9. November und Antisemitismus: „Deutschland wird dir gefallen“

Als Kind zog Rafael Seligmann mit den Eltern von Israel in die Bundesrepublik. Und erlebte Antisemitismus: den alten und den der Neuen Linken.

Honecker im Mantel links umarmt Arafat (mit Kufiya auf dem Kopf)

DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker begrüßt PLO-Chef Jassir Arafat 1982 in Ostberlin Foto: Imago, Stock & People

Ich kann die bußfertigen, philosemitischen Gelöbnisse und Selbstverpflichtungen nicht mehr hören, die gehäuft zum 9. November und nach judenfeindlichen Anschlägen verkündet werden. „Unsere jüdischen Mitbürger müssen sich in Deutschland sicher fühlen! – „Deutschland wird keinen Antisemitismus zulassen!“ – „Wir werden die Judenfeindschaft auslöschen!“ Die Absicht ist wohl gemeint, sie besitzt indessen die Halbwertszeit einer Seifenblase.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

1957 kam ich als Zehnjähriger mit meinen Eltern aus Israel in deren deutsche Heimat. Wir ließen uns in München nieder. Damals waren Prügelstrafe und unverstellte Judenfeindschaft Alltag in der Klenze-Schule. „Saujude“ war ein gängiges Schimpfwort. Als ich zudem verdroschen wurde, beschwerte sich meine Mutter beim Schulleiter.

Rafael Seligmann

Rafael Seligmann 73 (auf dem privaten Foto 1958 als Schüler), ist politischer Wissenschaftler und Romanautor. Zuletzt veröffentlichte er die Biografie seiner Eltern: „Lauf Ludwig, Lauf! Zwischen Fußball und Synagoge“ und „Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv.“

Darauf forderte er sie auf: „Nehmen Sie Ihren Zuckerknaben und kehren Sie zurück nach Palästina!“ Hannah aber wandte sich an den Stadtschulrat. Anton Fingerle war empört. Man lebe in einem demokratischen Deutschland, die Juden seien willkommen. Fingerle rief in Mutters Gegenwart den Direktor an und drohte ihm mit Entlassung, falls sich solche Vorfälle in seiner Schule wiederholten.

Anderntags stürmte der Direx in die Klasse und wies unseren Lehrer Walk an, die prügelnden Schüler ihrerseits mit dem Rohrstock zu bestrafen. Ich wechselte die Schule. Dort gab es keinen Rohrstock. Direktor Hirschbold ließ keine Judenverwünschungen zu. Er „kenne keine Katholiken, Protestanten oder Juden, nur Menschen“, gelobte er. Ich begann der Versicherung meines Vaters Ludwig zu glauben: „Deutschland wird dir gefallen.“

Autorität in Geschichte

In der Mittelschule galt ich zunächst als Autorität in Geschichte, dem einzigen Fach, für das ich mich interessierte. Meine Mitschüler fanden dank meiner Einflussnahme Gefallen daran, dass der Judenmörder Eichmann 1961 in Jerusalem vor Gericht gestellt wurde.

Diese Haltung nahm ein Ende, als wir in der Abschlussklasse eine Geschichtslehrerin bekamen, die Nazideutschland als Opfer einer Einkreisungspolitik der „Kriegsverbrecher“ Churchill, Stalin und Roosevelt schilderte.

Obgleich Frau Braun mir gegenüber höflich war und sich antisemitischer Bemerkungen enthielt, kamen diese nunmehr in der Klasse hoch. Juden wurden als Ausbeuter beschimpft, „Wiedergutmachung“ als jüdischer Schwindel „entlarvt“.

Ich begriff, Antisemitismus liegt den Schülern nicht im Blut. Er wird ihnen von Lehrern, Geistlichen, judenfeindlichen Politikern – die NPD befand sich im Aufwind – kurz: von Autoritätspersonen eingebrannt.

Die biologische Lösung

Ich flüchtete in den Trost der Ohnmächtigen und ersann eine Geschichtslogik: Bewusste Nazis waren bei Kriegsende dreißig Jahre alt. 1965 waren sie fünfzig Jahre – wie unsere Frau Braun. Ich musste mich noch 15 Jahre gedulden, um zu erleben, dass die meisten Nazis und Antisemiten in Rente gehen würden. Dann, so redete ich mir ein, würde die Judenfeindschaft verglimmen.

Meine biologische Nazi-Rechnung schien aufzugehen. 1963 musste Hans Globke, ein Kommentator der Nazi-Rassegesetze, sein Amt als Chef des Kanzleramtes räumen. 1969 wurde der ehemalige NS-Parteigenosse Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler abgewählt. Kiesingers Bezwinger Willy Brandt war ein ausgewiesener Anti-Nazi, der wegen seiner demokratischen Gesinnung in die Emigration fliehen musste. Deshalb wurde Brandt lange verunglimpft.

Der Antisemitismus gleicht einem Retrovirus

Die Entscheidung der Mehrheit, zumal der Jüngeren, für Brandt war in meinen Augen auch ein Wendepunkt im Kampf gegen den Antisemitismus. Der Prozess des Abtretens von alten Nazis und Judenfeinden beschleunigte sich. Parallel dazu verlief der Aufstieg der 68er. Sie erhoben sich gegen ihre Nazi-Eltern, Erzieher und Autoritäten. Ihre Idole waren vielfach antiautoritäre Philosophen jüdischer Herkunft.

Ich war überzeugt, dass der Antijudaismus in Deutschland unwiederbringlich verlöschen würde. Doch bald musste ich erkennen, dass dies Wunschdenken war. Denn der Antisemitismus gleicht einem Retrovirus. Er ändert seine Form von religiöser über „rassische“ zur ideologischen Feindseligkeit.

Die Mimikrytaktik der DDR

Offen gegen Juden zu hetzen, wie das Alt- und Neonazis, NPDisten und ihre Geistesverwandten taten, ist zumindest im Mainstream der deutschen Gesellschaft out. Seit den siebziger Jahren war offene Judenfeindschaft in der Bundesrepublik nicht salonfähig. Die Antisemiten begannen sich an der Mimikrytaktik der DDR zu orientieren.

Im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat war Antisemitismus qua Ideologie abgeschafft, doch Antizionismus gemäß ebendieser Staatsideologie angesagt. Gegen Juden durfte man nichts haben. Doch Zionisten besetzten fremdes Land, unterdrückten und vertrieben die genuine Bevölkerung. Bemerkenswert war allerdings, dass dies nur im Falle des jüdischen Staates so unnachsichtig angeprangert wurde. Einerlei, wer in Ost oder West etwas gegen Juden hatte, nannte sich fortan „Antizionist“.

Wohin dies im Extremfall führte, zeigten westdeutsche Terroristen, die sich als Marxisten bezeichneten. Gemeinsam mit ihren palästinensischen Genossen entführten sie 1976 eine Air-France-Maschine ins Reich des Judenhassers Idi Amin und selektierten dort die jüdischen Passagiere wie einst ihre Naziväter an der Rampe von Auschwitz. Ein Extremfall. Fünf Jahre später fand ein verwandtes Phänomen Eingang in die etablierte Gesellschaft.

SPD-Kanzler Helmut Schmidt setzte sich an die Spitze der Rüstungslobby, die für einen Export deutscher Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien eintrat. Um sein Anliegen besser zu verkaufen, polemisierte Schmidt in einem Fernsehinterview gegen das „ganze moralisch-historische Gepäck“ wie Auschwitz. Israels Premier Begin beschimpfte Schmidt im Gegenzug als Nazi-Offizier.

Israel gleich Nordkorea

Die meisten alten Nazis waren damals bereits tot – zumindest nicht mehr wirkungsmächtig. Es ging um gegenwärtige Waffengeschäfte. Doch der rüde Zank vergiftete die deutsch-israelischen Beziehungen derartig, dass das Ansehen des jüdischen Staates in der Gunst des deutschen Publikums unwiederbringlich erodierte. Seither ist Israel neben Nordkorea eines der unbeliebtesten Länder in Deutschland.

Die hiesigen Juden bekommen es zu spüren. Einerlei, in welchen Kreisen man sich als Jude bewegt, stets wird man als Vertreter Israels angesehen. Nicht nur von sogenannten einfachen Menschen. Immer wieder wurde ich auch von Politikern, Ministern angesprochen, sie führen jetzt in meine Heimat zu meinem Minister. Das ist gut gemeint und verrät doch die Identifizierung der Juden als Teil einer auswärtigen Macht. Kein „Deutscher wie wir“.

Die Kanzlerin mochte 2008 vor der Knesset Israels Sicherheit zur deutschen Staatsraison erklären, Politiker demokratischer Parteien den Schutz jüdischer Einrichtungen hervorheben und Antisemitismus verdammen. Den deutschen Juden helfen die Deklamationen nichts. Als Tausende Demonstranten beim Al-Quds-Tag 2014 in deutschen Städten brüllten: „Jude, Jude, feiges Schwein!“ – „Juden ins Gas!“ erfolgten weder Festnahmen noch Anzeigen.

Nach dem Anschlag in Halle gelobte man Besserung. In Berlin, Frankfurt, Hamburg ebenso. Der Antisemitismus lebt wie die Wüste, und er ist ebenso heiß. Man darf sich dennoch nicht mit ihm abfinden und nicht auf seine Taschenspielertricks hereinfallen. Ein Alibi für Judenhass ist nicht statthaft. Weder ein religiöses noch ein rassistisches oder ein ideologisches. Kritik an Israels Politik ist legitim. Sie findet allenthalben statt. Aber die Verweigerung des Existenzrechts des jüdischen Staates ist Antisemitismus.

Es gibt kein Allheilmittel gegen Judenfeindschaft. Der moderne Antisemit trägt kein Hakenkreuz, mancher gibt sich gar als Freund Israels. Er bleibt Menschenverächter. Dennoch darf man nicht resignieren. Es gilt, unverdrossen zu diskutieren und aufzuklären. Der Fortschritt ist eine Schildkröte. Sie kommt langsam voran.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.