25 Jahre Ende der Sowjetunion: Das ewige Opfer
Putin nennt das Ende der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“: Am Niedergang sei der Westen schuld.
Bushs Worte klangen wie eine Beschwörung. Doch schon zwei Wochen später putschen Hardliner der Kommunistischen Partei (KPdSU) gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Der wollte mit dem neuen Vertrag die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR) retten. Der Coup schlug fehl – aber der Versuch, den Staat zu bewahren, auch. Zudem besiegelten die Putschisten auch das Schicksal der Staatspartei. Damit gehörte die UdSSR faktisch der Vergangenheit an.
Eine Republik nach der anderen erklärte sich für unabhängig. Irritierend gleichwohl: Nicht nur lag die eben noch stolze Supermacht am Boden; auch sah sich niemand aus Staat oder Partei noch in der Pflicht, das alte System zu verteidigen.
Die Parade der Unabhängigkeitserklärungen machte eins deutlich: Keine Sowjetrepublik wollte die Chance verpassen, sich von der russischen Bevormundung loszusagen. Dabei hatte die KPdSU die Nationalitätenfrage als längst gelöst abgehakt. Offiziell gab es nur noch Sowjetbürger. Die Staatspartei war Opfer der eigenen Ideologie geworden.
Scheiden tat nicht weh
Als am 25. Dezember das rote Banner über dem Kreml eingeholt wurde und Gorbatschow den Amtssitz verließ, war er längst ein Herrscher ohne Land. Schon Anfang Dezember hatten die slawischen Republiken Weißrussland, Ukraine und Russland den Vertrag zur Auflösung der Union vereinbart. Am 31. Dezember hörte die Sowjetunion auch als Subjekt des Völkerrechts auf zu existieren. Das russische Parlament stimmte dem mit großer Mehrheit zu – auch jene kommunistischen Abgeordneten, die den früheren Reformkräften heute Verrat vorwerfen.
Die russische Teilrepublik war früh auf Distanz zur Union gegangen. Ihre Bürger machten sich aufgrund der grassierenden Wirtschaftskrise vor allem Gedanken darüber, wie sie sich mit dem Notwendigsten versorgen konnten. Jede Republik galt als Kostgänger. Das Motto in jenen Tagen lautete, ein Esser weniger am Tisch. Scheiden tat nicht weh. Als Gorbatschow als sowjetischer Präsident zurücktrat, demonstrierte niemand mehr in Moskau. Das kommunistische System war längst zusammengebrochen.
Seine Existenzberechtigung hatte der Sowjetkommunismus eingebüßt, weil er die Bevölkerung nicht mehr versorgen konnte. Im Kaufhaus GUM am Roten Platz suchte Ende 1991 jeder für Neujahr, den wichtigsten Feiertag, nach etwas Verwertbarem – egal, ob er es gebrauchen konnte oder nicht, Alles war Tauschmasse. Das war das Grundgefühl – der Phantomschmerz über das verlorene Imperium setzte erst später ein.
Boris Jelzin, damals Präsident der russischen Teilrepublik, hatte noch versucht, die Dominanz Russlands in einem slawischen Teilbündnis fortzuschreiben. Er scheiterte an der strikten Ablehnung der Ukraine. Doch Fakten wie diese gehen in der heutigen Nostalgie für alles Sowjetische unter. Wenn Russlands derzeitiger Präsident Wladimir Putin vom Ende der Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ spricht, macht er den Westen für den Niedergang der UdSSR verantwortlich. Noch immer fehlt die Bereitschaft, für eigenes Handeln einzustehen.
Diese Haltung ist sowjetisch – ihre Ursprünge aber reichen weiter zurück. Sie liegt in der – auch religiös konnotierten – Opferrolle begründet, die Russland sich schon seit der Zarenzeit zuschreibt. Wer Opfer ist, kann nicht schuldig sein. Ein Opfer hat überdies das Recht, sich aus seiner Lage zu befreien. Was es bei diesem Versuch anrichtet, entzieht sich moralischer Bewertung.
Mit dieser Opferrolle begründet Moskau heute seine militärischen Abenteuer. Ob im Krieg gegen Georgien, bei der Annexion der Krim, im Donbass oder in Syrien: Die Wahrheit wird missachtet oder geleugnet. Dahinter steckt die sowjetische Annahme, dass Fakten immer nur verdeckten Zielen dienten. Eine neurotische Weltsicht, die von Unsicherheit und Angst vor Bedrohung geprägt ist.
Das Gefühl der Unsicherheit werde als Rechtfertigung genutzt, um militärische und polizeiliche Macht auszubauen, urteilte der US-Diplomat und Russlandkenner George Kennan 1946. Nicht zuletzt ist dies das Vehikel, mit dem der russische Nationalismus seit Jahrhunderten operiert und dabei das Verständnis von Angriff und Verteidigung verwischt. Auch dem begegnen wir heute wieder.
Eine Wiedererrichtung der UdSSR als geopolitische Einheit droht zwar nicht. Finanzielle und militärische Mittel fehlen, um das alte Reich wieder an die Kandare zu nehmen. Der Einsatz des altersschwachen Flugzeugträgers „Admiral Kusnezow“ gab eine Kostprobe. Mit „Smoke on the water“ unterhielt er auf dem Weg nach Syrien spöttelnde Kommentatoren. Auch das Projekt der Eurasischen Union – als neoimperiale Neuauflage russischen Reichsstrebens – kommt nicht wirklich voran.
Ist Wladimir Putins Alleinherrschaft auch ein Stück sowjetisches Erbe? Russland wird seit je autokratisch regiert. Nach Monarchie und der Diktatur Stalins übernahm ein Generalsekretär die Parteiführung, das Politbüro als kollektive Leitung gewann wieder an Bedeutung.
Putin ist unterdessen völlig ungebunden. Der gelernte KGB-Spion und russische Exgeheimdienstchef wird von niemandem kontrolliert und muss auf niemanden hören. Auch ideologisch hat er freie Hand: Er nimmt, was sich ihm bietet, und entpuppt sich als postmoderner Herrscher. Was glänzt und hilft, ist auch willkommen: Sei es sowjetischer Supermachtstatus und Sieg im Zweiten Weltkrieg oder Zarenpracht und Orthodoxie – alles passt unter Putins Hut.
Nichtzusammenpassendes miteinander zu verknüpfen hat in Russland eine lange Tradition. Die Sowjetunion setzte dieses Erbe nur fort. Gestern noch schwang sich der kommunistische Staat dazu auf, dem Proletariat weltweit das atheistische Paradies zu verheißen und feierte sich als Speerspitze des universalen Fortschritts. Damals verfolgte Wladimir Putin in Leningrad Dissidenten
Heute heißt Leningrad St. Petersburg – und in Moskau fordert das Sowjetgeschöpf Wladimir Putin mit der gleichen Inbrunst, als Hüter des Traditionalismus und der konservativen Werte anerkannt zu werden, die er im Sowjetstaat mit Stumpf und Stiel ausgerottet und verfolgt hatte. Nicht die Botschaft ist ewig, sondern der messianische Anspruch, hinter dem sich aus russischer Sicht qua natura eine Führungsrolle versteckt.
Messianismus kann in vielen Gewändern überleben. So zieht Moskau aus dem Selbstentwurf, eine zivilisatorische Vorhut zu stellen, auch den Glauben, immer im Recht zu sein, nicht fehlen zu können. Das war die Verheißung des russischen Kommunismus, der Inhalt der strahlenden Gesichter junger Komsomolzen. Dieses Unfehlbarkeitsdogma will Russland heute zurückerobern
Die UdSSR brach nicht zuletzt zusammen, weil sie sich rüstungstechnisch übernommen hatte. Als Mitte der 1980er Jahre der Ölpreis sank, ließ sich die Krise nicht mehr aufhalten. Hauptgrund für den Kollaps war die Abhängigkeit vom Devisenbringer Öl. Auch das leugnet Russland hartnäckig. Ernste Debatten über die anhaltende Rohstoffabhängigkeit des Landes finden weiterhin nicht statt – obwohl Russland heute vor dem gleichen Problem steht wie damals die Sowjetunion.
Auch wissenschaftliche Expertise wird nicht herangezogen. Wäre Moskau lernbereit, würde es sich von alten Gepflogenheiten trennen: keine Fakten mehr zu leugnen und auch die Suche nach äußeren Feinden einzustellen. Stattdessen aber hüllt Russland die Welt weiter in Mythen und übertüncht die dramatische Historie von Blut und Brüchen mit erfundenen Erfolgsgeschichten.
Dazu gehört auch die Nostalgie für die Sowjetunion, die das Land erfasst hat. 56 Prozent bedauern in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts heute das Ende der UdSSR. Bevor Wladimir Putin 2012 erneut ins Amt kam, war der Wert schon mal unter 50 Prozent gefallen.
Russland wehrt sich gegen Einsichten. Das macht das Land zu einem schwierigen und in der Tat unverstandenen Gesprächspartner. Die Aufklärung über Russland muss daher in unseren Gesellschaften beginnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana