Deutsche Gedenkkultur: Privileg und Gedenken

Zwischen 8. Mai und Mbembe: Es ist Zeit, eurozentrische Geschichtsbilder zu überwinden – gerade in Deutschland.

Ein Soldat der U.S. 12. Armored Division verhaftet deutsche Soldaten im April 1945 Foto: Everett Collection/imago images

Zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus trugen sieben Millionen Soldaten aus den Kolonien bei, doch der Sieg war immer weiß. General de Gaulle wollte Afrikaner nicht ins befreite Paris einmarschieren sehen – das Wetter dort sei für sie nicht bekömmlich, sagte er.

Bei den US-Truppen kämpfte eine Million Afroamerikaner, doch auf den Fotos von der Befreiung der Lager Buchenwald und Dachau sind die beteiligten schwarzen Soldaten nicht zu sehen. Als sie heimkamen, gab es statt Medaillen segregierte Plätze im Bus. „Die Nationen, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten, waren noch viele Jahre nach Kriegsende von der rassischen Minderwertigkeit der Schwarzen überzeugt“, notierte 1978 der jüdisch-amerikanische Historiker George L. Mosse, „und sie schienen nicht zu erkennen, dass jeglicher Rassismus – ob er nun auf Schwarze oder auf Juden zielte – aus demselben Stoff war.“

Derselbe Stoff? Über die Annahme des Emigranten, die großen Antihumanismen seien wesensähnlich, wird heute ein Muster neuer Abgrenzungen geworfen. Der Antisemitismus erstrahlt darin wie ein dunkler Solitär des Bösen, gleichsam ohne ideologische Verwandtschaft. Und es gibt ihm gegenüber nur zwei Kategorien von Menschen: Reine und Schmuddelige. Die Reinen dürfen richten. Ob ihnen dabei Rassismen unterlaufen, ist nicht von Belang, befleckt die Reinheit nicht.

Als Achille Mbembe in Deutschland von etablierten Institutionen hofiert wurde, erfüllte er bereits eine Funktion: Wer einen schwarzen Philosophen ehrt, stellt sich auf modische Weise frei von Rassismus. Nun ist die Party vorbei, Mbembe wird umgekehrt funktionalisiert: das postkoloniale Denken, ab in die Schmuddelecke. Niemand nennt ihn direkt einen Antisemiten, doch der Vorwurf hängt über ihm und wird bleiben.

Man muss Psychologie zu Rate ziehen, um sich die Ironie zu erklären: Während sich Intellektuelle darüber erhitzen, welche Israel-Vergleiche ein gebürtiger Kameruner ziehen darf, ziehen auf deutschen Straßen Corona-Protestler auf, die sich Judensterne anheften und Anne-Frank-Bilder hochhalten, gegen die „Hygienediktatur“. Wann wurden jüdische Opfer zuletzt so verhöhnt?

Das Missverhältnis, was die Aufmerksamkeit für Gefahren betrifft, lässt sich zumindest teilweise mit einem seltsamen Besitzanspruch auf die Interpretation der Schoah erklären. Ein deutsches Phänomen, klassisch verkörpert vom Antisemitismusbeauftragten Felix Klein. Mbembe habe als „ausländischer Wissenschaftler“ „eingegriffen“ in eine Frage, die zur deutschen Identität gehöre. Bei dem „Philosophen aus Afrika“ gehe vieles durcheinander, „und hier müssen wir doch mal ganz klare Linien einziehen, um zu sehen, was ist zulässig […].“

Finger weg von unserer Schoah! Welch eine Schulmeisterei. Worin wurzelt der Glaube, sich das leisten zu können? In der exklusiven Beziehung zu Israel. Stramm an Israels Seite zu stehen, was immer dessen Staat und Regierung unternehmen, ist ein mächtiger Quell der Entlastung. Die meisten Deutschen sind heute überzeugt, es habe in der eigenen Familie keine TäterInnen gegeben. Die einstige Schuld hat sich abstrahiert, und für dieses Abstrakte gibt es die Beziehung zu Israel. Eine vergleichbare Identifikation mit den Opfern hat sich beim Kolonialismus nicht entwickelt. Wo kein massenhaftes Schuldgefühl entstand, ist auch keine Schuldabwehr nötig.

Es gibt gute Gründe, die Schoah wegen des Ausmaßes und des Charakters der Vernichtung als einzigartig zu betrachten. Aber die Singularität taugt nicht als Waffe, um anders gelagerten Schmerz in die zweite Reihe zu verweisen – und schon gar nicht darf sie Waffe in der Hand von Deutschen sein. Warum fällt es so schwer zu dulden, dass Menschen, die nicht unsere Tätergeschichte teilen, einen anderen Blick auf Israel haben? Für die Nachfahren von Kolonisierten, die seit Jahren ein deutsches Mahnmal für koloniales Unrecht fordern, ist es ein weißes Privileg, ausschließlich des Holocausts zu gedenken.

Bezüge zu anderen Verbrechen herzustellen, mindert das Gewicht der Schoah nicht. Hannah Arendt hat bereits beschrieben, wie frühkoloniale Vorgänge im südlichen Afrika die Entstehung eines modernen „Rassenantisemitismus“ förderten; den Buren sei jeder Jude wie ein „weißer Neger“ erschienen.

Heute stehen wir an einer Gabelung: zwischen einem verengten Gedenken, das alles auf den Fixpunkt Israel setzt, und einer neuen Weise, die Schoah in Beziehung zu setzen zu anderen epochalen Verlusten an Humanität. In der Einwanderungsgesellschaft treibt manche dazu auch ein Gefühl eigener Gefährdung. Gleichzeitig erzwingen Forderungen aus dem globalen Süden, verdrängtes Unrecht anzusehen. Die Niederlande, 1945 eben erst befreit, konnten ein freies Indonesien nicht ertragen, kämpften mit Massakern um die Kolonie. Kürzlich sprach ein Gericht in Den Haag Hinterbliebenen eine Entschädigung zu, der Staat hatte sich lange gewehrt. Europa lernt mühsam, seine außereuropäischen Opfer zu respektieren.

Was die Schoah betrifft, so wird sie womöglich weniger deutsch, ohne dass dies von den Deutschen die Verantwortung nähme. Vorstellbar ist das nur als tastender Prozess. Aber warum könnten, wenn es um Erziehung zur Empathie geht, künftig nicht Nachfahren von Überlebenden der Schoah und des namibischen Genozids gemeinsam in deutschen Schulklassen sitzen?

Das Münchner NS-Dokumentationszentrum bat internationale Künstler, in einen Dialog um Erinnerung einzutreten; unter anderem ist dort nun zu sehen, wie ein indigener Maler Kanadas weiße Mythen dekonstruiert. Die Kunstwerke sollen, nach einer Formulierung von James Baldwin, „Fragen offenlegen, die bisher durch Antworten verborgen wurden“.

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