Abschaffung des Paragraf 218: Für das Recht am eigenen Körper
Schwangerschaftsabbrüche sind nicht legal, aber prinzipiell möglich – das ist ein fauler Kompromiss. Die Zeit ist reif, sich vom Paragrafen 218 zu verabschieden.
F ür das Recht auf den eigenen Körper war es eine denkwürdige Woche. Jahrzehntelang war in der Bundesrepublik klar: Schwangerschaftsabbrüche werden im Paragrafen 218 des Strafgesetzbuchs kurz hinter Mord und Totschlag geregelt. Nicht dass dieses Gesetz nun gekippt worden wäre – so weit sind wir noch nicht. Aber es ist Bewegung gekommen in die Gemengelage rund um den Schwangerschaftsabbruch, und das gleich dreifach.
Erstens wurden die Ergebnisse der Elsa-Studie veröffentlicht. Unglaublich, aber wahr: Bis zu dieser Woche gab es kaum fundierte Informationen über die Situation ungewollt Schwangerer in Deutschland. Wie weit müssen sie fahren, um einen Abbruch zu bekommen? Können sie dabei die von ihnen gewünschte Methode in Anspruch nehmen, also etwa Tabletten nehmen, statt sich operieren zu lassen? Und: Wie ging es ihnen dabei?
Das alles war schlicht nicht bekannt. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Schwangerschaftsabbrüche zu den am häufigsten vorgenommenen gynäkologischen Eingriffen gehören – und dass die Bundesländer gesetzlich verpflichtet sind, die Versorgung ungewollt Schwangerer sicherzustellen. Wie machen sie das, fragt man sich, wenn sie doch über den Stand der Versorgung kaum etwas wissen?
Zum ersten Mal überhaupt hat nun ein Team um die Fuldaer Wissenschaftlerin Daphne Hahn die Versorgungslage untersucht. Befragt wurden dafür auch Ärzt*innen, und nur eine eindrückliche Zahl gleich an dieser Stelle: 24 Prozent derjenigen, die Abbrüche durchführen, wurden deshalb schon einmal bedroht. Der Bundestag debattierte außerdem am Mittwoch ein Gesetz, das ungewollt Schwangere auf dem Weg zu einer Praxis oder Beratungsstelle besser schützen soll.
Seit 153 Jahren im Strafgesetzbuch
Bei den sogenannten Gehsteigbelästigungen stehen Abtreibungsgegner*innen Spalier vor den Praxen, halten Bilder zerstückelter Föten hoch. Es ist eine Zumutung. Das dritte Ereignis der Woche in puncto Recht auf den eigenen Körper ist schließlich nicht weniger als historisch: Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission fordert die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen mindestens in den ersten drei Monaten.
Der Bericht, der der taz vorliegt, ist eindeutig: Nach völker- und verfassungsrechtlicher Prüfung sei die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen „nicht haltbar“. Der Paragraf 218 müsse mindestens verändert, wenn nicht gleich abgeschafft werden. Eine Verbesserung des Status quo ist damit so greifbar wie lange nicht. Seit der Gründung des Deutschen Reichs, also seit 153 Jahren, steht der Zwangsparagraf im Strafgesetzbuch.
Dass das nicht so sein muss, zeigen nicht nur international immer mehr Beispiele wie kürzlich Frankreich, wo das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gerade in der Verfassung verankert wurde. Auch das EU-Parlament forderte erst diese Woche, das Abtreibungsrecht in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufzunehmen.
Man muss gar nicht ins Ausland blicken: Während in der BRD Abtreibungen auch nach dem Zweiten Weltkrieg strikt verboten blieben, waren sie für Frauen in der DDR ab 1972 ihr gutes Recht. Die Wiedervereinigung brachte den westdeutschen Frauen mit der bis heute geltenden Lösung – „verboten, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei“ – zwar leichte Verbesserungen. Für die ostdeutschen Frauen aber bedeutete das einen massiven Eingriff in ihre Freiheit und Selbstbestimmung.
Abschaffung von § 219a war ein erster Schritt
Jetzt ist die Gelegenheit da, diese Freiheit für alle Frauen hierzulande wiederherzustellen. Lange war das Recht auf körperliche Selbstbestimmung öffentlich kaum Thema. Das hat sich längst geändert, auch dank der jahrelangen Arbeit vieler Feminist*innen. Kristallisationspunkt dieser Entwicklung war der Fall Kristina Hänel: Die Ärztin war 2017 verklagt und später verurteilt worden, weil sie auf ihrer Website darüber informierte, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehme.
Nach dem damals geltenden Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs galt dies kurioserweise als verbotene Werbung. Die Ampel schaffte den Paragrafen zu Beginn der Legislatur ab. Doch für die, die es ernst meinen mit reproduktiven Rechten, ist klar: Diese wichtige, aber im Verhältnis winzige Verbesserung kann nur der Anfang gewesen sein. Dass es hoch hergeht, wenn es um das Recht auf den eigenen Körper geht, ist bekannt.
Einen „Dammbruch für unser Werteverständnis“ sah Unionsfraktionsvize Dorothee Bär auch gleich in den aktuellen Kommissionsergebnissen und stellte die Unabhängigkeit der Kommission infrage – angesichts deren hochkarätiger und breiter Besetzung so uninformiert wie unverschämt. Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei schrieb auf X, vormals Twitter: „Sollte die ‚Ampel‘ Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 12 Wochen legalisieren, werden wir beim Bundesverfassungsgericht Klage einreichen.“
Auch jenseits der Union fragen jetzt manche: Was ist denn eigentlich das Problem? Abbrüche in Deutschland seien möglich, heißt es dann. Haltet euch an Pflichtberatung und Wartefrist, dann bekommt ihr, was ihr wollt. Jetzt bitte nicht den nächsten Großkonflikt in der ohnehin schon gespaltenen Gesellschaft. Das Land, so das Argument konservativer, teils auch liberaler Politiker*innen, habe sich 1995 auf einen „Kompromiss“ geeinigt. Und der funktioniere doch auch irgendwie.
Gute Informationen oft schwer zu finden
Aber der faule Kompromiss funktioniert für viele Betroffene in mancher Hinsicht gar nicht. Die Ergebnisse der erwähnten Fuldaer Studie, finanziert vom Bundesgesundheitsministerium, zeigen schwarz auf weiß: Die Versorgungslage ungewollt Schwangerer ist oft prekär. Mehr als die Hälfte der befragten Frauen fand es schwierig, ausreichende und gute Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden. Von denen wiederum hatte die Hälfte Angst, dass schlecht über sie gedacht wird.
Fast die Hälfte wollte oder musste den Abbruch geheim halten. Mehr als jede vierte Frau musste mehr als eine Einrichtung kontaktieren, um einen Termin für einen Abbruch zu bekommen. 15 Prozent mussten für den Eingriff weiter als 50 Kilometer fahren, mitunter sogar weiter als 100 Kilometer. Was auch daran liegt, dass die Zahl der Ärzt*innen, die Abbrüche vornehmen, seit Jahren sinkt.
Rund 100.000 Abbrüche gibt es jedes Jahr, aber nur rund 1.100 Stellen melden derzeit, dass sie diese durchführen – die Zahl hat sich seit 2003 fast halbiert. Zudem sind die Stellen regional sehr unterschiedlich verteilt. Eine ungewollt Schwangere in Bayern hat viel weniger Möglichkeiten als eine in Sachsen oder Berlin. Abbrüche vorzunehmen ist nicht attraktiv. Ganze 65 Prozent der befragten Ärzt*innen sagten, sie hätten Erfahrungen von Stigmatisierung gemacht.
Ihre Arbeit wird nicht als wichtige medizinische Arbeit wahrgenommen, sondern als etwas Schmuddeliges. All das ist eine Folge davon, dass der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch steht. Dieser Status quo ist unvereinbar mit dem Umstand, dass eine Frau Grundrechte hat. Sie hat reproduktive Rechte: das Recht, selbst zu entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen will. International ist das als Menschenrecht anerkannt. In Deutschland ist das noch nicht angekommen.
Ampel sollte eigenen Auftrag erfüllen
Die Ampel hat viel versprochen in diesem Bereich – auch über den Schwangerschaftsabbruch hinaus. Passiert ist wenig. Wo ist die bessere Hebammenbetreuung unter der Geburt, wo die Unterstützung bei künstlicher Befruchtung unabhängig von sexueller Orientierung oder Familienstand, wo der kostenfreie Zugang zu Verhütungsmitteln mindestens für Geringverdiener*innen?
Und ja: Wo ist die Streichung des Paragrafen 218, die mit SPD und Grünen zwei von drei Koalitionspartnern in ihren Wahlprogrammen gefordert hatten? Wenn es noch eines Arguments für die Streichung bedurft hätte, jetzt ist es da: Die eigens eingesetzte Expertinnenkommission erklärt das grundsätzliche Abtreibungsverbot für überholt.
Und doch reagiert die Ampel bisher mit Zurückhaltung. Der Kanzler, der sich selbst mal als „Feminist“ bezeichnet hat, warnt lediglich vor „Polarisierung“. Aber der Kulturkampf, den er fürchtet, ist längst da. Seien es Kampagnen gegen das Selbstbestimmungsgesetz, seien es Verbote, das Gendersternchen zu nutzen – der Antifeminismus, der sich dieser Tage Bahn bricht, ist Ausdruck eines nach rechts driftenden Diskurses.
Progressive Kräfte haben die Wahl: schweigen aus Angst, dass gehetzt wird – oder die Debatte offen und offensiv führen? Wohin das Schweigen führt, zeigen die USA: Dort kippten rechtskonservative Richter „Roe v. Wade“, jenes Gesetz, das Frauen den Schwangerschaftsabbruch garantierte. Möglich wurde das auch, weil Demokrat*innen es zu lange nicht für nötig gehalten hatten zu thematisieren, wie grundlegend das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist; oder dieses Recht gar gegen solche Angriffe zu wappnen – in der Verfassung.
Dranbleiben und für Frauenrechte kämpfen
Für Frauenrechte muss immer wieder neu Partei ergriffen, sie müssen immer wieder neu verteidigt werden. Jeder Versuch, sich der Debatte zu entziehen, schadet nicht nur den progressiven Bündnissen in diesem Land, sondern vor allem Betroffenen, in diesem Fall: den Frauen. Unsere Rechte preisgeben, nur weil die AfD geifert? Nein, im Gegenteil, unsere Rechte so grundlegend wie möglich absichern, solange es die Gelegenheit dazu gibt.
Stets ging es in diesem Kampf vor und zurück, manchmal schon schien es, als sei der Durchbruch nah. Doch jetzt ist die Situation günstig wie nie. Die Fakten, wie es ungewollt Schwangeren und Ärzt*innen geht, hat die neue Studie geliefert. Dass der Paragraf 218 in dieser Form nicht mit der Verfassung vereinbar ist, hat die Kommission klargestellt.
Die Ampel, die reproduktive Rechte als erste Regierung hierzulande im Koalitionsvertrag thematisierte, muss ihrem eigenen Auftrag nun folgen. Es geht um mehr als Parteipolitik und vorgezogenen Wahlkampf. Es geht um die Menschenrechte aller gebärfähigen Menschen in diesem Land, der Hälfte der Bevölkerung. Weg mit Paragraf 218.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Strategien gegen Fake-News
Das Dilemma der freien Rede