Proteste gegen die Regierung: Das Hongkong-Dilemma
Das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ ist gescheitert. China kann sich Hongkong nicht mental einverleiben. Für die Protestbewegung ist das gefährlich.
A ls die Briten am 1. Juli 1997 nach 155 Jahren britischer Kolonialherrschaft Hongkong dem chinesischen Staat übergaben, hatte der damalige chinesische Staatschef Deng Xiaoping nach langen Verhandlungen mit der britischen Regierung zugesichert, Hongkong für weitere 50 Jahre wirtschaftliche, innenpolitische, soziale und kulturelle Souveränität zuzugestehen. „Ein Land, zwei Systeme“ lautete das Motto.
Deng schwebte sogar vor, dieses Modell auch auf Chinas vorgelagerte Taiwan auszuweiten, das bis heute de facto unabhängig ist. Den Hongkongern wurde zugesichert, dass sie über Rechte wie freie Meinung, Mitbestimmung und eine unabhängige Justiz weiter verfügen dürfen. All das bleibt den Chinesen in der autoritären Volksrepublik bis heute vorenthalten.
Streng genommen war dieses Modell aus Sicht der Kommunisten in Peking ein Widerspruch. Doch in seiner pragmatischen Art wollte Deng den Hongkongern die Angst vor dem chinesischen Festland nehmen. Er setzte darauf, dass sich die beiden völlig unterschiedlichen Systeme über die Jahre annähern würden.
Damals, als Tor zum Rest der Welt für das damals verhältnismäßig noch unterentwickelte China, hatte Hongkong für Peking zudem auch wirtschaftlich eine wichtige Funktion. Viele Hongkonger wiederum verdienten kräftig an der sich öffnenden Volksrepublik.
Mental und kulturell von China weiter entfernt denn je
Inzwischen ist in Hongkong eine Generation herangewachsen, die so selbstverständlich mit demokratischen Werten aufgewachsen ist wie junge Menschen in den USA oder Europa. Auch kulturell sind sich junge HongkongerInnen jungen Menschen in Berlin, New York oder London ähnlicher als PekingerInnen oder SchanghaierInnen. Anders als ihre Elterngeneration profitiert die junge Generation in Hongkong wiederum nicht von Chinas Aufstieg, sondern im Gegenteil: Sie leiden unter dem Ansturm reicher Festlandchinesen in ihre Stadt, den exorbitant gestiegenen Immobilienpreisen und den teuren Geschäften und Restaurants, die allesamt auf die kaufkräftigen Touristen aus der Volksrepublik ausgerichtet sind.
Für Hongkong ist diese Entwicklung ein Dilemma. Politisch muss die Stadtregierung den Vorgaben der autoritären Führung in Peking folgen; ihr bleibt gar keine andere Wahl. Hongkongs junge Generation hingegen hat sich mental und kulturell von China mehr entfernt denn je. Die von Deng einst erhoffte Annäherung ist 22 Jahre nach der Übergabe ins Gegenteil verkehrt. Das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ ist damit gescheitert.
Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es bei den aktuellen Protesten in Hongkong nicht nur um ein umstrittenes Gesetz oder die Wut auf die Sicherheitskräfte geht. Denn eigentlich haben die Demonstranten ihr Ziel schon vor einer Weile erreicht. Entzündet hatte sich ihr Protest im Frühjahr an einem umstrittenen Auslieferungsgesetz, das Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam eingebracht hatte.
Es hätte die Überstellung mutmaßlicher Straftäter aus dem teilautonomen Hongkong an Chinas nichtrechtsstaatliche Justiz ermöglicht und womöglich auch die Auslieferung von Dissidenten und Kritikern des autoritären Regimes in Peking. Lam hat es nicht zuletzt auf Druck in den eigenen Reihen für tot erklärt und versprochen, es in der laufenden Legislaturperiode nicht wieder einzubringen. Ein Erfolg für Hongkongs Demokratiebewegung.
Je länger der Protest , desto radikaler die Forderungen
Die Demonstrationen sind dennoch nicht abgeebbt. Im Gegenteil: Sie haben seitdem noch einmal deutlich zugenommen und sich radikalisiert. Inzwischen kommt es bei den Protesten in Hongkong immer häufiger auch zu Gewalt. Dazu trägt sicherlich auch die Polizei bei, die in Hongkong lange den Ruf von freundlichen Bobbies hatte. Sie geht immer brutaler gegen die DemonstrantInnen vor. Sie ist auch deswegen in Verruf geraten, weil sie auf den Angriff eines prochinesischen Schlägertrupps auf DemonstrantInnen vor zwei Wochen wiederum nur zögerlich reagierte. Das hat sicherlich noch mehr zu der Wut auf der Straße beigetragen.
Die DemonstrantInnen wiederum haben sich in ihren Forderungen deutlich radikalisiert. Sie verlangen nicht mehr nur eine formelle Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, sondern auch den Rücktritt von Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam und grundlegende demokratische Reformen. Und mehr noch: Indem einige von ihnen auch vor die offizielle chinesische Vertretung der Volksrepublik in Hongkong zogen, das Gebäude mit Eiern bewarfen und dort die britische Kolonialfahne schwenkten, bringen sie symbolisch zum Ausdruck, was aus Sicht der kommunistischen Führung in Peking ein Tabu ist: Hongkongs Loslösung von der Volksrepublik.
An und für sich folgen die Proteste in Hongkong einer Dynamik, wie sie in westlichen Demokratien typisch sind. Je länger der Protest anhält, desto radikaler werden die Forderungen. Gibt die Regierung nach, könnte das den harten Kern gar befeuern. Die AktivistInnen werten das als ihren Erfolg, der sie darin bestätigt, an ihrem Vorgehen festzuhalten. Westliche Demokratien wissen in der Regel zivilgesellschaftlich damit umzugehen. Über kurz oder lang beruhigen sich die Gemüter wieder. Doch Hongkong ist keine westliche Demokratie.
Auf die Forderung einer Unabhängigkeit Hongkongs wird sich Peking nicht einmal ansatzweise einlassen. Das kann sie in ihrer Logik gar nicht. Denn das würde ihr im eigenen Land als Schwäche ausgelegt. Ihre Strenge ist es, die diese autoritäre Führung an der Macht hält. Das macht es wiederum für die jungen HongkongerInnen so gefährlich.
Noch will es Peking nicht darauf ankommen lassen, mit der Volksbefreiungsarmee in die Sonderverwaltungszone einzumarschieren und die Proteste blutig niederzuschlagen. Sie setzt darauf, dass es der Hongkonger Regierung selbst gelingt, für Ruhe zu sorgen. Sollte ihr das nicht gelingen, könnte sich das aber schnell ändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke