Architekturdebatte Berliner Stadtschloss: Auf zum Schloss!

Für die einen ist es schlimmster Hohenzollernkitsch und reaktionär retro. Für die anderen ist es ein Ort, den man gerne mag. Wer hat recht?

Kuppel des Stadtschosses Berlin vor Fernsehturm.

Die Planer haben die Rechnung ohne die deutsche Empörungskompetenz gemacht: Stadtschloss in Berlin Foto: Jörg Carstensen/dpa

Ein Schloss hat uns grade noch gefehlt. Die ganze Welt reißt Denkmäler ein, aber die Deutschen bauen einen Herrscherpalast ins Herz ihrer Hauptstadt. Über dessen Geschmacklosigkeit scheint kein Zweifel möglich. Kein Feuilleton des Landes bleibt ohne scharfsinnige Phi­lip­pika, keine Intellektuelle und kein Mann von Geschmack vermag den Sinn des Bauwerkes zu begreifen. Selten herrschte so viel Einigkeit.

Das ist verständlich. Man weiß ja gar nicht, wo man anfangen soll. Das ganze Ding ist unauthentisch, gibt sich als altes Schloss und ist doch nur Fake. Kaum lagen die ersten Baupläne vor, erklang der Hilferuf der Gebildeten: Kein Disneyland! Dabei ist es ja nicht so, dass das Original des Schlosses satisfaktionsfähig gewesen wäre. Ein Machwerk, zusammengeschustert, von ­Andreas Schlüter notdürftig harmonisiert.

Irgendwie übler Barock, den man ja ohnehin nicht so mag. Es ist, da sind sich die Kritiker einig, steingewordene Rückwärtsgewandtheit. Hässlich, sinnlos, peinlich. Preußisch gar. Ein Königsschloss wird hier gebaut, also ein Bau, in dem ein Monarch residierte. Dabei haben es die Deutschen doch endlich geschafft, eine Demokratie zu sein.

Doch kaum war das Land wiedervereinigt, kam mit Wilhelm von Boddien einer dieser mecklenburgischen Adligen aus dem Westen zurück, der feudale Morgenluft witterte und 1992 den Förderverein für das Schloss gründete.

Aber es kommt noch schlimmer, weil die Deutschen es mal wieder besonders gut machen wollten. Gewiss, das ist ein Schloss, aber es sollte nicht mehr für Großmannssucht und Weltzerstörung stehen, sondern für Diversität und Offenheit. Der riesige Palast in der Mitte soll zum Forum des Fremden werden.

Er wird Sammlungen außereuropäischer Kunst präsentieren, die bisher zum großen Teil in einem Museum fernab des Zentrums vor sich hin geschlummert haben – das filigran geschmückte Boot von der Insel Luf im Pazifischen Ozean etwa oder die drei Skulpturen aus dem Kongo, jene Respekt einflößenden Kraftfiguren.

Eine Agora soll im Schloss entstehen, in dem sich die Menschen aus aller Welt begegnen. Namensgeber ist selbstverständlich kein König. Vielmehr wird das Gebäude nach den Brüdern Alexander und Wilhelm von Humboldt benannt: Alexander, der die Welt erforscht hat, und Wilhelm, der Universalgelehrte. Als reformerische Persönlichkeiten stehen beide für die aufklärerische Idee: die Zukunft mit Wissen und in Offenheit und Humanität zu gestalten.

Deutsche Empörungskompetenz

Auch hier, so wurde schnell klar, haben die Planer die Rechnung ohne die deutsche Empörungskompetenz gemacht. Just in diese Zeit fiel der weltweite Aufbruch der westlichen Länder, sich endlich mit ihrer imperialen Vergangenheit zu beschäftigen. Die Forschung hat sich zwar längst intensiv mit dem Kolonialismus auseinandergesetzt, und schon lange gibt es die Forderung nach einer Aufarbeitung der europäischen Verbrechen.

Aber die Diskussionen darüber gewannen erst jetzt in einer breiteren Öffentlichkeit an Fahrt. Das erwies sich für die geplante Ausstellung der außereuropäischen Kulturen als Problem. Denn angesichts der asymmetrischen Beziehungen zwischen Kolonialherren und Kolonisierten muss wohl jedes fremde Artefakt aus der Zeit erst mal als schwierig gelten.

Spätestens jetzt, so hätte man denken können, war der Gipfel des Widersinns erreicht. Doch die Misere wurde gekrönt durch ein goldenes Kreuz auf der Schlosskuppel. Gespendet von der Otto-Versand­haus-Millionärs-Witwe Inga ­Maren. Unter dem Kreuz brachten die Bauleute gleich noch ein Spruchband in Preußischblau an: „Es ist in keinem andern Heil … denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Die Empörung kennt nun keine Grenzen.

Der Spruch – mit seinen für das 21. Jahrhundert unhaltbaren Metaphern – triggert. Kreuz und Band waren erst 1854 von Friedrich Wilhelm IV. angebracht worden – also nach der vom König unterdrückten Revolution von 1848/49. Daher halten Kritiker das Kuppel­ensemble für den Ausdruck der offenbar absolutistischen Ansprüche, manche sogar für ein Zeichen kolonialer Vorherrschaft. Denn wurde das Christentum nicht den Kolonisierten aufgezwungen? Friedrich Wilhelm IV. schließlich ist jener Monarch, der 1849 die Kaiserkrone der Paulskirche abgelehnt und damit dem Traum von einem modernen Deutschland beträchtlichen Schaden zugefügt hat.

Kurz: Der ganze Grimm gegen das Schloss ist mehr als verständlich. Wir leben im 21. Jahrhundert. Warum neu errichten, was so offensichtlich der Vergangenheit angehört? In künftigen historischen Überblickswerken wird sich der Prunkbau als Metapher für den neuen Geist der Bundesrepublik anführen lassen: Was der Bonner Republik der sachliche Kanzlerbungalow, ist der Berliner Republik das abgeschmackte Schloss.

Und doch: Ist – bei Lichte betrachtet – dieses Stadtschloss nicht der Volksbau schlechthin? Denn sosehr ein Großteil der Denkerinnen und Dichter dieses Landes die Re­kon­struk­tion verabscheut, so beliebt ist sie bei vielen Menschen. Die Frauen, Männer und Kinder strömen zum Neubau, und es sind nicht nur die Touristen, die sich um Schloss-Selfies und Sonnenuntergang-Fotos mit Hohenzollernfassade bemühen.

Dem Schloss scheint das gleiche Schicksal bevorzustehen wie dem Potsdamer Platz. Vor der Errichtung der Gebäude, die entsprechend dem historischen Straßenverlauf mit engen Gassen geplant sind, wogten die Bedenken hoch, zu kitschig, zu künstlich, zu windig, zu wenig authentisch. Doch kaum stand das Ensemble, strömten die Menschen. Berlinerinnen und Berliner gingen Eis essen, Untersuchungen zeigten, dass kein Platz in Berlin so wiedervereinigt und paritätisch besucht war von Menschen aus Ost und West.

Touristen aus der Provinz bewundern die neue Welt, und viele gehen shoppen. Die gesichtslose Mall wurde mit ihren Springbrunnen im Untergeschoss zum Treffpunkt migrantischer Familien, deren Kinder neben Pizza Hut im Wasser plantschen. Den vielen gefällt, was dem erlesenen Geschmack nicht angemessen scheint. Es ist ein altes Gesetz: „Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist“, klagte 1929 der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset.

Keine Frage, Demokratie bedeutet nicht einfach Mehrheitsrecht. Demokratie muss, wenn sie funktionieren und die Menschenwürde schützen will, immer eingeschränkt sein. Kein Mehrheitsbeschluss kann Menschenrechte außer Kraft setzen. Und die pauschale Kritik an Intellektuellen und Eliten, die Populisten gerne vor sich her tragen, offenbart den zerstörerischen Charakter dieser Radikalen. Denn jede Demokratie ist auf die Unterstützung der Intellektuellen und der bürgerlichen Schichten angewiesen. Für eine Demokratie, deren Eliten sich gegen sie wenden, sieht es schlecht aus.

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Doch ist Geschmack kein Menschenrecht. Sosehr das Schloss das ästhetische Bewusstsein kränkt, sein Aufbau wurde vom Parlament besiegelt, und alles spricht dafür, dass es vom Publikum gemocht, besucht und gepostet werden wird. Vermutlich steht auch dem Wiedervereinigungsdenkmal vor dem Schloss, der von Intellektuellen bespotteten „Wippe“, eine glänzende Zukunft als Heidenspaß für Kleingeister bevor.

Ist das traurig? Oder hat hier nicht der Volkstrotz etwas ganz Wunderbares hervorgebracht? Zeigt nicht diese Schlossrekonstruktion einen unglaublichen Witz, der weit über jede „Ironie der Geschichte“ hinausgeht?

Das beginnt mit der Authentizität, um die sich die Massen offenbar wenig scheren. Während jede Altstadtrekonstruktion den Abscheu geistiger Eliten weckt, tummelt sich das Volk unbeschwert auf frisch gepflasterten Gässlein, fröhlich Cappuccino trinkend unterm Tchibo-Sonnenschirm. Sind die Massen damit nicht Avantgarde? Denn was soll das sein: Authentizität?

Sie ist eine bürgerliche Vision des späten 19. Jahrhunderts, als die Menschen sich ihre nationalen Geschichten konstruierten und damit begannen, einen Denkmalschutz zu initiieren. Bis dahin wurden ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht, um Neues, Höheres, Schöneres zu errichten.

In vielen Epochen sahen die Menschen keinerlei Sinn darin, Statuen vergangener Gewalten stehen zu lassen. Als 2019 Notre-Dame abbrannte, stand kein gotisches Original in Flammen, sondern der bürgerliche Traum vom Mittelalter, den sich die Menschen im 19. Jahrhundert – inspiriert von Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ – in den Mauern und Trümmern der von den Revolutionen zerstörten Kirche errichtet hatten.

Weltweit gilt die Bewunderung für das Schöne längst dem Wiederhergestellten. Zu den zahlreichen Rekonstruktionen in Europa gehören nicht nur die wunderbare Alte Brücke in Mostar und der Westminster-Palace, den deutsche Bomben 1941 zu großen Teilen zerstört hatten, sondern auch der Dogenpalast in Venedig und die von Stalin verwüstete Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Die Verächter des Schlosses sind womöglich die Letzten, die an authentische Architektur glauben.

Säkularisierung in Ehren

Und das Kreuz? Gerade hier, wo die Empörung besonders hohe Wellen schlug, wäre mehr Gelassenheit angesagt. Säkularisierung in Ehren, aber wenn sich „aller Knie beugen“ sollen, so ist natürlich der fromme König der Erste, der sich unterwirft. Der preußische Monarch hielt – wie aus der Zeit gefallen – seine verfassungsfreie Königsherrschaft hoch, aber noch viel höher war ihm die Herrschaft Gottes.

Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker auf dem Thron, hat politisch verheerenden Schaden angerichtet, aber seine fromme Architektur ist zu komplex und zu wunderlich, um sie auf eine forsche Aburteilung zu reduzieren. In traumhaft schönen Gotteshäusern hat er seine sehnsüchtige Italienliebe und sein tiefreligiöses Programm in Architektur gegossen. Ihm hat Köln auch die Fertigstellung des Doms zu verdanken.

Wer im Kreuz nichts als ein Symbol der Unterdrückung sieht, sollte zumindest seine theologische Unbildung eingestehen. Das Kreuz ist nie zu trennen von dem gemarterten, bespuckten Gott, dem Allerverachtetsten. Wenn von seinem Ruhm und seiner Herrschaft die Rede ist, geht es immer auch um das Paradox, dass die Mächtigen vom Thron gestoßen und die Letzten die Ersten sein werden.

Mit Kolonialismus vollends, der erst 30 Jahre später mit seiner ganzen Entsetzlichkeit das Deutsche Reich ergriff, hat diese uns heute so fremd anmutende Gegenwelt wenig zu tun. Ganz abgesehen davon, dass die einstigen Kolonisierten sich heute oft viel stärker dem Christentum verbunden fühlen als viele der entzauberten Europäerinnen und Europäer.

Monarchie war ja grundsätzlich kein dubioses Unrechtsregime, sondern die übliche, von den Menschen weithin akzeptierte Regierungsform. Das ist grade in Deutschland vielen nicht ganz klar. Der republikanische Gegenpart, die amerikanische Demokratie, wirkte im 19. Jahrhundert oft wenig überzeugend – nicht zuletzt aufgrund des mangelhaften Rechtsstaats und der anhaltenden Unterdrückung und Ermordung der People of Color.

Bemerkenswert ist schließlich, dass die nun auf 68 Meter erhöhte Kuppel ein Kunstwerk des großen Baumeisters Friedrich August Stüler ist. Die bedenkenlosen Schaulustigen werden sich an der Engelschar hoch oben freuen, die als Statuen elegant den Gipfel tragen und die mit der Smartphone-Kamera gut einzufangen sind. Vermutlich wird die Mehrheit des sich zuverlässig säkularisierenden Volkes aus Berlin, Hessen und dem Rest der Welt auch das Kreuz nicht stören.

Die feingliedrige Kuppel verweist darüber hinaus auf eine Niederlage der Monarchie gegen die immer herrschaftskritischen Berliner und Berlinerinnen. Denn als die Bürger in den 1860er Jahren nicht weit entfernt das Rote Rathaus errichteten, sorgten sie dafür, dass sein Turm mit 97 Metern das Königsschloss bei Weitem überragte und mit seiner hochmodern mit Gas beleuchteten Uhr der ganzen Stadt von einer neuen Zeit kündete. Zum Verdruss von Kaiser Wilhelm II. übertraf 1894 auch der Reichstag in seiner Höhe die Schlosskuppel.

Das Schloss als Ort des Aufbruchs

Überhaupt, wer sich Preußen und das Kaiserreich als stillgehaltene Untertanengesellschaft vorstellt, wird beim Studium der Schlossgeschichte eines anderen belehrt. Das Schloss diente immer wieder bürgerlichen Aufbrüchen. Die Preußische Generalsynode von 1846 etwa, ein Auftakt zum Parlamentarismus, fand dort statt, aber ebenso die Eröffnung von Landtagen und Parlamentssitzungen. Und immer wieder traf sich das empörte Volk auf dem Schlossplatz und schüchterte die Herrscher ein – beim Protest für Brot, für Respekt oder für ein gerechteres Wahlrecht.

Alles spricht dafür: Die Menschen werden wieder zum Schloss ziehen, und sie werden es lieben. Wahrscheinlich werden die Scharen mit großer Unbefangenheit die außereuropäischen Sammlungen bestaunen. Und wie bisher schon wird die neue Aufmerksamkeit auch die Aufarbeitung befördern. Viele werden die furchtbare Geschichte des Luf-Bootes zum ersten Mal hören, das von einem deutschen Überfall gegen eine Inselbevölkerung erzählt und vom tragischen Widerstand der indigenen Männer und Frauen.

Sollten wir uns nicht frei machen und gestehen: Könnte es ein schöneres Symbol der bundesrepublikanischen Demokratie geben? Hier kulminiert all das rührend Streberhafte der Deutschen. Alles wollen sie richtig machen: die Fremden umarmen, den Kolonialismus verurteilen, die Bildung fördern, die Tradition befragen und bewahren, oben Kreuz und unten Wippe – und alles wird ein bisschen schief.

Am schönsten aber ist vermutlich, dass wir alle oder doch zumindest unsere Mütter die Kuppel und das Kreuz mit Bestellungen bei Otto bezahlt haben, mit halbseidenen Träumen vom Konsum. Der Kapitalismus, das ist eine der vielen nüchternen Lehren der Schlossgeschichten, ist nun mal eine Grundlage moderner Demokratien, weil er nicht nur ausbeutet, sondern eben auch Kultur für alle finanziert, weil er in einem Rechtsstaat die Massen ermächtigt und sie zu zahlungsfähigen Konsumenten und potenten Steuerzahlerinnen macht. Die Logik gilt auch für „Disneyland!“, den Empörungsruf der Gebildeten. Disney ist die Kunst fürs Volk, für jeden in irgendeiner Form erschwinglich. Und, ganz ehrlich, welche Sonnenuntergänge sind schöner als die in Disney-Filmen?

Allenfalls die Abendröte überm Berliner Schloss.

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Hedwig Richter, Jahrgang 1973, ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr. Am 28. August 2020 erscheint bei Beck ihr neues Buch „Demokratie. Eine deutsche Affäre“.

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