++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++: Unionsgetriebene Rückführungsdebatten
Entscheidungen über Asylanträge syrischer Staatsbürger sollen erstmal zurückgestellt werden. Derweil denkt Söder schon über Rückführungen nach.
Tausende syrische Soldaten in den Irak geflohen
Seit der Machtübernahme der Rebellen in Syrien sind Tausende Soldaten der syrischen Armee über die Grenze in den Irak geflohen. Mehr als 4.000 von ihnen hätten ihre Waffen, Munition und Fahrzeuge abgegeben und würden in einem Lager untergebracht, sagte ein Vertreter einer Miliz im Westirak, der Anbal-Stammes-Mobilisierungstruppen, am Montag der Nachrichtenagentur AP. Eine andere Gewährsperson berichtete, dass Sonntagnacht der Gouverneur der syrischen Region Hasaka mit einem Konvoi syrischer Soldaten an die Grenze gekommen und über den Grenzübergang Kaim in den Irak gelangt sei.
Die irakische Regierung hat enge Beziehungen zum Iran, der Schutzmacht des gestürzten syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. In den Konflikt zwischen den in einer Blitzoffensive vorgerückten syrischen Rebellen und Assad hat sich der Irak nicht eingeschaltet. (ap)
Auch Österreich stoppt laufende Asylverfahren von Syrern
Nach dem Sturz von Baschar al-Assad setzt Österreich sämtliche Asylverfahren von Syrern aus. Diese Maßnahme sei auf Anweisung von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) umgesetzt worden, teilte das Innenministerium in Wien mit. Betroffen sind nach Angaben des Ministeriums rund 7300 offene Asylverfahren in erster Instanz.
Von Januar bis November 2024 seien 12.871 Asylanträge von syrischen Staatsbürgern gestellt worden. Zusätzlich sollen alle bereits gewährten Asylbescheide überprüft werden. „In diesem Zusammenhang habe ich das Ministerium beauftragt, ein geordnetes Rückführungs- und Abschiebeprogramm nach Syrien vorzubereiten“, sagt Innenminister Gerhard Karner (ÖVP). Auch der Familiennachzug wird bis auf Weiteres ausgesetzt. (rtr)
Keine Entscheidungen mehr zu Asylanträgen von Syrern
Wie viele von den rund 975.000 Syrern, die sich in Deutschland aufhalten, in die Heimat zurückkehren wollen, ist derzeit nicht absehbar. Zumal unter ihnen einige sind, die schon vor der großen Flüchtlingszuwanderung der Jahre 2015 und 2016 in Deutschland lebten und Menschen, die inzwischen die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen und diese teils auch bereits beantragt haben. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden im Jahr 2023 rund 75.500 Syrerinnen und Syrer deutsche Staatsbürger.
Aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien haben sich am Wochenende zwar schon etliche Flüchtlinge auf den Weg zurück in die Heimat gemacht. Doch die Mehrheit wartet erst einmal ab, weil die Lage noch unübersichtlich ist. Aus Oppositionskreisen heißt es, bislang gebe es keine Berichte über Gräueltaten beim Vorrücken der Rebellen und Milizen nach Damaskus. Ob den Zusicherungen der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) bezüglich des Schutzes religiöser Minderheiten zu trauen sei, müsse aber erst einmal abgewartet werden.
Unter den in Deutschland lebenden Syrern waren Ende Oktober laut Bundesinnenministerium 5.090 Asylberechtigte, 321.444 Menschen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde sowie 329.242 Syrerinnen und Syrer, die subsidiären Schutz genießen. Der greift, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden, den Betroffenen aber im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Aufgrund der veränderten noch unübersichtlichen Lage sollen Entscheidungen über Asylanträge syrischer Staatsbürger nun erst einmal zurückgestellt werden, sagt eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums. Aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) heißt es, man habe einen sofortigen Entscheidungsstopp verhängt. Derzeit seien mehr als 47.000 Asylanträge von Syrern anhängig, davon 46.081 Erstanträge. (dpa)
EU unterhält „derzeit“ keinen Kontakt zur HTS in Syrien
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad unterhält die Europäische Union nach Angaben aus Brüssel keinen Kontakt zu der Miliz. „Die Europäische Union arbeitet derzeit nicht mit der HTS oder ihren Anführern zusammen“, sagte ein Kommissionssprecher. Die HTS und ihr Anführer Abu Mohammed al-Dscholani stehen nach Angaben der Kommission auf einer Sanktionsliste, mit der die EU gegen islamistische Organisationen vorgeht.
Die 27 EU-Länder forderten am Montag einen „geordneten, friedlichen und umfassenden Übergang“ in Damaskus. Die Syrerinnen und Syrer müssten die Möglichkeit bekommen, „ihr Land wiederaufzubauen und Gerechtigkeit wiederherzustellen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. „Wir fordern alle Akteure auf, weitere Gewalt zu vermeiden.“ (afp)
Israel meldet Angriff auf Chemiewaffenlager in Syrien
Angesichts des Sturzes der Regierung von Baschar al-Assad hat Israel nach eigenen Angaben Chemiewaffenlager in Syrien beschossen. „Wir haben strategische Waffensysteme angegriffen, darunter Reste von Chemiewaffen oder Langstreckenlenkwaffen und -raketen, damit sie nicht in die Hände von Extremisten fallen“, sagte der israelische Außenminister Gideon Saar.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte hatte die israelische Armee bereits „Stunden nach Bekanntwerden“ von Assads Sturz am Sonntag und erneut in der Nacht zum Montag militärische Stellungen und Lager in mehreren Landesteilen Syriens angegriffen. Dabei seien gezielt Lager für Luftabwehrwaffen und Munitionsdepots der syrischen Armee in den an der Mittelmeerküste gelegenen Städten Latakia und Tartus ins Visier genommen worden.
Israel habe darüber hinaus im Süden Syriens Angriffe auf das nahe der annektierten Golanhöhen gelegene Tal al-Hara und Militärstellungen in Israa in der Provinz Daraa unter Beschuss genommen, erklärte die Beobachtungsstelle. Nahe der Hauptstadt Damaskus beschoss Israel demnach Lager mit Panzerabwehrwaffen.
Am Sonntag hatte die israelische Luftwaffe laut der Beobachtungsstelle bereits einen Gebäudekomplex mit Einrichtungen von Militär, Geheimdiensten und Zoll in Damaskus sowie Stellungen und Waffenlager nahe dem Militärflughafen Masseh angegriffen. (afp)
EU-Kommission empfiehlt keine Rückkehr nach Syrien
Die EU-Kommission warnt vor allzu großen Hoffnungen auf schnelle und unproblematische Rückkehrmöglichkeiten für Flüchtlinge nach Syrien. Die Bedingungen für eine sichere und würdevolle Rückkehr nach Syrien seien nach derzeitiger Einschätzung nicht gegeben, sagte ein Sprecher in Brüssel.
Die aktuelle Lage sei von großer Hoffnung, aber auch von großer Unsicherheit geprägt. Es werde an jedem Einzelnen und an jeder Familie sein, zu entscheiden, was sie tun möchte. Der Sprecher machte damit auch deutlich, dass es aus Sicht der Kommission bis auf weiteres keine Abschiebungen geben sollte. (dpa)
Söder äußert sich zur Rückkehr von Syrern
Die Union will Syrer unterstützen, die nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Baschar al-Assad in ihr Heimatland zurückkehren wollen. „Der Grund für viele Menschen, das Land zu verlassen, ist weggefallen“, sagte CSU-Chef Markus Söder. „Der Grund, Syrien zu verlassen, war der Krieg und war Assad.“ Man müsse jetzt eruieren, wann und wie Flüchtlinge zurückkehren könnten.
Jens Spahn, einer der Vizechefs der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sagte den Sendern ntv und RTL, die Bundesregierung müsse jetzt ein Angebot machen. „Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der zurück will nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1.000 Euro.“
Deutschland, Österreich, die Türkei und Jordanien – die Staaten, die am meisten syrische Flüchtlinge aufgenommen hätten – müssten zudem schnell in Kontakt treten, um eine Wiederaufbau- und Rückkehrkonferenz zu planen. „In der Mittelfrist haben wir die Erwartung, dass, wenn es eine Perspektive Stabilität in Syrien gibt, dass dann syrische Flüchtlinge auch zurückkehren nach Syrien. Subsidiärer Schutz, wie schon der Begriff sagt, heißt eben Schutz, solange es einen entsprechenden Grund gibt, nicht im Heimatland zu sein.“
Es sei richtig, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nun neue Asylanträge von Syrern zurückstelle. „Das ist die richtige Entscheidung. Es muss sogar überlegt werden, wie eine stärkere Rückführung in die syrische Heimat von vielen Menschen möglich ist.“ Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Achim Brötel, warnte vor der Aufnahme von Helfern des Assad-Regimes. „Zu glauben, dass sich all diese Menschen jetzt freiwillig stellen werden, damit sie einer gerechten Strafe zugeführt werden, wäre naiv“, sagte er der Rheinischen Post. (rtr)
Sicherheitsrat tagt zu Syrien
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad beschäftigt sich der UN-Sicherheitsrat nach Angaben aus Diplomatenkreisen am Montag mit der Lage in dem Land. Die von Russland beantragte Dringlichkeitssitzung ist für 15.00 Uhr (Ortszeit, 21.00 Uhr MEZ) angesetzt, wie die Nachrichtenagentur AFP aus Diplomatenkreisen erfuhr. Zuvor hatten islamistische Kämpfer in Syrien die Hauptstadt Damaskus erobert und die Regierung gestürzt. (afp)
🐾 „Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
Viele Syrer*innen wollen abwarten, wie es nun weitergeht, sagt Svenja Borgschulte von Adopt a Revolution. Abschiebungen seien daher kein Thema. taz-Autor Tobias Schulze hat mit ihr darüber gesprochen.
Assad-Familie in Moskau eingetroffen
Der gestürzte syrische Präsident Baschar al-Assad ist nach Angaben russischer Medien nach Moskau geflohen. „Assad und seine Familienmitglieder sind in Moskau angekommen“, berichteten die staatlichen Nachrichtenagenturen Tass und RIA Nowosti am Sonntag unter Berufung auf eine Quelle im Kreml. Russland habe „aufgrund humanitärer Erwägungen“ Asyl gewährt.
Ein westlicher Regierungsvertreter sagte auf die Frage, ob er Assads Aufenthalt in Moskau bestätigen könne, dass er dies für wahrscheinlich halte und keinen Grund habe, die russischen Berichte anzuzweifeln.
Russische Stellen stünden „mit Vertretern der bewaffneten syrischen Opposition in Kontakt“, hieß es in dem Bericht der russischen Agenturen weiter. Deren Anführer hätten „die Sicherheit der russischen Militärstützpunkte und diplomatischen Einrichtungen auf syrischem Territorium garantiert“.
Russland war seit Jahren ein wichtiger Verbündeter der Assad-Regierung und hatte den Machthaber im syrischen Bürgerkrieg seit 2015 auch militärisch unterstützt. In Syrien verfügt Russland bis heute über einen wichtigen Marinestützpunkt in Tartus an der Mittelmeerküste und einen Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim.
Mit Blick auf die Zukunft Syriens rufe Russland zu einer „Fortsetzung des politischen Dialogs im Interesse des syrischen Volkes“ und einer Weiterentwicklung der „bilateralen Beziehungen zwischen Russland und Syrien“ auf, hieß es in den Berichten von Tass und RIA Nowosti weiter. Russland sei „schon immer“ für eine politische Lösung des Syrien-Konflikts gewesen. (afp)
Iran: Assad hat „niemals“ um Unterstützung gebeten
Der entmachtete syrische Präsident Baschar al-Assad hat angesichts der Offensive von Islamisten in den vergangenen Tagen nach Angaben des Iran seinen Verbündeten nicht um Hilfe gebeten. „Wir wurden niemals um Hilfe gebeten“, sagte der iranische Außenminister Abbas Araghtschi am Sonntag im staatlichen Fernsehen. Es wäre Aufgabe der syrischen Armee gewesen, die Offensive der Islamisten abzuwehren, die letztlich am Sonntag zum Sturz von Assad führte.
Die Führung im Iran gilt neben Russland als engster Verbündeter Assads. Teheran unterstützte Assad jahrelang im syrischen Bürgerkrieg unter anderem mit Militärberatern. Zudem konnte der syrische Machthaber auf Kämpfer der ebenfalls vom Iran unterstützten libanesischen Hisbollah-Miliz zählen. Während der Ende November gestarteten Offensive der regierungsfeindlichen Islamisten griffen Assads Verbündete aber nicht ein, um deren Vormarsch zu stoppen.
Nach der Eroberung von Damaskus durch die Islamisten und dem Sturz von Assad war am Sonntag neben dem Palast und der Residenz des geflohenen Präsidenten auch die iranische Botschaft in der syrischen Hauptstadt gestürmt worden. Ein AFP-Fotograf sah in der Botschaft geplünderte Büroräume, zerbrochene Möbel und Glassplitter auf den Böden sowie zerfetzte Bilder unter anderem des geistlichen Oberhaupts des Iran, Ayatollah Ali Chamenei. (afp)
Israel schickt Truppen in Pufferzone
International wurde der Sturz Assads vielerorts begrüßt, zugleich gibt es erhebliche Sorgen über mögliches Chaos in Syrien und eine Ausweitung des Konfliktes. Israel reagierte auf die Entwicklung im Nachbarland, indem es Truppen in die entmilitarisierte Pufferzone zu Syrien auf den Golanhöhen entsandte, in der UN-Blauhelme stationiert sind. Bei einem Besuch vor Ort sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu, er habe die Armee angewiesen, in die Pufferzone einzurücken und die Kontrolle über dieses Gebiet sowie „angrenzende strategische Positionen“ zu übernehmen. Israel werde es „keiner feindlichen Kraft erlauben, sich an unserer Grenze festzusetzen“.
Der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, sagte, Israel habe mehrere Waffenlager im Osten Syriens angegriffen. Er berichtete von „verstärkten israelischen Angriffen“ auf solche Ziele seit dem Sturz Assads. (afp)
USA greifen IS-Stellungen in Syrien an
US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Sturz von Assad als eine „historische Gelegenheit“ für die Menschen in Syrien und einen „fundamentalen Akt der Gerechtigkeit“. Assad müsse für seine Taten „zur Rechenschaft gezogen“ werden. Zugleich warnte Biden, einige der Gruppen, die zum Sturz Assads beigetragen haben, wiesen eine „schlimme Bilanz des Terrors“ auf.
Derweil führten US-Streitkräfte am Sonntag dutzende Angriffe auf Stellungen der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien aus. Ziel der Angriffe war es nach Angaben des US-Zentralkommandos (Centcom), zu verhindern, dass der IS den Vorteil der aktuellen Umsturz-Situation in Syrien ausnutzt. (afp)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht