Femizid an Hatun Sürücü: Der verlorene Sohn meldet sich bei Youtube
Can Sürücü, Sohn der vor 20 Jahren von ihrem Bruder ermordeten Hatun Aynur Sürücü, erzählt erstmals seine Geschichte. Dafür bekommt er viel Zuspruch.
Empfohlener externer Inhalt
Mein Name ist Can Sürücü (Teil 1)
„Ich bin Can Sürücü“, sagt der junge Mann in einem Video. Und allein mit diesem Satz, allein mit seinem Namen, hat er schon einen großen Teil seiner Geschichte erzählt. Denn der Mittzwanziger, der sich nun gemeinsam mit einem Freund auf YouTube und Tiktok zu Wort gemeldet hat, ist der Sohn von Hatun Aynur Sürücü, die 2005 von ihrem jüngsten Bruder getötet worden war. Sie hatte sich aus Zwängen ihrer Familie befreit und ihr Leben selbst nach ihren Vorstellungen gestaltet. Der Bruder erschoss sie an einer Bushaltestelle vor ihrem Wohnhaus in Tempelhof. Ein Femizid, gedeckt von der Familie, vorgeblich im Namen der Ehre.
Die Frau: Hatun Sürücü wurde 1982 in Berlin geboren. Mit 16 Jahren zwang ihre Familie sie dazu, ihren in Istanbul lebenden Cousin zu heiraten, von dem sie auch schwanger wurde. Sie verließ ihn und kehrte zurück nach Berlin, wo sie ihren Sohn Can zur Welt brachte und ihn allein aufzog. Außerdem begann sie eine Lehre. Den Namen „Aynur“ (dt. Mondschein) gab sie sich selbst. Am 7. Februar tötete ihr jüngster Bruder Ayhan Sürücü sie mit drei Kopfschüssen aus nächster Nähe an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Ihr Tod löste bundesweit Entsetzen und eine Debatte über sogenannte Ehrenmorde aus.
Der Prozess: Im Prozess vor dem Berliner Landgericht sagte die Exfreundin von Ayhan Sürücü aus, die beiden älteren Brüder Mutlu und Alpaslan seien an der Vorbereitung der Tat beteiligt gewesen. Ayhan wurde zu neun Jahren und sechs Monaten Jugendstrafe wegen Mordes verurteilt, die Brüder wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Freisprüche hob der Bundesgerichtshof 2007 wieder auf. Aber da hatten sich Mutlu und Alpaslan bereits in die Türkei abgesetzt. Ayhan wiederum wurde nach Verbüßung seiner Tat im Juli 2014 in die Türkei abgeschoben. Anfang 2016 wurde ein neuer Prozess gegen Mutlu und Alpaslan in Istanbul eröffnet. Allerdings kam es nicht zur geplanten Aussage von M., der Kronzeugin der Anklage aus Berlin. Sie lebt seit dem ersten Prozess unter Zeugenschutzprogramm im Ausland – und war angeblich für die türkischen Behörden nicht auffindbar. So wurden Mutlu und Alpaslan erneut aus „Mangel an Beweisen“ freigesprochen.
Der Preis: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus hat 2013 den Hatun-Sürücü-Preis initiiert. Mit diesem Preis zeichnet die Fraktion Projekte und Initiativen aus, die Mädchen, Frauen und von Marginalisierung betroffene Menschen unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen.
Der Film: „Nur eine Frau“ (A Regular Woman) ist ein Kino-Spielfilm von Sherry Hormann. Er kam im Mai 2019 in die deutschen Kinos und handelt von Hatun Aynur Sürücüs Leben und Biografie. Sandra Maischberger produzierte den Spielfilm, die Hauptrolle übernahm die Deutsch-Türkin Almila Bagriacik. Regisseurin, Produzentin und die Schauspielerin betonten, dass es ihnen mit dem Film wichtig war, Hatun Sürücü nicht als Opfer zu zeigen, sondern als Frau, die an sich glaubte und danach auch handelte. Der Film kann aktuell in der ard-Mediathek gesehen werden. (taz)
Can Sürücü war fünf Jahre alt, er stand kurz vor seinem 6. Geburtstag als er seine Mutter verlor. Das Jugendamt brachte ihn bei Adoptiveltern unter. Der Familie Sürücü war jeder Kontakt untersagt, und auch Freund*innen seiner Mutter wussten nicht, wo Can unter neuem Namen lebte. Und nun, gut 20 Jahre später, kommt er zurück nach Berlin. Er steht er wieder an den Orten, an denen er als Kind gespielt hat. Und er erzählt seinen ganz eigenen Teil der Geschichte, den Teil, den bisher niemand kannte.
„Ich zeige euch meine Gegend, wo ich mit meiner Mutter gelebt habe“, sagt Can Sürücü in einem seiner Videos. Er steht in einer Grünfläche, im Hintergrund sind Wohnblocks zu erkennen, und er zeigt auf eines der Häuser, dort habe ein Freund gelebt, der ihm aus dem Fenster zurief, wenn er ihn im Park sah. „Ich wollte das Video einfach mal hier beginnen, weil ich dachte, das ist ein guter Platz, wo wir anfangen können“, sagt er. „Das war so die Ecke, wo ich als Kind groß geworden bin.“
Kindheit in Tempelhof
Sürücü zeigt den Spielplatz neben dem Park, den Kindergarten auf der anderen Straßenseite, rund um den Bärenpark in Tempelhof, wo er mit seiner Mutter lebte.
Er erzählt, dass er hier Freunde gefunden und seine Liebe zu Anime entdeckt hat. Einmal habe ihm ein Junge sein neues Skateboard geklaut. Seine Mutter habe es zurückgeholt. „Das war so ein richtiger Heldenmoment“, sagt er.
Die Geschichte von dem Skateboard und von seiner Kindheit erzählt Sürücü auch auf dem Kanal des Youtubers Said Ibrahim. Wie es ihm nach der Tat erging erzählt er Ende September erstmals als Gast im YouTube-Format Besuchszeit.
Und er erzählt von seinem Leben nach dem Mord seiner Mutter. „Diese Nacht wird mich mein ganzes Leben verfolgen“, sagt er. Wie er schon im Bett lag. Wie die Mutter gesagt habe, sie gehe nur kurz runter, wie er sie noch aus dem Fenster mit dem Onkel habe weggehen sehen. Wie dann später die Polizei in die Wohnung gestürmt sei, wie zwei unbekannte Frauen ihn mitgenommen hätten. Auf die Frage, wo seine Mutter sei, habe er in der Nacht und auch in der Zeit danach erstmal keine Antwort bekommen. „Sie kommt bald wieder“, hätten Leute zu ihm gesagt. Er kam zu einer Adoptivfamilie nach Reutlingen.
Empfohlener externer Inhalt
Mein Name ist Can Sürücü (Teil 2)
Die Familie seiner Mutter habe versucht, das Sorgerecht für ihn zu bekommen. Aber das hätten die Behörden verhindert. Zum Glück, wie Sürücü auch sagt. „Purer Hass“, das sei das Gefühl, das er für die Familie heute empfinde. Erst als er 14 Jahre alt war, hätten ihm die Adoptiveltern seine Geschichte offenbart. Und er habe daraufhin erstmal einen Absturz mit Drogen und Depressionen erlebt.
Hatun Aynur Sürücü, in Berlin geboren und aufgewachsen, war von ihrer kurdischen Familie in Istanbul in eine Ehe mit einem Mann gezwungen worden. Sie befreite sich daraus, kam zurück nach Berlin, wo sie ihren Sohn allein groß zog, in einer eigenen Wohnung lebte und eine Lehre als Elektroinstallateurin absolvierte. Bis sie ihr jüngster Bruder am 7. Februar 2005 mit drei Kopfschüssen aus einer Pistole tötete. An der Bushaltestelle in der Nähe ihres Wohnhauses in Tempelhof erinnert heute ein Gedenkstein an die junge Frau. Die Tat hatte damals bundesweit Entsetzen ausgelöst und war als sogenannter „Ehrenmord“ diskutiert worden.
Anerkennung und Liebe
Nun erzählt Can Sürücü von sich und seinem Leben in Videos, die er unter dem Accountnamen Ramo und Cemo gemeinsam mit einem Freund auf Tiktok, Instagram und YouTube veröffentlicht. Er zeigt, was die patriarchale Gewalt, die seiner Mutter das Leben kostete, auch mit ihm gemacht hat. Und er bekommt dafür sehr viel Anerkennung, Zuspruch und Liebe.
„Lieber Can, ich hab mich immer gefragt was aus dir geworden ist“, schreibt eine Nutzerin. „Respekt, dass du darüber redest und deine Gedanken teilst und an den Ort zurückgehst.“ Sie wünsche ihm viel Kraft und Stärke. „Wir haben 20 Jahre auf dich gewartet“, „wir haben uns immer gefragt, was aus dir geworden ist“, schreiben andere. „Man fühlt sich mit dir verbunden, ohne dich je gesehen zu haben“, steht unter einem anderen Video. Noch im vergangenen Februar hatte die Schwägerin von Hatun Aynur Sürücü gesagt, dass sie Can gern von seiner Mutter erzählen würde. Sie hatte sich von der Sürücü-Familie losgesagt.
Andere Youtuber versuchen nun anscheinend, mit auf das Thema aufzuspringen. Der Kanal „Milchgesicht“ hat ein Telefoninterview mit dem verurteilten Mörder veröffentlicht. Er lebt inzwischen in der Türkei. In dem Video plaudern die Youtuber mit ihm wie mit einem ganz normalen Gesprächspartner, etwa darüber, ob er die Strafe gerechtfertigt fand. Hatun Aynurs Bruder war damals zu 9 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden.
Grabstätte in Spandau
Das Grab von Hatun Aynur Sürücü befindet sich auf dem Landschaftsfriedhof Gatow in Spandau. Zum 20. Todestag im Februar war unklar, wie es mit der Grabstätte weitergehen wird, weil der Nutzungsvertrag für das Grab nach dieser Zeitspanne abläuft. Der Bezirk hatte beim Land angeregt, das Grab in ein Ehrengrab umzuwandeln. Dann hätte der Bezirk die Kosten für die Pflege übernommen.
Das Land hingegen lehnte den Vorschlag ab. Der Senat argumentierte, dass Ehrengräber Personen vorbehalten seien, die zu Lebzeiten „hervorragende Leistungen mit engem Bezug zu Berlin erbracht oder sich durch ihr überragendes Lebenswerk um die Stadt verdient gemacht“ hätten. Eine abschließende Lösung für das Grab ist weiterhin noch nicht gefunden.
Das Schicksal von Hatun Aynur Sürücü aber bewegt weiterhin viele Menschen. Jedes Jahr legen Menschen an ihrem Todestag Blumen am Gedenkstein ab. Berlin hat eine Brücke nach ihr benannt. Schüler*innen beschäftigen sich mit ihrer Geschichte, und die Initiative Heroes spricht an Schulen mit Jugendlichen über Männlichkeitskonzepte. Auf Tiktok halten Creator*innen die Erinnerung an sie hoch. Can Sürücü zeigt sich in seinem Video davon überwältigt. „Ich habe auch gar nicht damit gerechnet, dass es immer noch so viele Leute interessiert“, sagt er. „Ich bin echt sprachlos, dass es immer noch so ein großes Thema ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!