Debatte „Pinkwashing“ und ESC in Israel: Verhasste Vielfalt
Israel wird vorgeworfen, mit liberaler LGBT-Politik und dem Eurovision Song Contest die Palästinenser-Politik reinzuwaschen. Geht’s noch absurder?
A m vergangenen Samstag feuerten Hamas und Islamischer Dschihad über 300 Raketen aus dem Gazastreifen auf israelische Wohngebiete ab. Für die Bewohner im Süden Israels gehört dieser Raketenterror fast schon zum Alltag. Doch der erneute Beschuss fand keineswegs zufällig kurz vor dem in Tel Aviv anstehenden Eurovision Song Contest (ESC) statt. „Wir werden den Feind davon abhalten, das ESC-Festival zu veranstalten, dessen Zweck es ist, das palästinensische Narrativ zu unterminieren“, teilte der Islamische Dschihad mit.
An demselben Samstag fand in Berlin der sogenannte Palästina-Tag statt, bei dem Anhänger der gegen Israel gerichteten BDS-Kampagne („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“) zum Boykott des ESC aufriefen. Mit einem Transparent bewarben sie die internationale Kampagne gegen die Musikveranstaltung: Das Eurovisions-Logo liegt hinter Stacheldraht, in der Mitte ist ein Herz zu sehen, das in SS-Runen zerspringt. Israel als die Nazis von heute – eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr. Im BDS-Aufruf zum ESC heißt es, dass Israel die Veranstaltung „schamlos als Teil seiner Strategie“ nutze, „die versucht, ‚Israels schöneres Gesicht‘ zu zeigen, um von seinen Kriegsverbrechen gegen Palästinenser abzulenken“.
Selbstverständlich ist es ein zentraler Unterschied, ob man den ESC mit Waffengewalt oder durch eine Boykottkampagne verhindern will. Doch letztlich zielt auch BDS mit der Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ für die Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge auf das Ende eines jüdischen Staats. Teile der Kampagne sehen sogar das gesamte Staatsgebiet als besetztes Land an. „Artwashing Apartheid“ heißt ihr Slogan gegen den ESC. Dahinter steht nicht nur der abwegige Vorwurf, Israel praktiziere Apartheid, obwohl es in dem Land arabische Parlamentsabgeordnete, Verfassungsrichter, Generäle und Diplomaten gibt.
Viel interessanter ist, dass die Kampagne damit nahtlos an den nur in bestimmten Szenen populären Vorwurf des „Pinkwashing“ anknüpft. Dabei handelt es sich um eine Verschwörungsfantasie, die Israel vorwirft, mit dem Werben für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transpersonen von der Palästinenserpolitik abzulenken. Israel führe einen „schwulen Propagandakrieg“, behauptet beispielsweise die Queer-Theoretikerin Jasbir Puar.
Individuelle Freiheiten
Auch in einigen linken und queeren Gruppen ist der Vorwurf bekannt, dass Israels liberale Haltung gegenüber LGBT-Personen lediglich eine böswillige Verschleierungstaktik sei. Israel ist allerdings der einzige Ort im Nahen Osten, an dem LGBT-Personen grundlegende Rechte gewährt werden und diese rechtlich vor Diskriminierung geschützt sind.
In den palästinensischen Gebieten müssen Homosexuelle Gewalt von Familienmitgliedern, militanten Gruppen und Sicherheitskräften befürchten, im Gazastreifen ist gleichgeschlechtlicher Sex illegal und wird mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft. Auch in den Nachbarländern Israels werden LGBT-Personen massiv verfolgt.
Nein, auch Israel ist kein „Schwulenparadies“. Ja, auch in Israel gibt es weiterhin in Teilen der Gesellschaft feindselige Einstellungen gegenüber LGBT-Personen. Die Situation in der liberalen Großstadt Tel Aviv, in der jährlich Hunderttausende an einer der größten Pride-Paraden der Welt teilnehmen, ist nicht immer mit der Situation in anderen Landesteilen vergleichbar. So gibt es gerade in streng religiösen Kreisen Vorbehalte gegen Homosexualität und auch gegen den kommenden ESC. Und selbstverständlich mussten die Liberalisierungen auch in Israel erst gegen die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft erkämpft werden.
Dennoch besteht ein Unterschied ums Ganze zwischen bürgerlichen Gesellschaften mit einer gewissen Anzahl an individuellen Freiheiten und solchen Gesellschaften, in denen der Genuss dieser Freiheiten versagt bleibt. Solange nicht überall sexuelle und geschlechtliche Vielfalt so gefeiert werden kann wie während der Tel Aviv Pride, ist es deshalb ausgesprochen lächerlich, hier ausgerechnet Israel zurechtzuweisen und gleichzeitig über die drakonischen Anti-Homosexuellen-Gesetze in den Nachbarländern zu schweigen.
Ohne Angst verschieden sein können
Der „Pinkwashing“-Vorwurf ist jedoch nicht nur lächerlich, in ihm klingen auch zahlreiche antisemitische Motive an: Israel sei verlogen, hinterlistig und verschwörerisch. Jahrhundertealte judenfeindliche Stereotype, reproduziert auf den jüdischen Staat. So haben selbsternannte „Pinkwatcher“ bereits mehrfach erfolgreich Treffen europäischer oder amerikanischer LGBT-Organisationen mit israelischen LGBT-Organisationen verhindert.
Die Haltung der Israelis zur Politik ihrer Regierung spielte dabei übrigens keine Rolle, ihre Staatsangehörigkeit reichte für die Boykottaufrufe aus. Auch die israelische Sängerin und letztjährige ESC-Gewinnerin Netta Barzilai wurde bereits Opfer der Kampagne: Im November hatte eine Gruppe von antiisraelischen LGBT-Aktivisten die Absage ihrer Konzerte in Europa gefordert. „Barzilai unterstützt die Pinkwashing-Agenda der israelischen Regierung, die LGBT-Rechte nutzt, um sich vor Kritik an der jahrzehntelangen Unterdrückung von Palästinensern zu verstecken“, hieß es in einem Statement.
Wie eingangs beschrieben, nutzen nicht nur queere Israelfeinde den Eurovision Song Contest als Anlass, um den jüdischen Staat zu verunglimpfen. Der zitierte Islamische Dschihad hat noch andere Gründe für die Ablehnung der Gesangsveranstaltung. Sie steht für Vielfalt und ist insbesondere unter den verhassten Schwulen beliebt. Im Hass auf die Utopie, ohne Angst verschieden sein zu können, im Hass auf Hedonismus, Lebensfreude, Freizügigkeit, verführerische Dekadenz, Promiskuität, Selbstbestimmung, Emanzipation, eine offen ausgelebte Sexualität sowie Lust und Rausch ist eine schwule Party in Tel Aviv für Islamisten eine grauenerregende Vorstellung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod