Kolumne Sternenflimmern: Ein europäisches Trauma
Zu Europas Zukunft gehört auch seine Vergangenheit. Erinnerungen ans Jahr 2015, in dem der ganze Kontinent auf Griechenland blickte.
W er über die Zukunft Europas sprechen will, der muss sich an seine Vergangenheit erinnern. Diejenigen, die sich an Kriege auf dem Kontinent erinnern, sprechen vom „Friedensprojekt EU“. Ich habe zum Glück keinen Krieg erlebt. Ich erinnere mich an den Sommer 2015.
Ganz Europa blickte auf Griechenland. Die Nerven der Mächtigen Europas lagen blank. Seit 2010 stützten sie das krisengeschüttelte südeuropäische Land – und ihre eigenen Banken. Dafür verlangten sie von Griechenland einen hohen Preis. Gefordert wurden unter anderem Kürzungen bei Renten, im öffentlichen Sektor, höhere Mehrwertsteuern, Privatisierungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten.
Die „Troika“, eine Kontrollinstanz aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, wachte darüber. Dann, Anfang 2015, kam das Linksbündnis Syriza an die Regierung, weil es versprochen hatte, dem sozial verheerenden Spardiktat ein Ende zu setzen. Die Neuen legten sich mit den Mächtigen an. Die Syriza-Regierung rief ein Referendum aus. Die Bevölkerung sollte entscheiden, ob Auflagen angenommen werden, das „Hilfs“-Programm fortgesetzt wird.
Ich erinnere mich an einen heißen Wiener Sonntag, an den 5. Juli 2015. Gerade hatte ich eine Konferenz besucht, bei der auch über Griechenland nachgedacht wurde. Konferenztitel: „Kämpfe – Alternativen – Zukunft: Brückenjahr 2015?“. Als sie zu Ende diskutiert hatten, machten sich Studierende, Professoren und Dozenten auf den Weg zum Uni-Campus.
Ein europäischer Neubeginn?
Eine Studierendengruppe hatte eine Leinwand aufgestellt, Public Viewing zum Referendum. Zwischen Athen und Wien liegen 1.283,24 Kilometer Luftlinie. Aber an diesem Tag haben wir um Europa gebangt, für Europa gefühlt. Die Griechen haben gegen das Spardiktat gestimmt, mit über 60 Prozent. Ein europäischer Neubeginn?
Die Mächtigen Europas ignorierten das Votum der griechischen Bevölkerung. Acht Tage später musste Premier Tsipras vor den unnachgiebigen Gläubigern kapitulieren. Am 13. Juli 2015 kam es zur „Einigung“ – das Spardiktat ging weiter. Der griechische Finanzminister Varoufakis zog sich zurück.
Was übrig blieb, ist ein europäisches Trauma. Ich erinnere mich an einen erbarmungslosen, mit dem Grexit drohenden deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, mediale Kampagnen gegen die vermeintlich faulen „Pleite-Griechen“ (Bild), auch an die Verachtung des damaligen sozialdemokratischen Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz gegenüber den Griechen.
Was bleibt, ist eine Skepsis gegenüber Europa beim gleichzeitigen Wissen darüber, dass es ohne Europa nicht geht. Und es bleiben Fragen: Definieren wir Frieden allein durch die Abwesenheit von Krieg? Oder ist da noch mehr?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Habeck hat Bock
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Schönheitsideale in der Modewelt
Zurück zu Size Zero