piwik no script img

Türkischer Einmarsch in SyrienVerlogene Rechtfertigung

Andreas Zumach
Kommentar von Andreas Zumach

Erdoğans Angriff auf Nordsyrien ist völkerrechtswidrig. Eine terroristische Bedrohung gibt es nicht – aber sie wird durch den Krieg wahrscheinlicher.

Nach Luftschlägen setzt die Türkei ihre Offensive in Nordsyrien mit Bodentruppen fort Foto: dpa

D er Krieg der Türkei gegen die Kurden im benachbarten Syrien ist ein eindeutiger Verstoß gegen das in Artikel 2.4 der UN-Charta verankerte Gewaltverbot. Und damit ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts. Das Recht auf militärische Selbstverteidigung aus Artikel 51 der Charta kann die Regierung Erdoğan nicht für sich reklamieren, denn die Türkei wurde nicht angegriffen. Es drohte nicht einmal ein militärischer Angriff – weder unmittelbar noch mittelbar –, den es zu verhindern galt.

Daher muss zur Rechtfertigung die Behauptung einer angeblichen „terroristischen Bedrohung“ herhalten, die man durch Krieg „beseitigen“ wolle. Mit dieser willkürlichen Behauptung haben seit Beginn des globalen „Kriegs gegen den Terrorismus“, den die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen hatten, schon eine Reihe von Regierungen versucht, völkerrechtswidrige militärische Interventionen, Folter und andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Auch im konkreten Fall hält die Behauptung einer „terroristischen Bedrohung“ einer Überprüfung nicht stand. Die Volkverteidigungseinheiten (YPG) haben sich auf den Aufbau und die Verteidigung der Selbstverwaltung in den kurdischen Region Syriens beschränkt.

In den letzten vier Jahren waren sie zudem der effektivste Verbündete der USA bei der Bekämpfung und Vertreibung der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Von der Regierung Erdoğan wurde der IS zumindest in den ersten Jahren des seit Frühjahr 2011 währenden Syrienkonflikts logistisch sowie mit Waffen und Öllieferungen unterstützt. Das macht Erdoğans Rechtfertigung für den Krieg gegen die YPG besonders verlogen.

Doch selbst wenn Erdoğans Behauptung von der „terroristischen Bedrohung“ durch die YPG zuträfe: Sein Krieg wird kontraproduktiv wirken und die „terroristische Bedrohung“ in mehrfacher Hinsicht verstärken. Zum einen ist damit zu rechnen, dass die YPG im Laufe des eskalierenden Kriegs mit der Türkei schon bald die Hafteinrichtungen, in denen sie rund 12.000 gefangen genommene IS-Kämpfer nebst Familien festgesetzt haben, nicht mehr bewachen und kontrollieren können. Dann werden die IS-Kämpfer in Syrien und den Nachbarländern oder auch in Europa untertauchen und dort möglicherweise terroristische Anschläge verüben.

Wachsende Gewaltbereitschaft unter den Kurden

Zum Zweiten wird Erdoğans Krieg zu einer Radikalisierung und eventuell wachsenden Gewaltbereitschaft unter den Kurden führen – sowohl in ihren historischen Siedlungsgebieten in Syrien, der Türkei, im Irak und in Iran wie auch in der kurdischen Diaspora in Europa. Die Forderung nach einem eigenen Staat, der ihnen vor 100 Jahren von den damaligen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien versprochen wurde, dürfte wieder lauter werden. Die Alternative, ein weitgehendes Autonomiemodell, wie es seit 1991 im Nordirak existiert, von den Kurden in Nordsyrien bislang angestrebt wurde und auch für die Südosttürkei vorstellbar wäre, dürfte hingegen an Unterstützung verlieren.

Auch die neue Flüchtlingsbewegung innerhalb Syriens sowie in die Nachbarländer und bis nach Europa, die Erdoğan mit diesem Krieg auslöst, hat destabilisierende Folgen. Zu einem Nährboden von Verzweiflung, Radikalisierung, Extremismus und Gewaltbereitschaft könnte die „Sicherheitszone“ in der bisherigen kurdischen Region in Nordsyrien werden, in der nach Erdoğans Plänen künftig die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei leben sollen – bewacht von türkischen Soldaten.

Ob es zu dieser „Sicherheitszone“ kommt und damit auf unbestimmte Dauer zu einer Präsenz türkischer Truppen auf syrischem Territoriums, hängt allerdings auch vom Verhalten der Regierung Assad in Damaskus ab. Bis zum Redaktionsschluss dieses Kommentars hat sie sich noch nicht einmal zu der völkerrechtswidrigen Invasion durch den Nachbarn Türkei geäußert. Wird Assad die kurdischen StaatsbürgerInnen seines Landes im Stich lassen und ihre Vertreibung zulassen? Oder wird er sie militärisch gegen die Invasoren unterstützen, was zu einem offenen Krieg zwischen Syrien und der Türkei führen könnte? Was das größere Übel wäre, fällt schwer zu entscheiden.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Andreas Zumach
Autor
Journalist und Buchautor, Experte für internationale Beziehungen und Konflikte. Von 1988-2020 UNO- und Schweizkorrespondent der taz mit Sitz in Genf und freier Korrespondent für andere Printmedien, Rundfunk-und Fernsehanstalten in Deutschland, Schweiz,Österreich, USA und Großbritannien; zudem tätig als Vortragsreferent, Diskutant und Moderator zu zahlreichen Themen der internationalen Politik, insbesondere:UNO, Menschenrechte, Rüstung und Abrüstung, Kriege, Nahost, Ressourcenkonflikte (Energie, Wasser, Nahrung), Afghanistan... BÜCHER: Reform oder Blockade-welche Zukunft hat die UNO? (2021); Globales Chaos-Machtlose UNO-ist die Weltorganisation überflüssig geworden? (2015), Die kommenden Kriege (2005), Irak-Chronik eines gewollten Krieges (2003); Vereinte Nationen (1995) AUSZEICHNUNGEN: 2009: Göttinger Friedenspreis 2004:Kant-Weltbürgerpreis, Freiburg 1997:Goldpreis "Excellenz im Journalismus" des Verbandes der UNO-KorrespondentInnen in New York (UNCA) für DLF-Radiofeature "UNO: Reform oder Kollaps" geb. 1954 in Köln, nach zweijährigem Zivildienst in den USA 1975-1979 Studium der Sozialarbeit, Volkswirtschaft und Journalismus in Köln; 1979-81 Redakteur bei der 1978 parallel zur taz gegründeten Westberliner Zeitung "Die Neue"; 1981-87 Referent bei der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, verantwortlich für die Organisation der Bonner Friedensdemonstrationen 1981 ff.; Sprecher des Bonner Koordinationsausschuss der bundesweiten Friedensbewegung.
Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • „Eine terroristische Bedrohung gibt es nicht“

    Hmmm.

    „ Die PKK machte zu den Todesopfern des Krieges von 1984 bis 1999 folgende Angaben: 42.459 Tote auf Seiten des türkischen Staates (Soldaten, Polizisten, Dorfschützer, Kollaborateure etc.); 6.671 Tote auf Seiten der PKK. Hinzu kommen 9.000 bis 10.000 Zivilisten sowie etwa 2.000 Opfer bei Kämpfen unter kurdischen Organisationen im Irak.“ de.wikipedia.org/w...K#Die_1990er_Jahre

    Und das sind nur die 90er Jahre. Bischen viele Opfer der PKK um zu behaupten, dass es keinen Terrorismus gibt.

  • Die Zeitungen der Eliten titeln: „Die Welt darf nicht zuschauen“ Tut sie aber, zwar seit 2011. Seit 8 Jahren wütet der Syrien – Krieg, seit 8 Jahren schaut die Welt zu, wie jeden Menschen in Syrien ermordet oder vertrieben werden. Inzwischen sind lt. UNO 500.000 getötet worden und ca. 11 Mio. Syrer auf der Flucht.



    Die seit acht Jahren andauernde nutzlose EU Diplomatie mit ihrem Regime-Change „Assad muss weg, wie, wissen wir auch nicht, vorher tun wir nichts“ hat bisher kein Ergebnis eingebracht. Die Flüchtlinge sollen auf ihrer Flucht in die EU bis in die Türkei kommen, nicht weiter. Die Türkei soll praktisch als „Schutzwall“ funktionieren und dafür zahlt die EU 0,40 € pro Flüchtling und Tag. Das ist in Wirklichkeit das Schurkenstück. Wieso nimmt Europa nicht die 3 Mio. Flüchtlinge der Türkei ab? Wäre doch kein Problem? Könnten alle in Brandenburg angesiedelt werden.

  • Dass Trump jetzt während der völkerrechtswidrigen türkischen Invasion das US-Militär aus Nord-Syrien abgezogen hat, zeigt, dass nichts ferner liegt, als den Nahen-Osten in irgendeiner Weise zu befrieden, im Gegenteil, der Krieg soll dort mit allen Mitteln weiter am kochen gehalten werden, hier kann man ihnen direkt auf die Finger schauen, wie immer größere Heere von Bürgerkriegsflüchtlingen erzeugt werden.



    - Die UN muss eine Resolution verabschieden die den türkischen Einmarsch als Kriegsverbrechen



    verurteilt



    - Erdogan ist als mutmaßlicher Kriegsverbrecher vor dem ICC in Den Haag anzuklagen



    - Die EU sollte sich dazu entschließen sämtliche Botschafter der Türkei einzubestellen und



    Ankara mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu drohen



    - Wir dürfen es nicht länger zulassen, dass Erdogan die EU weiterhin in der Flüchtlingsfrage erpresst, ggF. sollten wir damit drohen AKP-Türken abzuschieben

    • @Eckart Schirrmacher:

      Was ist denn ein "AKP-Türke"?

      Sollte damit ein legal in Deutschland lebender türkischer Staatsangehöriger gemeint sein - unter welchen Voraussetzungen könnte er ggf. abgeschoben werden?

      Mir fallen zwei Möglichkeiten ein:

      1. Eckart Schirrmacher schaut allen Türken bei Wahlen bei der Stimmabgabe im Konsulat über die Schulter.

      2. Eckart Schirrmacher meldet ausreisepflichtige Türken (also Türken, die öffentlich oder privat Erdogans Politik billigen) einer ggf. noch einzurichtenden Behörde seiner Wahl.

      Aber vielleicht haben Sie bessere Vorschläge?

    • @Eckart Schirrmacher:

      das wäre schön - und ziemlich das erste Mal, dass Regierungen moralisch integer handeln.



      Es stehen mächtige Interessen dem entgegen:



      - Die Türkei ist Teil der NATO und soll auch da gehalten werden



      - Die wirtschaftlichen Interessen Europas in der Türkei sind erheblich



      - Die Türkei sieht sich - und wird auch vom Westen - als Regional- und Ordnungsmacht in der Region gesehen.



      Im übrigen ist es nicht das erste Mal, dass die Kurden betrogen und verraten wurden, nach dem Motto "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen".

  • Guter Kommentar. Anzufügen wäre: Auch Nichtäußern ist eine Äußerung. Das syrische Regime profitierte vom kurdisch-US Amerikanischen Engagement gegen den IS und profitiert nun vom türkischen Angriff gegen kurdische Autonomie. Eben diese Autonomiebestrebungen werden in der syrischen Regimelogik als besondere Bedrohung gesehen, schon jede noch so kleine Selbstverwaltung und sei es die praktische nachbarschaftliche Überlebenshilfe und Selbstorganisation in den zuvor belagerten Städten galt als Bedrohung und "terroristischer" Akt. Mit dieser Bedrohungslogik wurden ja im Krieg selbstständig weitergeführte medizinische, schulische oder Grundnahrungsmittelversorgung als "staatsfeindlicher Akt" erklärt sobald die Berufsgruppen in abgeschnittenen Gebieten weiter arbeiteten. Assad kann nun einfach abwarten bis die Türkei die Kurdenselbstverwaltung zerstört hat und führende Köpfte liquidierte, die Flüchtlinge so ansiedelt dass es keine kurdischen Gebiete mehr gibt und anschließend das türkische Militär vertreiben und man hat alles auf dem Silbertablett erhalten was man aus eigener Kraft nicht bekam. Alle die weiter Mitmachen vom aktiven Partner Russland, den USA bis Türkeifinanzierer und Waffenlieferant EU sind direkt oder indirekt verantwortlich für die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die für syrische Zivilisten tödlicher Alltag sind.

  • ist es nicht schön, wenn deutsche Waffen Frieden schaffen?

    • @danny schneider:

      Höre gerade im Radio (WDR5), dass der Spezialdemokrat Gerhard Schröder die Türkei „seines Freundes“ Erdoğan seinerzeit spottbillig mit Leopard-Panzern beliefern ließ - natürlich mit der obligatorischen Auflage, sie in der Türkei nicht gegen die Kurden einzusetzen. Klar doch! Nun, das kann der Erdoğan ja jetzt offenbar völlig ungestört in Syrien machen.



      Obwohl - die Kurden wurden für den Kampf gegen den IS ebenfalls spottbillig mit Milan-Abwehrraketen der Bundeswehr ausgestattet. Sehr moderne Teile sind das, die hinten in jeden Golf passen sollen und für die auch Leopard-Panzer kein Hindernis sind. Ja, die Spezialdemokraten à la Schröder stehen halt immer und überall für den Ausgleich des Schreckens, gell.

      • @Rainer B.:

        Erdogan... hat auch Daimler LKW um die KrausMaffei Panzer schneller zu verlegen...

        und beinahe hätte man der Türkei auch F35 aus den USA verkauft, hätten die nicht bei den Russen Luftabwehrwaffen zu kaufen (also mit einer clevereren Reihenfolge hätte unser kleiner Diktator heute beides)

  • Stimme Herrn Zumach in seiner Analyse voll zu. Es kann allerdings jetzt nicht darum gehen, erstmal abzuwarten wie Assad auf diese völkerrechtswidrige Grenzverletzung reagiert. Auch Russland hat sich meines Wissens dazu bislang noch gar nicht geäußert. Da müssen schon klare und unmissverständliche Signale aus der EU, der Weltgemeinschaft und der NATO in Richtung Erdoğan kommen - so sehr Erdoğan zur Zeit da auch am längeren Hebel zu sein scheint. Man kann das aus meiner Sicht nämlich nur ändern, wenn man auch den Willen dazu hat.

    • @Rainer B.:

      ja es ist schon komisch.. in manchen völkerrechtswidrigen Kriegen intervenieren wir... in manchen nicht.

      Volatile Werte der Westen hat.

  • Wie war das doch gleich mit der Türkei und dem möglichen Beitritt in die EU?

    Zuerst ein paar Mrd für die Flüchtlinge durch horstige Abwehreuros abgreifen und dann geht's los!

    Wann erfolgen endlich scharfe Sanktionen durch die immer noch mit sich selbst beschäftige EU?

    • @wirklich wahr?:

      Einfach Antwort mit 3 Buchstaben: NIE

      Die Eu hat schon Schwierigkeiten ein paar hundert Flüchtlingen zu verteilen.



      Erdogan droht mit 3,5 Millionen.

      Man hat die Türkei ja schon ohne Konsequenzen den IS unterstützen lassen...

      Das Vorgehen der Türkei in Afrin bliebt ja auch ohne Konsequenzen.

      Bleibt nur zu hoffen das sich die Kurden mit Assad und logistischer Unterstützung der Russen die Türken wieder zurück drängen.



      Auch keine rosige Option aber die einzige bei der die Türkei schmerzliche Konsequenzen zu befürchten hat.

      Von seinen Nato Partnern gibt nur böse Worte.

  • Assad hatte der YPG eine Teilautonomie angeboten. Das war den kurdischen Führern zu wenig. Hochmut kommt vor dem Fall.

    • @Mzungu:

      Moment, verstehe ich das gerade richtig? Wer auf großzügige Angebote des großen osmanischen Präsidenten nicht eingeht, muss schon damit rechnen, dass er mit militärischer Gewalt überfallen wird? Und ist dann natürlich selber Schuld, klarer Fall. Wir müssen endlich begreifen, wie sehr die AKP-Türkei uns belogen und hinters Licht geführt hat: Sie unterstützt weiterhin heimlich die IS Terroristen und wird sie jetzt aus kurdischer Gefangenschaft befreien und auf Europa loslassen. Diese Türkei ist kein Teil Europas, diese Türkei ist selbst auf dem Weg, ein islamistischer Gottesstaat zu werden, diesmal mit sunnitisch osmanischer Prägung. Wer Erdogan dabei hilft ist ein guter Freund, wer nicht, ist Terrorist, ganz einfach.