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Geschichte der IdentitätspolitikEs darf nicht geschwiegen werden

Minderheiten bedienen sich seit Jahrzehnten bei den Mitteln der Identitätspolitik, um ihre Rechte einzufordern. Das muss auch so bleiben.

Millî-Görüş-Demonstration mit Nationalflaggen der Türkei in Frankfurt Foto: Jürgen Schwarz/imago

T hemen der Identitätspolitik sind unter anderem: kulturelle Aneignung, Deutungshoheit sowie nicht zuletzt, dass marginalisierte Gruppen endlich für sich selber sprechen.

Der Begriff Identitätspolitik hat seinen Ursprung in den USA. Dort begannen bereits in den 1980er Jahren marginalisierte Gruppen eine kollektive Wahrnehmung zu entwickeln, die auf verschiedenen individuellen Identitäten aufbaute. Identitätspolitik war und ist immer ein Mittel der Minderheiten – und es ist wichtig, dies beizubehalten.

In Deutschland leben Minderheiten, die in ihren Herkunftsländern zur Mehrheitsgesellschaft gehören. Beispielsweise sunnitische Muslim*innen im Irak oder in der Türkei oder schiitische Muslim*innen im Iran.

In einer globalisierten Welt werden Konflikte aus den Herkunftsländern auch nach Deutschland transportiert. Das geschieht auf vielen Wegen. Einer von ihnen ist die Religion. Reaktionäre Bewegungen oder Regime wie Saudi-Arabien, Iran, Türkei, Katar versuchen über Moscheegemeinden und Organisationen politisch Einfluss zu nehmen. Zu nennen wären die türkischen Ditib-Moscheen, Millî Görüş, die saudischen Stiftungen, die blaue Moschee in Hamburg. Auch innerhalb muslimischer Communitys gibt es fundamentalistische, antidemokratische, antisemitische und rassistische Tendenzen.

Doppelte Standards

Diese Tatsachen müssen benannt und kritisiert werden. Auch Nichtmuslime dürfen Kritik an diesen Zuständen üben. Es ist nicht islamophob, diese zu kritisieren. Und nicht nur von außen muss diese Kritik kommen, sondern vor allem innerhalb dieser Communitys muss sie geübt werden.

Zwei Beispiele: Wie kann es sein, dass die meisten türkisch-muslimischen Communitys zum völkerrechtswidrigen Einmarsch in Rojava schweigen oder kaum Muslim*innen 2014, als der Völkermord an den Ezîden im Namen des Islam verübt wurde, auf die Straße gingen und sich auch später nicht solidarisch zeigten?

Sobald es um rassistische Vorfälle bezogen auf ihre Community in Deutschland geht, ist die Empörung zu recht groß. Es ist schon sehr auffällig, dass der Aufschrei nur dann so groß ist, wenn es um ihre eigene Community geht. Das sind doppelte Standards. Hier ist derselbe Mechanismus am Werk wie bei der Causa Özil. Man kann einer marginalisierten Gruppe angehören, was aber nicht bedeutet, dass man deswegen nicht für eigene antisemitische, rassistisch und faschistische Positionen kritisiert werden darf.

Diese doppelten Standards zerstören die Errungenschaften der Identitätspolitik. Und genau deswegen darf dazu nicht geschwiegen werden. Ezîd*innen, Alevit*innen, Jüd*innen, Christ*innen, Zoroastrier*innen sind im Nahen Osten religiöse Minderheiten. Sie wurden in Genoziden ermordet, vertrieben, gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Der Kampf gegen rechts muss auch immer ein Kampf gegen den politischen Islam sein.

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Ronya Othmann
Kolumnistin
Kolumnistin, Autorin, Lyrikerin und Journalistin. Schreibt zusammen mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress
Cemile Sahin
Künstlerin
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8 Kommentare

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  • Die Betrachtung auch der eigenen Diskriminierungspotenziale und die folgende Selbstkritik eröffnet auf jeden Fall eine strategische Perspektive jenseits der Stagnation in der eigenen Community.

  • "Zwei Beispiele: Wie kann es sein, dass die meisten türkisch-muslimischen Communitys zumvölkerrechtswidrigen Einmarsch in Rojavaschweigen"

    Weil sie einverstanden waren, sie mit ihrem Leben beschäftigt waren oder sich nicht getraut haben?

    "oder kaum Muslim*innen 2014, als der Völkermord an den Ezîden im Namen des Islam verübt wurde, auf die Straße gingen und sich auch später nicht solidarisch zeigten?"

    Das könnte 1:1 von Republikanern nach dem Anschlag von einem Moslem in den USA kommen. Kam auch in der Vergangenheit mehrfach so. Warum müssen sich alle Muslime weltweit eig. bei jedem Vorfall immer von allen schlechten Muslimen öffentlich distanzieren? Ist es so schwer zu verstehen, dass das kein homogenes Kollektiv ist, sondern viele Muslime sich mit solchen Leuten nicht identifizieren? Genauso wie nicht jeder Jude andauernd erklären muss, ob und wieso er die neusten Aktionen Israels gut findet. Wie sollen Integration und/oder Säkularisierung funktionieren, wenn Menschen ständig nur auf ihre Herkunft/Religion hingewiesen und festgenagelt werden?

    • @Devil's Advocate:

      Wenn etwas in meinem Namen geschieht, fühle ich mich aufgerufen mich dazu zu verhalten. Die Frage würde ich in diesem Sinne auf all diejenigen Muslime beschränken, die sich mit ihrer Religion identifizieren.

    • @Devil's Advocate:

      Dafür gehen dann deutsche auf die straße und dempnstrieren für andere.....

    • @Devil's Advocate:

      "...kein homogenes Kollektiv...." – Wobei der gesamte Identität-Ansatz ja genau davon auszugehen scheint, dass es homogene Gruppen gäbe – "communities" – die sich dann durch einzelne Identitätspolitiker:innen, die quasi wie Filialpersönlichkeiten dieser Communities fungieren, zu Wort melden. Ich frage mich immer, woher diese Sprecher:innen die "Berechtigung" her nehmen, nicht nur "für" bestimmte Menschen die Stimme zu erheben, sondern so zu tun, als SEIEN sie diese Stimme. Und was, wenn eine aus dieser community alles ganz anders sieht und/oder keinen Bock drauf hat, "identisch" mit der community zu sein?

  • Der Artikel ist gut geschrieben, und die Autorin hat meinen vollsten Respekt für Ihre Position.

    (Liebe Online-Redaktion, die Überschrift ist irreführend und trifft den Kern des Artikels nicht.)

    Ich befürchte allerdings, dass das, was sie kritisiert, systemimmanent ist.

    Wer seine Partikularidentität in dern Vordergrund rückt und sich dadurch als Opfer betrachtet, dem fällt es einfach nicht leicht anzuerkennen, dass die eigene Gruppe selbst andere zu Opfern macht.



    Das halte ich für einfach menschlich.

    Hinzu kommt, dass nicht nur die Konflikte, sondern eben auch der Umgang mit Kritik aus den Herkunftsländern importiert wird.

    Wenn dort Kritik weitgehend gesellschaftlich akzeptiert wäre, gäbe es vermutlich deutlich weniger zu kritisierende Zustände.

    Identitätspolitik existiert in den USA seit den 80ern, und heute gibt es Trump als Präsidenten, der bei seinen Wählern auch die Identitätssaite zum klingen bringt.

    Hier fangen auch die ersten Ganz-außen-Gruppen an, von "weißer Identität" zu faseln.

    Brauchen wir in 20 Jahren einen Trump als Bundeskanzler?

    Könnten wir vielleicht doch aus den Fehlern der USA lernen?

  • Das ist mir zu wenig durchdacht.

    Der Begriff der Identitäspolitik mag in den USA der 70er enstanden sein, die Sache selbst ist schon älter. Ein bekanntes Beispiel ist die Arbeiterbewegung, deren Narrativ des Klassenkampfes auf der Basis der Identitätspolitik steht.



    Aber auch so schnittige Fragen wie: 'Warum sind wir Antisemiten?' oder: 'Von Ariern und Juden' sind identitätspolitische Ansätze. Deshalb kann man 1. festhalten, dass grundlegende Ziel von Identitätspolitik ist mehr Macht und Verbesserung der Lebensqualität für die eigene Gruppe. 2. Kann man feststellen, dass eben nicht nur Minderheiten Identitätspolitik betreiben, sondern auch Mehrheiten. ("Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!").

    Vor allem möchte ich aber auf eine mögliche systematische Schwäche hinweisen. Am Anfang des Artikels steht die Forderung der Deutungshoheit [für die eigene Gruppe], am Ende steht, dass die doppelten Standards die Identitätspolitik zerstören. Ist es nicht eine naheliegende Konsequenz der eingeforderten Deutungshoheit für die eigene Gruppe, dass diese Deutungshoheit zu genau diesen doppelten Standards führen kann?

    Identitätspolitik ist insofern sinnvoll, da sie über die Bewusstheit der gesellschaftliche Zusammenhänge und der Ähnlichkeit innerhalb der Gruppe dem Einzelnen ein mächtigeres Kollektiv zur Seite stellt, mit dem die eigenen Ziele eher zu erreichen sind. Schlecht an der Identitätspolitik ist, dass es letztlich eine Klientelpolitik ist und das sie zum Erreichen ihrer Ziele diese Klientel unglaubwürdig stark homogenisiert und unnötig stark essentialisiert.

    • @pitpit pat:

      Gerade gesehen:

      "Dort begannen bereits in den 1980er Jahren marginalisierte Gruppen eine kollektive Wahrnehmung zu entwickeln, die auf verschiedenen individuellen Identitäten aufbaute. "

      Ich dachte, Copy & Paste macht man nur in Doktorarbeiten.

      de.wikipedia.org/w...tit%C3%A4tspolitik