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Rechtsextreme Massendemo in LondonDen Kampf für Freiheit nicht den Rechten überlassen

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Nach dem Mord an Charlie Kirk geben sich Rechtsextreme als Verteidiger der Redefreiheit. Die freie Rede meint jedoch nicht die Freiheit zur Hetze.

Weit über 100.000 sollen an der Massendemonstration gegen Migration in Großbritannien teilgenommen haben Foto: Jaimi Joy/reuters

V or zehn Jahren rief man in Paris „Je suis Charlie“ (Ich bin Charlie) als Ausdruck der Solidarität nach dem islamistischen Terrorangriff auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo. An diesem Wochenende wurde in London „I am ­Charlie“ zum Kampfruf von Rechtsextremisten nach der Erschießung des rechten US-Aktivisten Charlie Kirk vor laufender Kamera. So fundamental haben sich zwischen 2015 und 2025 die Koordinaten des politischen Diskurses in der westlichen Welt verschoben.

Noch nie sind in London, einer der multikulturellsten Städte der Welt, so viele Menschen dem Demonstrationsaufruf eines gewaltbereiten Rechtsextremisten gefolgt wie am 13. September. Organisator Tommy Robinson konnte sein Glück sichtlich kaum fassen und sieht sich schon an der Spitze einer Revolution. Elon Musk, zugeschaltet aus den USA, sprach von einem Kampf um Leben und Tod, wobei Trump-Gegner in den USA das schon seit einer Weile tun. Großbritannien ist historisch das Land, in dem neue kulturelle Trends aus den USA als Erstes in Europa landen.

„I am Charlie“ ist da kein Ausrutscher. Für das rechtsextreme Milieu tobt tatsächlich ein Kampf um die Rede- und Meinungsfreiheit. Man sieht sich als Opfer staatlicher Regulierung der sozialen Medien und restriktiver Sprech- und Sprachvorgaben durch „Woke“-Aktivisten in Politik und Kultur. Von MAGA in den USA bis zu Reform UK in Großbritannien und Rechtspopulisten in Europa ertönt die immer gleiche Klage: Man darf nicht mehr sagen, was man will, und nicht mehr sprechen, wie man denkt.

Die Verächter sprachlicher Autorität verteidigen

Es ist kein Zufall, dass in immer mehr Ländern Parteien vom rechten Rand die Meinungsumfragen anführen und durch ihre Nähe zu Trump und Putin glaubhaft politische Respektabilität beanspruchen. Das liegt nicht nur an der Migrations- und der Klimapolitik, den zwei klassischen Streitthemen. Im liberalen und linken Lager wird häufig übersehen, wie verheerend es sich politisch auswirkt, die „Freiheit der Rede“ der extremen Rechten zu überlassen, selbst wenn diese damit in der Praxis Freiheit zur Hetze und zur Lüge meint.

„Ich bin Charlie“ darf keine Parole der extremen Rechten werden. Die Gegenkräfte zum weltweiten Rechtsruck müssen sich fragen, ob sie auch heute noch für Charlie Hebdo eintreten würden, für den Salman Rushdie der „Satanischen Verse“, für die Verächter sprachlicher und spiritueller Autorität weltweit. Oder ob sie nicht längst selbst diese Autorität beanspruchen und sich damit einer rechten Kritik im Namen der Freiheit aussetzen – einer Kritik, die zwar verlogen ist, aber leicht verfängt.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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17 Kommentare

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  • " Im liberalen und linken Lager wird häufig übersehen, wie verheerend es sich politisch auswirkt, die „Freiheit der Rede“ der extremen Rechten zu überlassen, selbst wenn diese damit in der Praxis Freiheit zur Hetze und zur Lüge meint."



    Wer soll denn dann die Freiheit der Rede überwachen? Trusted Flagger? Meldestellen, angesiedelt bei einschlägigen "Demokratieprojekten"?



    Wer wirkliche Freiheit der Rede will, muß Haß, Hetze und Geschwafel aushalten können. Alles andere führt zur Zensur.

  • Was 'Linke' nicht verstehen, weil sie nicht (genug) von Armut und Verwahrlosung betroffen sind und es das Marxsche 'Proletariat' als einheitlich oeganisierte Arbeiterklasse gegenüber den 'Kapitalisten' in der arbeitsteiligen Welt (mit immer weniger Auskommen für qualifizierte Arbeit) so nicht gibt, besteht überhaupt für den Rechtspopulismus die Chance, sich gegen bürgerliche Regierungen und -eigentlich nur eingeschränkte Freiheit, die Eigentumdberhältnisse und Recht der Sprache betrifft- zu behaupten. Wenn sich 'Linke', aufrechte Gewerkschaftler und Intelektuelle an einer AfD oder dem Trumpismus abarbeiten, verkennen sie die Lage, in die der Kapitalismus viele und immer mehr -durch Automatisierung, Roboter oder IT überflüssig werdende- Menschen gerade bringt und dass es globalisiert auftretenden Mächten immer mehr gelingt, die Bevölkerungen zu spalten und gegeneiannder aufzubringen. 'Wohlstand' und Demokratie sind so gesehen nur Zwischenetappen, die zu ganz anderen Erkenntnissen führen müssen, wenn sie als solche verstanden werden. Wo bleiben da die taz, die Grünen und andere alternative 'Andersdenkende' ? Da hilft kein AfD-Verbot!

  • "An diesem Wochenende wurde in London „I am ­Charlie“ zum Kampfruf von Rechtsextremisten nach der Erschießung des rechten US-Aktivisten Charlie Kirk vor laufender Kamera. " Nur am Rande bemerkt: Man muss nicht rechts sein, um „I am ­Charlie“ zu vertreten, so wie man nicht links sein musste, um "„Je suis ­Charlie“ zu vertreten. Rede- und Meinungsfreiheit sind unteilbar.

    • @PeterArt:

      Die Identifikationsleistung "I am Charlie" soll nicht rechts sein? "He shouldn't have been killed" reicht als verurteilendes Statement. Eine Identifikation ist für die Verteidigung der Meinungsfreiheit nicht notwendig.

      • @My Sharona:

        „Je suis Charlie“ im Sinne von "ich bin mit angegriffen" oder "es geht auch gegen mich" wurde seinerzeit von vielen vertreten, die diese Zeitung als geschmackloses Schmutzblatt strikt ablehnten.



        „Wenn Freiheit irgendetwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ (Orwell)



        Der Hauptgegensatz zu Links ist nicht Rechts sondern Liberal. In den USA wurde der Begriff von Totalitären gekapert und seine Bedeutung muß zur Klarstellung jetzt "libertär" genannt werden.

  • Die Situation in UK zeigt, wie rasend schnell sich die Stimmung heutzutage drehen kann. Noch vor einem Jahr hat Labour erdrutschartig die Parlamentswahlen gewonnen und entsprechend war von einem Linksruck im Land die Rede. Es gibt keine politischen Gewissheiten mehr. Eine neu gewählte Regierung hat kaum mehr Zeit, sich mit guter Politik zu bewähren und zu beweisen, dass gut durchdachte Maßnahmen mittel- oder langfristig wirken. Es geht nur noch ums kurzfristige Überleben. Es ist eine Katastrophe, denn so schlecht funktioniert es mittlerweile praktisch überall, wo noch frei gewählt werden darf. Keine guten Nachrichten für die Demokratie.

  • "Im liberalen und linken Lager wird häufig übersehen, wie verheerend es sich politisch auswirkt, die „Freiheit der Rede“ der extremen Rechten zu überlassen, selbst wenn diese damit in der Praxis Freiheit zur Hetze und zur Lüge meint."

    Ehrlich gesagt verstehe ich diesen Satz nicht so ganz. Nur weil die Rechte behauptet, dass man heutzutage nicht mehr alles sagen dürfe, heißt das ja nicht, dass das zutrifft. Die Dominanz rechter Agitation auf allen Kanälen widerlegt diese These ganz klar. Oder dass Meinungsfreiheit bedeutet, dass Jene recht haben, die am lautesten schreien und am erfolgreichsten ihre Lügen verbreiten.



    Oder sollen die Demokraten die Mittel der Rechten übernehmen, wie es gerade diskutiert wird? Also populistisch verkürzte Statements in die Welt posaunen?



    Wir müssen konstatieren, dass die Rechte zurzeit sehr erfolgreich Themen setzt und damit die Agenda bestimmt und bis jetzt anscheinend kein Kraut dagegen gewachsen ist. Das Pendel schlägt weltweit nach rechts aus und es ist leider kein Ende in Sicht.

    • @Klabauta:

      > bedeutet, dass Jene recht haben, die am lautesten schreien



      "Wir sind mehr" wurde von der Regierung und einem Großteil der Medien als valides Sachargument vertreten. Wo sie in die Minderheit geraten, sieht es natürlich gleich ganz anders aus. Um diese Doppelzüngigkeit geht es bei der Bewertung der Reaktionen.

    • @Klabauta:

      Ich habe diesen Satz und den Kontext des gesamten Artikels so verstanden, dass Linke und Liberale oft selbst die Redefreiheit als Wert nicht mehr vertreten.

      Dass Sprachvorgaben und Regulierungen nun in der Gesellschaft ein Thema sind, lässt sich schlecht leugnen.

      Nach meinem Verständnis wünscht sich Herr Johnson, dass auch Linke und Liberale (Rede-)freiheit als Wert mehr und deutlicher vertreten.

      • @rero:

        Es wird halt oft "reden" mit "politisch sprechen" verwechselt. "Reden" kann jeder, was er will, solange nicht sehr liberal gesetzte Grenzen von Volksverhetzung überschritten werden. Viele fühlen sich angegriffen, weil nicht mehr jedes Reden immer unwidersprochen bleibt, doch echte Folgen gibt es wegen des "Z-Schnitzel", des generische Maskulinum, sogar wegen des N-Worts usw. nicht. Für das "politische sprechen" gelten andere, strengere Regeln. Wenn sie nicht eingehalten werden ist es nur Gerede oder (leider oft) Gepöbel. Und die Regeln des politischen Sprechens umfassen eben: Faktenbasiertheit/empirische Evidenz + Lösungsorientierung + Vernunft/Nachvollziehbarkeit + Verantwortung (nicht vorschnell, nicht verhetzend).

  • Die Aussage das noch nie in London so viele Menschen dem Demonstrationsaufruf eines gewaltbereiten Rechtsextremisten gefolgt sind ist etwas irreführend.

    Wie bereits bei früheren Demonstrationen hat Tommy Robinson es auch diesmal verstanden seine Anhänger aus dem gesamten Königreich zu mobilisieren und nicht nur Londoner.

    Großbritannien war schon immer ein Land der extremen Ungleichheit. Seit dem Brexit hat sich diese massiv verschärft. Das multikulturelle London ist in dieser Hinsicht ein Seismograph für den Rest des Landes.

    Es sind auch weniger kulturelle Trends sondern extenzielle Sorgen in der Bevölkerung, die längst auch die Mitte der Gesellschaft erfasst haben.

    Vorreiter ist hier, speziell in London, der Wohnungsmarkt. Zwei meiner Töchter studieren in London. Die Miete ihres Appartements ist in drei Jahren um 180€ angestiegen.

    Bei derartigen wirtschaftlichen Verhältnissen ist es für Rechtspopulisten ein leichtes zu polarisieren und das Thema Migration zu instrumentalisieren zumal die Zahl der Asylsuchenden seit dem Brexit von Jahr zu Jahr ansteigt. Es ist also das Gegenteil von dem eingetreten, was mit dem Brexit versprochen wurde.

    • @Sam Spade:

      Anstatt sich einzugestehen, dass die Zustimmung einer Mehrheit zum Brecit ein Fehler war, laufen die Demonstrierenden lieber weiter den Rattenfängern hinterher, denen sie schon damals auf den Leim gingen, anstatt nach dem wahren Grund für zu hohe Mieten etc. zu fragen.

      • @Klabauta:

        Sieht danach aus das konkrete Lösungen gar nicht so sehr gefragt zu sein scheinen, sondern es die eigentliche Lust am Protest ist die im Zentrum steht.

        Sehr gut zu beobachten bei der Wahl jetzt in Norwegen. Da wurde die Vermögenssteuer zum Thema gemacht, die gerade einmal 1,1% beträgt und nur eine Minderheit betrifft. Da wurde erwogen Asylverfahren ins Ausland zu verlegen und das bei einem vierstelligen Wert von jährlichen Anträgen. Da wurde ein Schwerpunktthema Gesundheitswesen eröffnet und eine Bevölkerung mit einem der höchsten pro Kopf Einkommen der Welt diskutierte ernsthaft, ob 15-30€ Arztgebühr für einen Erstbesuch angemessen sei.

        Alles Themen die fern ab der Realität gesetzt wurden und den Rechtspopulisten immerhin 20% einbrachten.

        Diskussionswürdig wären gewesen Klima und Küstenschutz, Reduzierung und Umstellung der Rohstoffgewinnung, Armut unter Migranten, Jugendkriminalität und Landesverteidigung.

        Bis auf die Bandenkriminalität erzeugte keines der Themen eine breite Öffentlichkeit.

        Da verwundert es nicht mehr, wenn die Falschen mit ihren gesetzten Themen punkten.

  • Die Redaktion von Charlie Hebdo wurde ermordet, weil sie provokant von ihrem Recht auf freie Rede Gebrauch gemacht hat.

    Charlie Kirk wurde - wahrscheinlich - ermordet, , weil er provokant von ihrem Recht auf freie Rede Gebrauch gemacht hat.

    Wer etwas von Grundrechten hält, kann hier keinen Unterschied machen, egal was man von den Inhalten hält.

    Anders sieht das z.B. J.D.Vance, der Redefreiheit nur für ihm genehme Inhalte haben will. Dieser Kommentar klingt für mich leider zu sehr nach umlackiertem Vance.

  • > So fundamental haben sich zwischen 2015 und 2025 die Koordinaten des politischen Diskurses in der westlichen Welt verschoben.



    2015: Solidarität mit und Beileid für von fanatischen Ideologen Ermordete, auch von denen, die deren Kunst geschmacklos fanden.



    2025: Solidarität mit und Beileid für den von fanatischen Ideologen Ermordeten, auch ohne Zustimmung zu seinen Positionen.



    Es hat sich etwas verschoben, das stimmt. Es gab einmal eine Taz die für jedes Leben eintrat und jeden Mord verurteilte -- ist länger her.

    • @Axel Berger:

      Bei allem was bisher über den mutmaßlichen(!) Mörder von Charlie Kirk bekannt ist, halte ich es für ziemlich abwegig diesen gleichzusetzen mit den islamistischen Attentätern von Charlie Hebdo, es handelt sich hier doch um zwei ziemlich unterschiedliche Fälle.



      Zumal hier noch nicht alle Ermittlungen abgeschlossen sind und viele Dinge noch unklar sind.

      Dass die Taz diesen Mord nicht verurteilt oder sogar begrüßt ist in meinen Augen aus keinem Artikel zu diesem Thema ersichtlich.

      • @PartyChampignons:

        Wo hätte ich ein "begrüßt" auch nur angedeutet? Der Vorwurf tut mir so unrecht wie der Taz. Daß allerdings die Verurteilung diesmal deutlich leiser und halbherziger daherkommt, werden auch Sie nicht übersehen können.