Kolumne Eier: Gewicht, Größe, … Punkt!
Ein Neugeborenes braucht so einiges – ein Geschlecht ist dabei am wenigsten dringend. Trotzdem wollen alle erst mal nur das wissen.
M an fragt sich, warum eine Horde Erwachsener monatelang Lätzchen, Söckchen, Deckchen und Bärchen gesammelt und gestrickt hat, als wäre das die prioritäre Ausstattung für ein neues Baby. Im Säuglingshauptquartier, wenige Tage nach der Niederkunft, liegen vor allem hygienische Unterlagen, Verbände, Knabberzeugs, kanisterweise Wasser und Tuppertürme gefüllt mit hochwertigen Kohlehydraten. Und ein hoffentlich zufriedenes Menschlein.
Sie erraten es, hier kommt schon wieder ein Kindertext. An Ostern habe ich ein Patenkind bekommen und natürlich schreibe auch ich mein Glück sofort in die Zeitung. Herzlich willkommen, Mausebaby!
Mausebaby ist nämlich für’s Erste der Name des Kindes. Sie könnten daraus jetzt ein Geschlecht schließen – oder daraus schließen, dass ich Sie in Sachen Geschlecht auf die falsche Fährte locken will. Das hat seinen Grund.
Die Eltern haben das Geschlecht des Babys während der Schwangerschaft nämlich nicht verraten, die Mutter selbst wusste es auch nicht. Und als Mausebaby dann da war, haben sie glücklich verkündet: Gewicht, Größe, alle gesund … Punkt. Und da fing bei vielen die Irritation an. Ja, was denn nun?
Bei einigen anderen im Freundeskreis hatte das Unverständnis schon früher angefangen: Wie, du kennst das Geschlecht nicht? Woher wisst ihr denn, was ihr einkaufen sollt? Stimmt, die Frage, ob Drachen- oder Feentapete, ist natürlich die drängendste, wenn man gerade einen Mensch in sich herstellt.
Ein bisschen dezenter und auch nicht weniger aussagekräftig die Frage: Und, was wird’s? Klar, das ist auch so eine Ritualfrage wie „Und, wie geht’s?“. Irgendwas muss man ja fragen. Ist schon okay. Aber warum eigentlich?
Der ganze Genderkram geht doch ohnehin erst viel später los. Natürlich will niemand der Beteiligten das Kind „geschlechtslos“ erziehen, denn so viel Macht hat man als Eltern nicht. Aber die binären Stereotype werden früh genug auf Mausebaby einprasseln, muss man damit schon vor, während oder unmittelbar nach der Geburt anfangen? So ein Neugeborenes braucht eine Menge Zeug, und eine Menge Dinge sind wichtig und müssen beachtet werden, damit es Kind und Mutter gut geht. Das Geschlecht gehört nicht dazu.
Und trotzdem konnte ich meine eigene und die Frustration der anderen Freund*innen spüren, als uns diese Eltern doch tatsächlich auch nach der Geburt noch verweigerten, ihr Kind endlich in unsere ganz persönlichen Gedankenkistchen von Männlein und Weiblein einkuscheln zu können. Größe, Gewicht, alle gesund. Wäre ein Grund zur Freude. War es auch. Und doch blieb das Gefühl: Menno, da fehlt doch noch was.
Mittlerweile hat das Kind einen Geschlechtseintrag und einen binär eindeutigen Namen bekommen. Für’s Erste. Vielleicht ändert es sich ja mal. Bleiben werden die wirklich wichtigen Dinge.
Herzlich willkommen, Mausebaby!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn