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Parteitag der GrünenGut kontrollierte Lockerheit

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Die Parteispitze der Grünen pflegt drei Mythen: Man sei streitlustig, entspannt und radikal. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Die Grünen, denken viele, seien in besonderer Weise radikal Foto: Kay Nietfeld/dpa

A nnalena Baerbock und Robert Habeck sind unbestritten ein großes Glück für die Grünen. Die beiden Vorsitzenden, die sich am Samstag auf dem Parteitag in Bielefeld erneut zur Wahl stellen, machen vieles richtig. Sie reden kaum über ihre WettbewerberInnen, umso mehr aber über eigene Konzepte. Sie begreifen die Grünen nicht als Milieu- sondern als Bündnispartei, die alle BürgerInnen adressiert. Ihre Sprache ist einladend, nicht ausgrenzend.

Dieses Konzept ist selbstbewusst, attraktiv und zu Recht erfolgreich. Baerbock und Habeck haben jetzt schon eine neue Grünen-Ära begründet. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ihr Erfolg beruht auf drei Mythen, die von der Grünen-Spitze sorgsam gepflegt werden, aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.

Der erste Mythos lautet: Die Grünen seien in besonderer Weise streitlustig. Der Parteispitze ist dieses Image sehr recht. Es klang in einer komplexer werdenden Welt nur zeitgemäß, als Habeck nach seiner Wahl versprach, die Grünen wollten sich „den Streit zumuten“. Ja, er sei geradezu dankbar für Streit. Das ist eine hübsche Erzählung, doch das Verhältnis der Grünen-Spitze zum Streit ist ein instrumentelles.

Sie erlaubt ihn dort, wo er nutzt, dimmt ihn aber herunter, wo er schaden könnte. Der Vorstand erfindet nach einer hitzigen Homöopathie-Debatte lieber in einer Kommission die Wissenschaft neu, als die Delegierten über die Kassenfinanzierung abstimmen zu lassen. Immer frei nach dem Motto: Bist du auf Streit nicht heiß, gründe einen Arbeitskreis.

Modern und unangestrengt

Stattdessen werden Detailfragen beim Mindestlohn zur Kampfabstimmung auf dem Parteitag hochgejazzt, weil die Grünen die Aufmerksamkeit der Medien auf die Sozialpolitik lenken wollen. Die Streitlust der Grünen ist also vor allem eine Inszenierung, ihr fehlt das Spontane, Ergebnisoffene, das echten Streit auszeichnet.

Der zweite Mythos besteht darin, dass die Grünen in besonderer Weise als entspannt oder lässig gelten. Baerbocks und Habecks Performance ist auch deshalb so erfolgreich, weil sie so modern und unangestrengt wirkt. Fotos der gut gelaunten, locker posierenden ChefInnen finden sich in Archiven ohne Zahl, und der Vorsitzende springt nach einem Wahlerfolg auch mal von der Bühne in die Hände seiner Fans.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Dahinter verbirgt sich ein beinhartes Presseregime, das manchmal in einen leichten Kontrollzwang ausartet. Interviews werden in der Autorisierung freihändig umgeschrieben, jede Silbe wird verhandelt. Abgeordnete, die von JournalistInnen angerufen werden, fragen lieber erst beim Vorstand an, um zu erfahren, wieviel und welche Kritik erlaubt sei.

Was bei den Grünen spontan daher kommt, ist also kühl kalkuliert. Lockerheit und Angestrengtheit gehen Hand in Hand. Mit dieser Dialektik passen die Grünen perfekt ins Instagram-Zeitalter. Hinter den bunten, vermeintlich authentischen Schnappschüssen steckt ja in der Regel eine sorgfältige und zeitaufwändige Regie.

Komplett anschlussfähig an konservativ-liberale Politik

Der dritte Mythos schließlich ist der Wichtigste: Die Grünen, denken viele, seien in besonderer Weise radikal. Baerbock und Habeck haben die Formel „Radikal ist das neue Realistisch“ erfunden, um ihre Politik zu beschreiben.

Nun, die Grünen sind alles, aber nicht radikal. Der CO2-Preis von 40 Euro pro Tonne, den sie fordern, bleibt hinter dem zurück, was Wissenschaftler für nötig halten. Wenn es um eine neue Reichtumsverteilung geht, ein Feld, das für die Union sakrosankt ist, flüstern sie lieber, als laut Ansprüche anzumelden. Und der wirtschaftspolitische Leitantrag des Bundesvorstands feiert Markt und Wachstum, um die ökologische Revolution zu schaffen.

Das ist komplett anschlussfähig an konservativ-liberale Politik – vielleicht wird das irgendwann sogar Christian Lindners FDP verstehen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kontrolle, Streitunterdrückung und Mainstreamtauglichkeit sind nicht abwegig, wenn man mehrheitsfähig werden will. Die Grünen schaffen es, ein frisches Image aufrecht zu erhalten, obwohl sie ein hochprofessioneller Apparat sind. So sprechen sie jene an, die sich echte Veränderungen wünschen.

Veränderungswunsch ist kleiner als angenommen

Aber sie adressieren auch eine verbreitete Gefühlslage in der gestressten Mittelschicht. Man gibt sich gerne offen für Neues. Aber eigentlich ist man froh, das Leben zwischen Job, Supermarkt und Elternabend ohne größere Verwerfungen geregelt zu kriegen.

Der reale Veränderungswunsch ist also bei vielen kleiner als der empfundene. Die Grünen liefern das dazu passende Versprechen: Ihr dürft so bleiben, wie ihr seid – und wir kriegen es trotzdem hin mit dem Klimawandel.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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4 Kommentare

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  • Danke für den kritischen und differenzierten Artikel. Erschrocken bin ich tatsächlich über den Hinweis, dass der Leitantrag des Bundesvorstands Markt und Wachstum feiere.

    Bin ja nun, vor lauter Stress zwischen Job, Supermarkt und Elternabend, nicht immer so auf dem laufenden welche Inhalte meine "Leib-und-Magen-Partei" (die mir immer wieder auch Bauchschmerzen verursacht) so vetritt. Letztes Mal. als ich mich damit (zugegebenermaßen nur per Wahl-o-mat) beschäftigt hatte, war sie aber angeblich und trotz Kretzschmanns und Palmers, noch eine erkennbar linke Partei, die meinen eigenen Positionen am nächsten stand. Und welche Partei soll man denn als Linker sonst wählen? Die, welche sich diese Ausrichtung gleich im Namen zu eigen macht? Zu zerstritten. Und einige, immer noch zentrale Figuren sind für mein Empfinden äusserst fragwürdig. Gar nicht wählen? Ist ja wohl keine Option. Vielleicht wie mein Vater damals, als ich gerade begann mich für Politik zu interessieren? Als ich ihn, gerade von der Stimmabgabe kommend, fragte, was er denn gewählt habe, war die Antwort: "Zähneknirschend SPD". Wähle ich demnächst also zähneknirschend grün?

    Ich würde mich so freuen, wenn sie mit Macht ausgestattet würden und diese tatsächlich für eine weitestgehend linke, heisst vor allem auf soziale Gerechtigkeit zielende, Gesellschaftsgestaltung einsetzen würden. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben und hoffe gleichzeitig, dass ich ihnen nicht auf den Leim gehe. Dass sie neoliberal sein sollen, kann ich nicht so recht glauben, aber ich werde versuchen wachsam zu sein.

  • Die grüne Parteispitze hat die Zeichen der Zeit erkannt. Zumindest die Zeichen, die aus Berlin Mitte kommen. Wie Hofreiter mal hier in der taz erklärte, ist ein "gutes Leben" weiterhin möglich. Fragt sich für wen ein gutes Leben möglich sein wird.

    Die Grünen bieten eine Chimäre an, nämlich die, dass sich einerseits nichts ändern muss, wenn ein paar Kleinigkeiten besser durch den Markt reguliert werden. Zum Beispiel per CO2 Steuer. Und dann könnten durch Verbote (Verbrennungsmotoren) neue Wachstumsmärkte geschaffen werden. Scheiß auf die Ökobilanz. Die spinnen wir uns dann schon schön. Wachstum ist weiterhin möglich.

    Frau Baerbock hat heute im Kölner StadtAnzeiger ihre "Visionen" einer grünen, innovativen Marktwirtschaft präsentiert. Marktwirtschaft, weil Innovationen nur durch den Markt möglich sind. Grün, weil weitestgehend auf fossile Energie verzichtet werden soll. Wie viel Jahrzehnte das dauern wird, hat sie nicht gesagt. Und auch nichts dazu, wie die großen Umweltsünder USA, China usw. dazu bewegt werden können, sich den grünen ökonomischen Vorstellungen von Frau Baerbock anschließen zu wollen.

    Da kommt Herr Musk mit seinem Tesla gerade zur richtigen Zeit und befeuert, völlig unkritisch begleitet von deutschen Qualitätsmedien, den Hype um die Elektromobilität.



    Und wie stets gibt es hunderte Wissenschaftler, die diesen Weg bestätigen. Warten wir jetzt noch, was Greta dazu sagt.

    Die Grünen werden genau die Klientel befriedigen, die es sich leisten können, ein paar grüne Ideen zu akzeptieren. Co2 Steuer, einen Elektro-SUV, weitestgehende gesunde und fleischarme Ernährung, ein wenig Ablasszahlung für Flugreisen usw. usw. Ein gutes Leben ist weiterhin möglich. Und das dann mit gutem grünen Gewissen. Keine Partei ist in dieser Hinsicht so verführerisch.

    • @Rolf B.:

      Die Grünen sind für mich mittlerweile die gefährlichste Partei! Sie scheint es zu schaffen, alle Impulse von 'unten' zu embedden und einzuebnen. ....



      68er Bewegung, Friedensbewegung, Umweltschutzbewegung, USA-kritische Bewegung, Nato-raus Bewegung, Frauenbewegung, Bündnis90Bewegung, S21 Bewegung, FF Bewegung: mit Grün wirst du zur Leiche!

      Sie sind nach außen wie Schaumgummi: vermeintlich aufnahmefähig für Anderes, aber im Wahrheit knallhart neoliberal die Interessen einiger Weniger vertretend!

      Aber die einseitige PropagandaMaschine der Medien hatte Erfolg: indem die Hartz-, Renten-, Reichen-, Kriegs-, Privatisierungstaten (z.B.Bahn) nahezu ausschließlich der SPD angehängt wurde, gilt Grün immer noch so unschuldig rein...

      Geschult mit den neuen Mitteln der Propaganda, den Psychospielchen, sind sie gefährlich!

      • @Maria Vorwerk:

        Da gebe ich dir vollkommen recht. Auch ich sehe das neoliberal-bürgerliche Spiel der Grünen kritisch und verabscheue es, dass die Deutschen darauf immer mal auch reinfallen. Sowas finde ich nicht in Ordnung