Italien als Corona-Epizentrum Europas: Die Kurve weist nach unten

Die Zahlen der Sterbefälle und Neuinfektionen weisen endlich nach unten – aber letztlich muss es viel höhere Fallzahlen gegeben haben.

Arzt in Schutzkleidung vor Patient im Krankenbett

Versorgung eines Coronavirus-Patienten auf einer Intensivstation in Bologna Foto: Massimo Paolone/dpa

ROM taz | Einen Monat lang kam in Italien jeden Abend pünktlich um 18 Uhr nur eines: die neueste Katastrophennachricht. Zu dieser Stunde verkündet Angelo Borrelli, Chef des nationalen Zivilschutzes und oberster Covid-19-Bekämpfer, die Entwicklung der Pandemie mit den neuesten Ansteckungs- und Todesfällen.

Knapp 140.000 Corona-Fälle meldete Borrelli am Mittwochabend und insgesamt 17.669 Tote. Mit dieser Zahl hält Italien, das Ende Februar zum Epizentrum der Pandemie in Europa wurde, weltweit den traurigen ersten Platz.

Doch sieht man Borrelli und die Wissenschaftler, die ihn auf die tägliche Pressekonferenz begleiten, in den letzten Tagen deutlich positiver gestimmt. „Nur“ 542 Tote gab es am Mittwoch zu vermelden, die Kurve der Sterbefälle weist seit dem 27. März – als 919 Menschen starben – nach unten.

Mindestens ebenso wichtig ist die Tatsache, dass sich die Kurve der Neuinfektionen deutlich abgeflacht hat. 3836 Fälle wurden am Mittwoch registriert, damit stiegen die Infektionen nur noch um 2,8 Prozent, während der tägliche Zuwachs am 10. März über 20 Prozent, am 20. März – 10 Tage nach Inkrafttreten des Lockdown – immer noch 14 Prozent betragen hatte.

Die Hoffnung hat jetzt eine reale Grundlage

Endlich, einen Monat nachdem das ganze Land in Hausarrest geschickt wurde, hat sich die Kurve abgeflacht, scheint das Plateau erreicht, besteht die Hoffnung, dass die Pandemie in den nächsten Wochen zurückgedrängt werden kann.

Vorneweg steht dafür eine weitere Zahl. Seit fünf Tagen sinkt die Zahl der Intensivpatienten kontinuierlich. In der Spitze lag sie am 3. April bei über 4.000, seitdem ist ein Rückgang um knapp 10 Prozent zu verzeichnen.

Erhalten bleibt Italien jedoch ein weiterer Negativrekord: Gerechnet auf die registrierten Fälle verzeichnet es eine Todesrate von fast 13 Prozent. In der am härtesten betroffenen Lombardei steigt sie gar auf exorbitante 18 Prozent. Das hieße: Dort wäre fast jeder fünfte Infizierte am Ende gestorben. In Deutschland dagegen ist eine Sterblichkeit von nur 2 Prozent zu beklagen.

Zweifel an der Zuverlässigkeit der Daten

Experten lässt das vor allem an der Zuverlässigkeit der Daten zweifeln. Mittlerweile sind sich die Epidemiologen einig: Die Infektionen sind mindestens um den Faktor zehn unterschätzt. Der Datenanalytiker Matteo Villa geht davon aus, dass sich in Italien 1,6-1,8 Millionen Menschen angesteckt haben, dass in der Lombardei eine Infektionsrate von 8 Prozent, in der Provinz Bergamo von 20 Prozent angenommen werden muss.

Das hieße, dass allein in der Region mit ihren zehn Millionen Einwohnern statt der offiziell gemeldeten 50.000etwa 800.000 Fälle gegeben wären.

Zugleich aber ist davon auszugehen, dass die Zahl der Todesfälle ebenfalls dramatisch unterschätzt ist, vor allem in der Lombardei, in der bisher knapp 10.000 Opfer registriert wurden. Italiens Statistisches Amt ISTAT verglich die Todesstatistiken des Zeitraums 1.-21. März 2020 mit denen der fünf Vorjahre. In der Provinz Bergamo vervierfachte sich die Zahl der Verstorbenen, doch nur 2000 der mehr als 4000 zusätzlichen Toten waren als Covid19-Fälle ausgewiesen.

Alle jene Menschen, die in Altenheimen, die auch zu Hause starben, kommen in der Pandemiestatistik einfach nicht vor. Verdoppeln, womöglich gar verdreifachen müsse man die Covid-Todeszahlen für die Lombardei, meint deshalb der Datenanalytiker Marco Farina – und damit läge die Zahl der wirklichen Coronavirus-Opfer in Italien zwischen 30.000 und 40.000.

„Ground Zero“ als Lombardei

„Hier ist eine Atombombe eingeschlagen“, bilanzierte am Mittwoch der regionale Gesundheitsminister Giulio Gallera das Geschehen in der Lombardei. Die Bilder von den Kolonnen der Militärlastwagen, die Nacht für Nacht Särge aus Bergamo in andere Regionen transportierten, weil die Krematorien überlastet waren, gingen um die Welt – und wurden in Italien zum Symbol für das Ausmaß der Tragödie.

Verständlich wird vor diesem Hintergrund, dass die Regierung stark zögert, nach Ostern den Lockdown aufzuweichen. „Vorsichtig und graduell“ müsse der Einstieg in die „Phase zwei“ erfolgen, sagt Gesundheitsminister Roberto Speranza. Die Experten der Regierung lassen wissen, in dieser Phase müsse es darum gehen, „mit dem Virus zu leben“, ohne erneut einen katastrophalen Ausbruch der Seuche wie im Februar-März in der Lombardei zu erleben.

Das heißt, dass sich an der sozialen Distanzierung erst einmal so gut wie nichts ändern soll. Schulen und Universitäten werden vor der Sommerpause kaum wieder aufmachen. Allein geöffnete Schulen, rechnet die Regierung vor, würden täglich zwölf Millionen Menschen auf die Straße und in öffentliche Verkehrsmittel bringen.

Gedacht ist zunächst nur an eine vorsichtige Lockerung des Produktionsstopps in jenen Industriebetrieben, die zugesperrt wurden, weil sie „nicht lebensnotwendige Güter“ herstellen, gedacht auch daran, etwa Buchhandlungen oder Konditoreien wieder die Öffnung zu erlauben.

Wann die generelle Ausgangssperre gelockert wird, wann auch Restaurants und Bars wieder aufmachen können, steht dagegen noch in den Sternen.

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