Ampelkoalition in der Krise: Das Szenario Vertrauensfrage

In der SPD steigt nach dem schlechten Abschneiden bei der EU-Wahl die Unzufriedenheit. Der Haushalt könnte zur Vertrauensfrage für den Kanzler werden.

Menschenhohe SPD-Buchstaben vor der Parteizentrale. Das S wird gerade abgetragen

Wie sozial ist die SPD noch? Die Parteilinke will sich gegen weitere Kürzungen wehren Foto: Shan Yuqi Xinhua/eyevine/laif

In der SPD-Fraktion werden Mit­ar­bei­te­r:in­nen dieser Tage scherzhaft ermahnt, beim Buchen des Sommer­urlaubs bitte unbedingt eine Reiserücktrittsversicherung abzuschließen. Für den Fall, dass im Sommer der Wahlkampf beginnen sollte. Hinter dem Späßchen steckt allerdings bitterer Ernst.

Die Wäh­le­r:in­nen haben Rot-Grün-Gelb bei der EU-Wahl abgestraft, zusammen kamen SPD, Grüne und FDP auf lediglich knapp über 30 Prozent. Die Fliehkräfte zwischen den drei ungleichen Partnern werden größer, der Wunsch, das eigene Profil zu schärfen, dringlicher. Doch schafft es die Ampel unter diesen Umständen, sich noch vor der Sommerpause auf einen Haushalt für 2025 zu einigen? Ein Haushalt ist der kleinste gemeinsame Nenner einer Koalition. Wofür soll das Geld der Steu­er­zah­le­r:in­nen im nächsten Jahr ausgegeben werden? Schafft es die Ampelregierung nicht, wäre sie wohl am Ende. So schätzen es inzwischen auch führende SPD-Po­li­ti­ke­r:in­nen ein.

Die Haushaltsfrage wird so zur Vertrauensfrage. Was die Union vom Kanzler schon am Abend nach der EU-Wahl verlangte, könnte in drei Wochen eintreten: Falls die Haushaltsgespräche platzen, könnte Olaf Scholz im Bundestag um das Vertrauen der Abgeordneten bitten. Sollte ihm eine Mehrheit dieses entziehen, könnte Scholz den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen. Der hätte drei Wochen Bedenkzeit – und dann müssten binnen 60 Tagen Neuwahlen erfolgen. Im Oktober würden die Menschen den Bundestag neu wählen.

Könnte, würde, sollte – ob es dazu kommt, ist längst nicht ausgemacht. Doch die Möglichkeit wird realer. Und in der SPD wächst mit der Verzweiflung über das historisch schlechte Ergebnis der trotzige Wunsch, es darauf ankommen zu lassen. Besonders die Parteilinke erhöht den Druck auf den Kanzler, dem FDP-Finanzminister zu zeigen, wo der Hammer hängt. „Wir werden keinem Haushalt zustimmen, in dem mit milliardenschweren Kürzungen der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft massiv aufs Spiel gesetzt wird“, so Tim Klüssendorf, ein Sprecher der Parlamentarischen Linken. Zwar halte man am Koalitionsvertrag fest und werde bis zum letzten Tag dieser Koalition kämpfen – „jedoch nicht um jeden Preis“.

Der finanzpolitische Sprecher Michael Schrodi sieht die Koalition auf eine harte Probe gestellt. Die SPD-Fraktion werde keinen Sparhaushalt akzeptieren. „Es geht nicht allein um den Sozialstaat, sondern um den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland.“ Länder wie die USA, China oder Indien investierten Milliarden in neue Technologien, da dürfe Deutschland nicht einfach zuschauen. Deshalb müsse Lindner seine Ankündigung, ein Ermöglichungsminister zu sein, wahr machen – und mit zusätzlichen Investitionen Wirtschaftswachstum ermöglichen.

Die SPD pocht wie auch die Grünen auf eine Lockerung der grundgesetzlichen Schuldenbremse. Lindner hält dagegen, beharrt auf der Schuldenbremse, lehnt Steuererhöhungen ab und fordert die SPD ihrerseits zu Einsparungen auf – etwa zur Abschaffung der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren. Es ist wie beim Poker: Man erhöht den Einsatz in jeder Runde und spekuliert darauf, dass einer die Nerven verliert.

Dahinter stecken auch parteitaktische Kalküle. Mit dem Image als disziplinierte Finanzexperten und Korrektiv zu rot-grüner Verschwendungssucht hat sich die FDP bei der Europawahl bei 5 Prozent stabilisiert, so die liberale Erzählung. Also weiter so.

In der SPD wächst umgekehrt der Wunsch nach mehr genuin sozialdemokratischer Politik. „Wir waren zu brav“, heißt es aus der Fraktion. Lange Zeit gerierten sich die Sozialdemokraten als die Erwachsenen in der zänkischen Dreiergruppe und hielten sich im Hintergrund. Genutzt hat es nicht – im Falle von Neuwahlen verlöre die Hälfte der derzeit 207 SPD-Abgeordneten ihr Mandat. Eine Aussicht, die die Nervosität zusätzlich befördert.

Der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, Dirk Wiese, rät: „Es ist sicher nicht hilfreich, der FDP jeden Tag öffentlich zu sagen, sie hätten es nicht verstanden.“ Stattdessen sollten jetzt Gespräche geführt und Lösungen gesucht werden. Wiese ist zuversichtlich, dass es der Regierung so gelingt, vor der Sommerpause einen Haushaltsentwurf vorzulegen.

Blick auf die SPD-Fraktion im Bundestag, Kanzler Scholz am Rednerpult

Lange Zeit gerierten sich die Sozialdemokraten als die Erwachsenen in der zänkischen Dreierkoalition Foto: Kay Nietfeld/dpa

Eine SPD-interne Arbeitsgruppe sucht nun Wege aus der Schuldenbremse und will der FDP gleichzeitig Brücken bauen: Man sehe mehrere Möglichkeiten, einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen, meint Wiebke Esdar, Mitglied der Arbeitsgruppe sowie im Haushaltsausschuss. „Etwa für die Ukrainehilfen eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu machen. Damit ließen sich zusätzliche Mittel im zweistelligen Milliardenbereich heben.“ Bei der Wahl der Instrumente sei man nicht ideologisch. „Wir gehen offen in die Diskussion“, sagte Esdar.

Bislang hat Christian Lindner jedoch alle Vorschläge abgelehnt. Selbst den Vorstoß des Bundesverbands der Deutschen Industrie – beileibe kein rot-grüner Thinktank – nach einem milliardenschweren Sondertopf zur Erneuerung der maroden Infrastruktur wies er zurück. Am Donnerstag wurde bekannt, dass der Finanzminister einen Nachtragshaushalt für dieses Jahr plant, um ungeplante Mehrausgaben zu finanzieren. Dazu würden Spielräume in der Schuldenbremse genutzt. Ein erstes Zeichen des Einlenkens? Der finanzpolitische Sprecher Michael Schrodi findet: „Diesen pragmatischen Kurs sollte Lindner für die Haushaltsverhandlungen beibehalten.“

Derzeit laufen Gespräche zwischen Scholz, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Lindner. Scholz, der aktuell in Italien am G7-Gipfel und anschließend in der Schweiz an der Ukrai­ne-Friedenskonferenz teilnimmt, will wohl sogar früher als geplant nach Berlin zurückkehren. Was nachvollziehbar wäre: Für ihn geht es schließlich um alles.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.