58.916 Delikte im Jahr 2022: Kriminalität auf Höchststand
Das BKA verzeichnet so viele politisch motivierte Straftaten wie noch nie seit 2001. Die meisten Delikte seien allerdings „nicht zuzuordnen“.
Das Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) veröffentlichten die Jahresstatistik am Dienstag. Weit vorne liegt erneut der rechte Bereich, mit einem Anstieg der Straftaten um knapp 7 Prozent auf 23.493 Delikte. Gut 14.000 der Taten waren Propagandadelikte. Gezählt wurden aber auch 1.170 Gewalttaten, bei denen 675 Menschen verletzt wurden – ein Anstieg um 12 Prozent und so viele wie in keinem anderen politischen Bereich.
Faeser warnte, der Rechtsextremismus bleibe die größte Gefahr für die Demokratie. Sie verurteilte auch aktuelle Tiraden gegen Geflüchtete: „Aus Worten werden Taten.“ Der AfD komme hier „eine besondere Rolle zu“. Auch Angriffe auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte verurteilte Faeser: Es sei „in höchstem Maße menschenverachtend, Menschen zu attackieren, die vor Krieg und Terror geflüchtet sind und bei uns Schutz gefunden haben“.
Auf der linken Seite sanken dagegen die Zahlen um 31 Prozent auf 6.976 Delikte. Hier ging es zumeist um Sachbeschädigungen (3.545), in 842 Fällen aber auch um Gewalttaten und in 588 um Verstöße gegen das Versammlungsgesetz. BKA-Präsident Holger Münch betonte aber, dass die einzelnen Straftaten durchaus heftig seien und professioneller und persönlich würden.
Im islamistischen Bereich („religiöse Ideologie“) zählte das BKA 481 Straftaten, fast so viele wie im Vorjahr. Davon hatten laut Statistik allerdings 74 Delikte eine terroristische Qualität – die höchste Zahl aller politischen Spektren. Münch warnt deshalb vor einer „anhaltend hohen Gefährdungslage durch den islamistischen Terrorismus innerhalb Deutschlands“.
Antisemitismus sinkt, Antiziganismus steigt
Im Bereich Hasskriminalität wurden die meisten Taten als „fremdenfeindlich“ (10.038) klassifiziert – ein Anstieg um 8 Prozent zum Vorjahr. Antisemitische Straftaten gingen um 12 Prozent auf 2.641 Delikte zurück. Für Faeser und Münch bedeutet das dennoch keine Entwarnung: Denn die antisemitischen Gewaltdelikte – 88 Fälle – seien sogar angestiegen. Die Zahl antiziganistischer Straftaten stieg dagegen um ein Drittel auf 145 – ein Höchststand. Sehr hoch ist auch die Zahl der Angriffe gegen den Staat und seine Vertreter: 20.978 Straftaten zählt hier das BKA.
Den inzwischen größten Anteil in der Statistik machen indes Straftaten aus, die für die Polizei politisch „nicht zuzuordnen“ sind: ganze 24.080 Delikte. Hier gab es noch einmal einen Anstieg von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und in dieses Feld fallen immerhin auch 1.608 Gewaltdelikte, bei denen 546 Personen verletzt wurden. Rund die Hälfte der für die Polizei „nicht zuzuordnenden“ Straftaten – gut 12.500 – wurde im Coronakontext gezählt, der allergrößte Teil auf Demonstrationen. Nur 783 der „Corona-Straftaten“ wurden als rechts eingestuft.
Mitursächlich für das große „Nicht zuzuordnen“-Feld sind auch die Reichsbürger:innen, die mehrheitlich dort einsortiert werden. So waren für die Polizei 1.603 der 1.865 Straftaten von Reichsbürger:innen nicht zuzuordnen – ein Anstieg um knapp 40 Prozent. Dabei handelte es sich etwa um 778 Bedrohungen, 221 Beleidigungen, aber auch 333 Gewalttaten.
Auch die jüngsten Umsturzpläne von Reichsbürgern werden bisher als „nicht zuzuordnen“ eingestuft – ebenso wie gleich vier der neun versuchten Tötungsdelikte im Jahr 2022. Zwei davon betrafen Reichsbürger, die in Efringen-Kirchen und Boxberg Polizisten angriffen. Bei den beiden anderen handelte es sich um einen homophoben Messerangriff in Kiel und eine Auseinandersetzung im Brandenburger Michendorf zwischen zwei osteuropäischen Lkw-Fahrern, bei denen einer lebensbedrohlich verletzt wurde. Je zwei der weiteren versuchten Tötungsdelikte wurden rechts und „religiös motiviert“ eingestuft und eines links.
An der großen Zahl an nicht zuordnenbaren Einstufungen regt sich schon länger Kritik von Grünen und Linken. Auch der Verband der Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt stimmte hier am Dienstag ein. Opferberater Robert Kusche von der RAA Sachsen sprach von einer „eklatanten Untererfassung“ rechter Straftaten, wenn der Bereich „nicht zuzuordnen“ so groß sei. Gerade die Coronaproteste folgten inzwischen klar rechtsextremen Verschwörungsnarrativen. „Das BKA-Lagebild entspricht so nicht der Realität.“
BKA-Präsident Münch betonte dagegen, dass etwa die Coronaproteste weiterhin aus einer „heterogenen Mischszene“ kämen, bei denen eine „tragende Rolle“ der Querdenkenbewegung zukomme. Zwar hätten Teile der Proteste eine „staatsfeindliche Haltung“. Eine umfassende Unterwanderung der Proteste durch Rechtsextreme könne aber „nicht festgestellt“ werden. Das BKA reagierte aber zu Jahresbeginn insoweit auf die Kritik, als sie die Kategorie in „Sonstige Zuordnung“ umbenannte.
Faeser erklärte zudem, man werde „weiter mit aller Härte“ gegen gewaltbereite Reichsbürger vorgehen. Der Anstieg der Fallzahlen in diesem Bereich sei „besonders besorgniserregend“. Faeser warb auch erneut für ihren Verstoß einer Waffenrechtsverschärfung. Immer noch verfügten 400 Reichsbürger über waffenrechtliche Erlaubnisse, warnte sie.
Auch Resonanzstraftaten auf Ukrainekrieg
Neu hinzu in die Statistik kamen auch sogenannte Resonanzstraftaten auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: 5.510 Delikte. Die Hälfte ordnete das BKA dem Bereich „ausländische Ideologie“ zu – der dadurch um gut 200 Prozent anwuchs. Fast die andere Hälfte gilt erneut als „nicht zuzuordnen“. Zu den Delikten zählen etwa die Billigung von Straftaten (1.169), Sachbeschädigungen (613) oder Beleidigungen (194). Auch die Proteste in Iran sorgten hierzulande für 212 Straftaten, vor allem auf Solidaritätsdemonstrationen.
Schließlich notiert das BKA auch noch 1.716 Straftaten im Bereich „Klima“, worunter etwa Proteste der „Letzten Generation“ oder in Lützerath zählen – ein Anstieg um 72 Prozent. Fast alle dieser Taten werden dabei als links eingeordnet. In dem Bereich wurden vor allem Sachbeschädigungen (516), Nötigungen (424) oder Verstöße gegen das Versammlungsgesetz (209) notiert. Faeser wurde auch hier deutlich: Sie habe „nicht das geringste Verständnis“ dafür, wenn Aktionen der „Letzten Generation“ zu Straftaten führten und Rettungsfahrzeuge blockiert würden. „Der Klimawandel muss demokratisch bekämpft werden.“
Opferberatungsstellen kommen auf noch höhere Zahlen
Der Verbund der Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt vermeldete am Dienstag derweil für seinen Bereich sogar noch höhere Zahlen als das BKA. Allein in den zehn Ländern, wo die Stellen Zahlen erheben, kamen sie auf 2.093 rechte Gewaltdelikte – ein Anstieg um 15 Prozent zum Vorjahr und doppelt so viel wie die 1.170 Fälle des BKA. 2.871 Menschen seien dadurch verletzt worden. Das häufigste Motiv sei Rassismus gewesen, was Sicherheitsbehörden „oft wegschwiegen“, erklärte der sächsische Opferberater Kusche. Auch antisemitische Angriffe hätten sich auf 204 Fälle vervierfacht – auch hier eine deutlich höhere Zahl als die des BKA.
Kusche sprach einer „höchst alarmierenden“ Entwicklung. Gerade in Ostdeutschland herrsche ein „flächendeckendes Klima von Angst und Unsicherheit“. Es brauche klarere Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden und flächendeckend Rassismusbeauftragte bei Polizei und Justiz. Die Verbände forderten zudem, die Tötung des trans Manns Malte C. in Münster als rechtsextreme Tat anzuerkennen – was bisher nicht geschehen ist.
Der Text wurde am 9. Mai 2023 um 14.00 Uhr aktualisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku