Diskriminierung von Sinti und Roma: „Polizei ist immer das erste Thema“

Antiziganismus ist weit verbreitet. Auch dort, wo die Minderheit auf den Staat trifft, kritisiert der Antiziganismus­beauftragte Mehmet Daimagüler.

Zwei Demonstrant*innen halten jeweils eine Romaflagge. Im Hintergrund ist das Brandenburger Tor zu sehen

Die Selbstorganisation ist stärker geworden: Demo in Berlin am Welt-Roma-Tag am 8. April Foto: Florian Boillot

wochentaz: Herr Daimagüler, Sie sind seit einem Jahr Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung. Seitdem haben Sie der Polizei Racial Profiling vorgeworfen und der Bundesregierung eine fehlende Aufarbeitung der NS-Verbrechen gegen Sinti und Roma. Wie kam das an?

Mehmet Daimagüler: Natürlich sind darüber nicht alle happy. Ich bin aber auch nicht mit dem Ziel angetreten, alle happy zu machen. Es hat niemand ernsthaft erwartet, dass ich nur durchs Land fahre und Reden halte, gefüllt mit Plattitüden und Wohlfühlsätzen. Wir müssen mit dem Bullshitting und Selbstbetrug aufhören, dass alles paletti ist und alle Minderheiten in diesem Land restlos zufrieden sind.

Hat Ihre Kritik etwas bewirkt?

Sinti und Roma werden bei Debatten oft übersehen, manchmal mit, manchmal ohne bösen Willen. Dann wird zum Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aufgerufen, aber der Kampf gegen Antiziganismus bleibt unerwähnt. Da melde ich mich dann zu Wort. Und ich habe den Eindruck, dass Sinti und Roma inzwischen öfter mitgedacht werden. Das ist vor allem dem Kampf der Selbstorganisationen zu verdanken. Ich habe zudem die Hoffnung, dass die Community sieht: Da ist das erste Mal jemand aus dem Inneren dieses Staats, der unsere Probleme anspricht, der nichts beschönigt oder verschweigt.

Nach außen waren Sie im ersten Amtsjahr nicht übermäßig sichtbar. Woran lag das?

ist seit Mai 2022 erster Antiziganismusbeauftragter. Als Anwalt vertrat er Opfer von Hassverbrechen, etwa im NSU-Prozess.

Das erste Jahr war zum einen dem Aufbau des Amtes gewidmet. Vor allem aber wollte ich Gespräche in der Community führen. Viel zu oft wurde nur über diese gesprochen und nicht mit ihr – als wären das unmündige Kinder. Rund 150 Gespräche habe ich bisher geführt.

Welches Problem ist für die Community am drängendsten?

Das erste, was in den Gesprächen aufkommt, ist das Thema Polizei – Klagen über anlasslose oder überzogene Kontrollen und Polizeieinsätze. Das beschriebene Bild ist immer gleich: Sobald die Polizei auf Sinti oder Roma trifft, scheinen gültige Gesetze und bewährte Regularien außer Kraft gesetzt. Stattdessen wird auf Eskalation gesetzt. Und wenn die Menschen sich nur ansatzweise wehren, landen sie auf der Anklagebank.

Also Racial Profiling?

Was viele Sinti und Roma erleben, ist prototypisch für Racial Profiling. Bei nichtigsten Anlässen rückt die Polizei in Großaufgeboten bei Angehörigen der Minderheit an, bei Beschwerden über laute Musik wie bei Streitigkeiten unter Jugendlichen auf dem Fußballplatz. Und über allem hängt diese absurde Clandebatte, die einerseits die ganze Community kriminalisiert und andererseits jeden Polizeieinsatz als Kampf gegen die organisierte Kriminalität legitimiert. Ich habe einmal in einer Studie über Clankriminalität gelesen: ‚Über 200.000 Personen gehören kriminellen Clan-Familien an – aber nicht alle sind kriminell‘. Wenn aber diese Menschen rechtschaffen sind, warum werden sie überhaupt mitgezählt? Warum werden nicht bei Cum-Ex-Beschuldigten die Ehefrau und Söhne mit aufgelistet?

Selbst Innenministerin Nancy Faeser hat der Clankriminalität den Kampf angesagt.

Ich sage nicht, dass es keine Organisierte Kriminalität gibt. Aber diese Clan-Nummer ist kriminologischer Unfug, das hat keine empirische Grundlage. Dafür gibt sie jedem Dorfsheriff die Macht, die Community zu drangsalieren. Sie dient als Argumentationsgrundlage für Gesetzesverschärfungen, für den Abbau von Bürgerrechten, für mehr Befugnisse und Ressourcen für Sicherheitsbehörden.

In einer Polizeistudie äußerten sich zuletzt 17 Prozent der befragten Polizeikräfte ablehnend gegenüber Sinti und Roma. Das hat Sie vermutlich nicht überrascht?

Wenn es denn wirklich nur 17 Prozent sind. Antiziganismus ist eine weithin akzeptierte Erscheinung. Auch und gerade dort, wo die Minderheit auf den Staat trifft, seien es Schulen, Arbeitsagenturen, die Justiz oder eben die Polizei.

Sie sprachen das Polizeiproblem auch im Januar beim BKA an, als Präsident Holger Münch eine Vereinbarung gegen Antiziganismus unterzeichnete.

Die Kooperationsvereinbarung zwischen dem BKA und dem Zentralrat der Sinti und Roma ist ein Meilenstein, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung – etwa bei der vereinbarten Zusammenarbeit bei der Aus- und Weiterbildung von Polizeibeamt*innen. Man muss dabei aber über den Elefanten im Raum sprechen, nämlich über die eigene Polizeipraxis, die genau den Antiziganismus befördert, den man bekämpfen möchte. Würde ich dazu schweigen, wäre das beschämend.

Und wie hat Münch reagiert?

Herr Münch, den ich fachlich wie persönlich sehr schätze, hat meine Rede zur Kenntnis genommen. Ich hatte nicht erwartet, dass er danach begeistert applaudiert und eine grundsätzlich andere Haltung zu diesen Themen annimmt. Veränderungsprozesse brauchen Zeit.

Die Polizei zählt vorläufig 145 antiziganistische Straftaten für 2022 – so viele wie nie zuvor.

Da würde ich locker mal eine Null ranhängen. Das Dunkelfeld ist sehr hoch, das zeigen auch meine Erfahrungen aus meiner Zeit als Anwalt. Manchmal habe ich alleine schon 20 bis 30 Betroffene im Jahr vertreten. Wir haben jetzt die zivilgesellschaftliche Meldestelle Antiziganismus eingerichtet. Mal sehen, wie hoch dort die Fallzahlen werden. Aber ein Problem ist heute schon klar: Betroffene aus der Community trauen sich nicht, zur Polizei zu gehen. Ich kann das gut verstehen.

Ihre Gespräche führten Sie auch in die Ukraine, wo Sie Sinti und Roma trafen, die vor dem Krieg flüchteten. Nicht wenige erlebten auch in Deutschland Widerstand bei der Aufnahme. Wie groß ist das Problem?

Sinti und Roma sind besonders betroffen von dem Krieg. Die Männer sind beim Militär, die Community ist zerschlagen. Die Roma und Sinti, die ich in der Ukraine traf, lebten in unglaublichen Zuständen, manche im Wald. Und dennoch wollten die meisten nicht weg, weil sie nicht wussten, was sie anderswo erwartet. Diesen Menschen muss geholfen werden. Wenn Deutschland hier Selbstorganisationen vor Ort unterstützt, würde das ganz konkret Flucht­ursachen bekämpfen. Und bei denen, die doch nach Deutschland kommen, müssen die Kommunen klipp und klar machen: Es gibt keine Geflüchteten Erster und Zweiter Klasse. Auch diese Menschen haben einen Anspruch auf Schutz und Würde.

Auch beim Gedenken an die durch das NS-Regime ermordeten Sinti und Roma sprachen Sie zuletzt, in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, von „Verlogenheit“. Warum?

Man kann nicht an einem Tag die Toten ehren und am nächsten die Lebenden verachten. Wir haben bis heute nicht die NS-Verbrechen an den Sinti und Roma aufgearbeitet, es gab keine oder unzureichende Entschädigung, die Menschenfeindlichkeit besteht fort. Das ist schreiendes Unrecht. Die Unabhängige Kommission Antiziganismus, die 2021 ihren Abschlussbericht der Bundesregierung vorlegte, beschreibt sehr eindringlich auch das von ihr „Zweite Verfolgung“ genannte Unrecht nach 1945.

Die Kriminalisierung der Minderheit durch polizeiliche Täter und Helfershelfer des Völkermords, das Abschieben der Menschen an die Ränder der Städte, neben Mülldeponien und Autobahnauffahrten – etwas, was wir heute zu Recht Umweltrassismus nennen – oder die faktische Ausbürgerung von KZ-Überlebenden im Nachkriegsdeutschland. Ich habe Jugendliche aus der Minderheit kennengelernt, die heute staatenlos sind, weil ihren Urgroßeltern nach der NS-Zeit keine Ausweispapiere ausgestellt wurden. Wir wollen Versöhnung, aber es soll nicht schmerzen. Aber so funktioniert das nicht. Der Weg zur Versöhnung erfolgt durch ein Tal voller Dornen und den sind wir bisher nicht gegangen.

Wann, glauben Sie, wird sich für Sinti und Roma wirklich etwas strukturell verbessern?

Ich bin nicht naiv – das wird ein langer Prozess. Aber ich bin, zum Glück, nicht allein mit meinem Anliegen und habe politische Unterstützer. Und auch die Selbstorganisationen sind zum Kampf entschlossen.

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