Archäologie und Geschlechterrollen: Wenn neue Forschung alte Klischees aufdeckt
Eine neue Studie zeigt, dass Goldschmuck und Carearbeit schon beim Ausbruch des Vesuv vor fast 2000 Jahren genderneutral waren. Was lernen wir daraus?
Laut Tiktok-Trend denken Männer jeden Tag ans Römische Reich. Die Washington Post sieht da historische Gründe: Schon Abraham Lincoln dachte gerne über die Schildkrötenformation römischer Legionen nach. Die Wissenschaft bietet – im Gegensatz zu Tiktok – nun Sicherheiten, die nicht zum Kopfschütteln über männliche Denkmuster veranlassen, sondern zur Revision der Geschichtsschreibung. Denn der römische Mann war nicht „typisch männlich“, sondern trug Goldschmuck und leistete Carearbeit.
Im Jahr 79 n. Chr. spuckte der Vesuv nahe Neapel Feuer und begrub die Stadt Pompeji inklusive Bewohner*innen unter Lava und Asche. Blöd für die Betroffenen damals, gut für die Wissenschaft heute: Die heißen Gesteinsmassen konservierten Überreste der Todesopfer über fast zweitausend Jahre. Die im Gestein durch das Verwesen menschlicher Überreste entstandenen Hohlräume füllte man mit flüssigem Gips. Wieder ausgehärtet, entstanden so Abdrücke der letzten Lebensmomente von 104 Stadtbewohner*innen. Anhand dieser zog man Rückschlüsse auf das Leben der „Eingeäscherten“ und deren Beziehung zueinander.
Die Studie
Forscher*innen der Universitäten Florenz und Harvard und des Max-Planck-Instituts in Leipzig stellen jetzt bisher Angenommenes infrage. Das Team extrahierte DNA aus den stark fragmentierten Skelettresten von 14 der 86 Abgüsse, die gerade restauriert wurden.
Dadurch können nun valide Aussagen über Geschlecht, Herkunft und Verwandtschaftsbeziehung der Todesopfer getroffen werden. Bisher wurden die anhand des äußeren Erscheinungsbilds, der Ausrichtung der Körper und basierend auf herkömmlichen Rollenzuschreibungen getroffen – und seit 1748 nicht hinterfragt. Einzig, weil zwei der Abdrücke im selben Raum gefunden wurden, die ältere Person einen goldenen Armreif trug und mit einem Kind im Schoß starb, wurden sie kurzerhand zu Mutter und Kind erklärt.
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Die DNA stellt jetzt klar: Weder handelte es sich um eine Mutter – die Person war biologisch männlich – noch bestand eine familiäre Beziehung zum Kind im Schoß. Bestätigt wurde statt patriarchaler Rollenbilder der kosmopolitische Charakter des Römischen Reichs: Nicht nur das alte Rom war multiethnisch bevölkert – auch viele Pompejianer*innen migrierten aus dem östlichen Mittelmeerraum.
Was bringt’s?
Einen neuen Beweis dafür, wie dringend wir aus Klischees ausbrechen müssen. Auch die Wissenschaft flüchtet sich zu Zeiten in altbekannte Erklärungsmuster – moderne Methoden können dagegen Geschichte neu schreiben. Fast zweitausend Jahre alte DNA-Rückstände sind dann doch belastbarer als altbackene Rollenzuschreibungen, die weder diskursiv noch historisch als Leuchtturm der Erkenntnis dienen. Und: Goldschmuck war schon damals genderneutral, Carearbeit genauso.
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