vor Nestbeschmutzung warnen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Erkenntnis, dass solche Widerstände sich durch die deutsche Nachkriegsgeschichte ziehen, ist für amerikanische KollegInnen ermutigend, denn angesichts ähnlicher Opposition kämpfen sie gelegentlich mit Resignationsgedanken. Doch jeder Fortschritt produziert Widerstand. Wer nach dem Aufstieg der AfD bereit ist, die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung als nutzlos zu betrachten, verkennt die Natur des Fortschritts. Vergangenheitsaufarbeitung ist keine Impfung, die das Aussterben des Rassismus garantiert.

International erleben wir gerade eine Welle von Fremdenfeindlichkeit, die von Texas über England bis Myanmar reicht; die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit hat Deutschland vor den schlimmsten Folgen bisher bewahrt, die in Nachbarländern wie Polen und Frankreich präsent sind. Nun geht es darum, die Auseinandersetzungen zu erneuern.

Es gibt Opfer und Täter, aber auch Helden

Das wird aber nur möglich, wenn wir die Leistungen anerkennen, die schon erreicht sind, zusammen mit den Fehlern, die auf dem Weg gemacht worden sind. Kein Volk kann sich auf Dauer nur als Tätervolk verstehen; es muss ein differenzierter Blick auf die eigene Geschichte entstehen, der neben Opfern und Tätern auch Helden erlaubt.

Weizsäckers Rede brachte die Bundesrepublik nicht nur in Einklang mit dem Ausland, sondern auch – für kürzeste Zeit – mit der DDR, die den 8. Mai immer als Tag der Befreiung gefeiert hat. Friedrich Schorlemmer etwa erzählte mir, dass er die Rede auch als eine Rede über die deutsche Einheit erlebte. Doch der Einklang hielt nicht an; nirgendwo sind die Klüfte zwischen Ost- und Westdeutschen tiefer als bei Fragen zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.

Wer den Blick auf die Antifaschisten lenken will, riskiert westdeutsche Häme; wird er nicht als Stalinist verdächtigt, wird er bestenfalls als Naivling bezeichnet. (Hier schreibt eine, die das ständig erlebt). Doch den Vorwurf, der Antifaschismus der DDR sei verordnet gewesen, habe ich nie verstanden. War es nicht richtig, nach dreizehn Jahren Faschismus den Antifaschismus zu verordnen? Ist es nicht die Abwesenheit jeglicher Verordnung, die immer wieder an der Adenauer-Regierung kritisiert wird?

Die Zahlen belegen es: In der DDR wurden mehr Prozesse gegen Nazis geführt, weniger Nazis im Amt gelassen, mehr Schulunterricht über die Naziverbrechen angeboten, mehr Gedenkstätten gepflegt. Im Lauf meiner Forschung habe ich mit vielen ehemaligen DDR-Bürgern gesprochen, die fast alles an dem Staat kritisierten – bis auf den Antifaschismus. Sicherlich wurde dort der Antifaschismus auch missbraucht, auf absurde Art und Weise; man denke an den „antifaschistischen Schutzwall,“ der beide Staaten trennte. Und es gab Ostdeutsche, die meinten, ihre Väter hätten auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden, während die Faschisten nur in der BRD lebten.

Immerhin aber war ein Teil Deutschlands wenigstens in der Lage zu erkennen, welche Seite der Geschichte die richtige war, während der andere Teil in Ressentiments, Ambivalenzen und Trauer blieb, bis ein Bundespräsident ihm erklärte, dass es befreiend sein kann, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Den Antifaschismus der DDR zu würdigen heißt überhaupt nicht, seine Widersprüche zu übersehen. Aber bis Ost und West bereit sind, sowohl die Leistungen wie auch das Fehlschlagen ihrer jeweiligen Auseinandersetzungen mit der Nazizeit ernsthaft zu diskutieren, wird keine vollkommene Wiedervereinigung möglich sein. Der Vorschlag, den 8. Mai zum Nationalfeiertag zu erklären, wäre dann wirklich sinnvoll, wenn der Feiertag solche Diskussionen ermöglicht.

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11 Kommentare

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  • Kontinuität der Posen bei scheinbarer Geschichtsaufarbeitung in Deutschland von Albert Speers Verteidigungsplädoyer vorm Internationalem Nürnberger Strafgerichtshof 1946 im allgemeinen Bekenntnis zu Verantwortung für die NS Verbrechen, ohne Bekenntnis persönlicher Schuld, über DDR Antifaschismus, Friedensvertrag 1958, Willy Brandts Kniefall Pose 1970 vor Warschauer Ghetto Mahnmal, bis zu Richard von Weizsäckers Rede 1985 voller Posen verbaler Aufgeschlossenheit vom 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung auch für uns Deutsche, ohne rechtliche Substanz, Ansprüche von Holocaust Überlebenden, Millionen Zwangsarbeitern auf Entschädigung für vorenthaltenen Lohn, Sozialbeiträge privater, kommunaler, kirchlicher Arbeitgeber 1933-1945 rechtlich geregelt zu administrieren?

    Nach Ende des Apartheid Regimes Südafrika 1994, mit Nelson Mandelas Präsidentschaftsende 1999 blieb es, trotz Wahrheitskommissionen, nur bei Posen der Verbesserung schwarzer Bevölkerung.







    Was will ich damit sagen, Geschichtsaufarbeitung ohne rechtliche Substanz für Entschädigung, Ausgleichsmechanismen, Gleichstellung von Opfergruppen, geschädigten Personen bleibt vergebliches Werk, erreichten Aufarbeitungserfolg in wirtschaftlichen Konzepten, Strukturen nachhaltig zu verankern. So schreibt Bernie Sanders in seinem Buch „Unsere Revolution“ 2016 S. 297-418 zur Verbessrung der Stellung indigener Amerikaner, von denen es 2, 5 Millionen landesweit und in US Reservaten gibt, es mangelt an Beschäftigung, 80 % indigener Jugendlicher in den USA sind arbeitslos, die meisten ohne Schulabschluss, Drogenabhängigkeit, Alkoholsucht sei groß, die Sterblichkeit liege bei Männern bei 48 , bei Frauen bei 52 Jahren. How dare you!, Puerto Rico in der Karibik ein US Bundestaat darf die Bevölkerung zwar Präsidentschaftskandidaten mit nominieren aber an US Präsidentschaftswahlen nicht selber teilnehmen, das will Sanders ändern.

    www.freitag.de/aut...zbubische-90-jahre

  • Ein bedenkenswerter Artikel, der leider durch ihre naive Sicht auf den Antifaschismus der DDR eine starke Schwäche hat. Dabei könnte sie selbst aus ihren Artikel genauso wach die DDR beurteilen. "Scham" war z.B. keine Kategorie des DDR-Antifaschismus. Man war auf der Seite der Sieger und der "Faschismus" war als besondere Form des Kapitalismus definiert. "Schuld" hatte somit eine Clique von Kapitalisten und Nazis, der Rest, insbesondere die Arbeiterklasse, wurde befreit. Im kalten Krieg saßen die Schuldigen dann in Bonn. Für das Aufarbeiten der eigenen persönlichen Rolle des Einzelnen, für Eingeständnis von Verantwortung, Schwäche, Verführbarkeit, Taten, ja, eben auch für Reue war kein Platz. Als ich als junger Mensch in den 80er begann, mit Zeitzeugen zu reden, endeten viele Gespräche in Tränen, weil die Gesprächspartner*innen oft das erste Mal nach ihrer Rolle und und ihrer eigenen Schuld, unter deren Nichtbenennen können sie selbst gelitten haben, gefragt wurden.



    Und zur Opferhierachisierung und den Anteil Altnazis in der SED und NVA gibt es genügend Studien, die einer Wissenschaftlerin bekannt sein müssten.



    Mich verwundert i.Ü. vor diesem Hintergrund auch nicht die Stärke der Rechten hier im Osten.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Aufarbeitung aktiviert Antikörper



    ==



    Das ich in der Stadt geboren wurde in der ich geboren wurde war reiner Zufall: die Prämissen welche diese Stadt für mich als Geburtsort bestimmten war der Nationalsozialismus der Europa in ein Armageddon verwandelte.



    Diejenigen welche WW2 in dieser Stadt erlebten erzählten immer das die Stadt 3 Tage nach dem letzten Bombenangriffen gebrannt hätte - und das der höchste 118m hohe Glockenturm als einer der vielen Kirchen 3 Tage lang als rotglühendes brennendes Fanal über der Stadt gestanden habe.



    Von einem Ereignis habe ich allerdings erst letzte Woche erfahren:



    Drei heranwachsende Jugendliche hatten sich während der langsam erlöschenden Brände auf den Marktplatz gewagt und wunderten sich über die Geräusche die von dort zu Ihnen hinüber drangen.



    Es war das Stöhnen und Wimmern von verschleppten Zwangsarbeitern die dort von Nazi - Schergen aufgehängt wurden – wegen des Vorwurfes, dass sie halbverbrannte Nahrungsmittel aus der brennenden Stadt entwendet hätten.



    Die Jugendlichen beobachteten, wie sich die Nazi Schergen an die schon hängenden und zuckenden Leiber in der verkohlten Stadt hängten um den Tod der Hungernden herbei zu führen.

    Wenn Susan Neiman beschreibt, dass Vergangenheitsaufarbeitung keine Impfung ist, die das Aussterben des Rassismus garantiert, mag dass eine richtige Beobachtung sein. Aber die Ereignisse aus dem kollektiven Gedächtnis hervorzurufen - zu publizieren - und in den Kontext zu stellen, ist eine hinreichende Bedingung um zu begreifen wohin eine restlose Auflösung sämtlicher Werte und Vorstellungen von Gerechtigkeit durch Nazis und Faschisten geführt hat. -







    An welcher Stelle der Verleugnung oder an welcher Grad Zahl der verbreiteten Lügen Nazismus und Faschismus wieder aufs Neue beginnen – darüber lässt sich streiten. Darüber aber wohin die Auflösung sämtlicher Wertvorstellungen durch Rechtsradikalpopulisten, Faschisten und Nazis führt lässt sich nicht mehr streiten.

  • Ich schließe mich Jürgen Klutes Dank In vollem Umfang an.

    Susan Neiman hat in vielen Punkten recht, finde ich. Ihren Vergleich möchte ich allerdings ein wenig differenzieren. Auch im Falle einer Impfung genügt es nicht, wenn ein Arzt eine Spritze gibt. Wenn das Abwehrsystem des Patienten nicht „anspringt“ auf den Impfstoff, gibt es keine Immunisierung. Nur der Geimpfte selbst kann einen wirksamen Schutz des eigenen Körpers aufbauen.

    Noch komplizierter verhält es sich mit der Vergangenheitsbewältigung. Das psychische Immunsystem lässt sich nicht ohne weiteres mit einem Nadelstich aktivieren. Scham allein befreit noch niemanden. Sie kann nur dann etwas verändern, wenn der Betroffene am Ende seines langen, schwersten Weges ein lohnendes Ziel erkennen kann.

    In sofern hatten es die „Ossis“ leichter. Sie durften sich nicht nur als die kleinen Brüder der großen russischen Sieger verstehen, sondern auch als von staatswegen entnazifiziert. Den „Wessis“ haben die noch lebensunerfahrenen 68-er mit ihrer wütenden Pauschalkritik keine Chance auf Rehabilitation gelassen. Wichtiger war ihren, sich abzunabeln von ihren übermächtigen Bürger-Vätern. Dazu kam, dass es im Westen viel mehr zu erben gab und man sich sehr genau überlegt hat, ob man auf (Total-)Opposition machen wollte. Ganz abgesehen davon wussten die West-Alliierten tatsächlich mehr anzufangen mit der früheren deutschen Funktionselite als die russischen Besatzer. Denen ist auch ein gewisser Ruf vorausgeeilt, sodass sie keine große Wahl hatten mit Blick auf die einstige Elite Deutschlands. Mit positiven Folgen.





    Dass irgend eine staatlich verordnete Maßnahme allein das Aussterben des Faschismus oder auch des Rassismus garantieren kann, glaube ich jedenfalls nicht. Genau deswegen wünsche auch ich mir einen neuen Feiertag am 8. Mai. Vielleicht, dass der den Deutschen die Gelegenheit zum miteinander reden gibt, nicht nur zum konsumieren staatstragende Worte mehr oder weniger glaubwürdiger Patriarchen.

  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    "Immerhin aber war ein Teil Deutschlands wenigstens in der Lage zu erkennen, welche Seite der Geschichte die richtige war" Nein die DDR hat erkannt das der Faschismus falsch war ist aber ihrem eigenen mörderischen System hinterhergelaufen (was in Ostdeutschland Gott sei dank bei weitem nicht so viele Menschen das Leben kostete wie das dritte Reich in der Welt.)

  • Frau Neimann, bei Ihrer größtenteils positiven Bewertung der untergegangenen DDR sollten Sie bedenken: Den Weg in die Öffentlichkeit fand dort nur das, was nach Meinung der Machthaber der Staatsideologie entsprach. Es gab, im Gegensatz zum damaligen Westdeutschland, keine Opposition oder freie Medien, die sich um den „Rest“ hätten kümmern können.



    Niemals wurden Hakenkreuz- und andere Schmierereien in der Ost-Presse erwähnt, denn was nicht sein konnte, durfte nicht sein! Auch das liebevoll gepflegte Vorurteil, wonach die Ostdeutschen „auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden (hätten), während die Faschisten nur in der BRD lebten“, gehört dazu!



    Aber wie ist dann zu erklären, dass nach 1989 ausgerechnet im Osten des vereinten Deutschlands faschistisches Gedankengut auf fruchtbaren Boden fiel?

  • Nun ja, zu echtem Antifaschismus gehört für mich aber auch die kantische Ermutigung, selber nachzudenken und die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Das war in der DDR eher nicht gegeben.



    taz.de/Umgang-mit-...-der-DDR/!5679500/

    Und das mit den Helden finde ich grundsätzlich schwierig. Zum einen, weil nur eine kranke Gesellschaft Helden braucht: In einer gesunden Gesellschaft müssen Menschen nicht alles riskieren, um das Gerechte zu tun.

    Das andere Problem besteht darin, dass die Rede von Helden Menschen dazu ermutigt, bestimmte Dinge zu tun, um danach bewundert und als Helden gefeiert zu werden. Solch eine Motivation birgt aber die Gefahr in sich, dass die Reflektion, was eigentlich richtig ist, zweitrangig wird. Die resultierenden Aktionen richten dann schnell am einen Ende mehr Schaden an, als sie am anderen Ende Gutes tun.

    Klar, die Bewunderung gegenüber Menschen, die trotz aller Gefahr das Richtige tun, kann uns motivieren, ihnen nachzueifern. Muss man sie deshalb aber gleich als Helden bezeichnen?

  • Ein interressanter Artikel, danke.



    Mangelnde Vergangenheitsbewältigung heißt, im Irrtum zu verharren und eine Bereitschaft zu haben für Verdrängungen und damit verbundenen "alternativen" Fakten.



    Mir bietet der Artikel eine plausible Schlußfolgerung für das, was den USA heute durch ihren populistischen Präsidenten geschieht als Konsequenz all der Verdrängungen.



    Und was uns in Deutschland auf Grund permanenter Verarbeitung bislang erspart blieb.

  • Danke für diesen sehr differenzierenden und konstruktiven Blick auf die Geschichtsaufarbeitung in Deutschland – auch im Blick auf die Differenzierungen zwischen Ost und West. In den letzten Jahren kann man manchmal tatsächlich den Eindruck bekommen, das all die Aufarbeitung wirkungslos geblieben ist. Ein Perspektivwechsel und mehr Vertrauen in die langfristige Wirkung der Aufarbeitung und die Anerkennung, dass Aufarbeitung nicht widerspruchslos passiert oder passieren kann, haben etwas Ermutigendes.

  • Historisch falsch

    Der "Antifaschismus" in der DDR war gar keiner, sondern eine Form des Stalinismus.



    "Immerhin aber war ein Teil Deutschlands wenigstens in der Lage zu erkennen, welche Seite der Geschichte die richtige war..." . So,so. Und das war dann ausgerechnet die DDR! Vorwärts immer, rückwärts nimmer.



    Sorry, aber diese merkwürdige Auffassung ist durch die historischen Tatsachen offenkundig nicht gedeckt.

  • Verehrte Frau Neimann,

    sie sprechen mit diesem Text allen Kriegs und Nachkriegsgenerationen der Deutschen aus der Seele. Wenn Sie sagen, "Es geht nun darum, dieses Signal (Holocaust- Mahnmal in Berlin) als Leistung anzuerkennen, denn Deutschland ist die erste Nation, die die Perspektive vom Opfer zum Täter gewechselt hat." Zitat Ende



    ..so bedenken Sie, dass ehrliche Aufarbeitung den schmaler Grad zum Büßerstolzes nicht überschreiten sollte, wie H.M.Broder hier so präzise erläutert, wenn ich ein Zitat aus dem folgenden Link herausstellen darf: henryk-broder.com/.../blog/article/5505



    Zitat: “In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal”, sagte Eberhard Jäckel als Festredner bei dem “Bürgerfest” zum fünften Jahrestag der Inauguration des Berliner Holocaust-Mahnmals. Zitat Ende



    Wirklich befremdlich finde ich aber Ihren Vergleich des Holocaust mit den Südstaaten, die sich immer noch als Opfer verstünden. Damit sprechen Sie dem deutschen Ressentiment aus der Seele, wie ich oben schon sagte. Ich gehöre zu einer Generation der Deutschen, die im Milieu der heimkehrenden deutschen Soldaten aus Russland groß geworden ist. Von deren Kindern, die 68er, wurde ich dann in der Schule unterrichtet. Beide hatten (aus ihrer jeweiligen Perspektive) die gleichen Feindbilder. Die einen, berichteten nur von den Bomben auf Dresden, die anderen hatten nur die Bomben auf Vietnam im Sinn. Die einen hatten mir vom Holocaust nichts erzählt, die anderen waren ab 1967 mit der "Besatzung" beschäftigt. Und heute....., verfolgen Sie unsere Medienlandschaft. Unabhängig davon, ob sie gute oder weniger gute Politiker sind, trifft der deutsche Hochmut Nentanjahu, Putin und Trump am meisten, genau die Repräsentanten der Völker und Staaten, die den größten Blutzoll für die Beseitigung des NS- Regimes aufbringen mussten.