Debatte um die Rente: Mithalten im Privatisierungs-Bingo, aber richtig
Die Debatte um die Rente wird derzeit mit Tempo aus der verstaubten Ecke geholt. Gekonnt wird der demografische Wandel zum Sozialabbau genutzt.
E s ist Rentendebatte, und da ist Bernd Raffelhüschen nie weit. Der Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Freiburg verfügt mit seinen hellen Locken und dem jungenhaften Grinsen über eine Dany-Cohn-Bendit-hafte Anmutung, was in interessantem Kontrast zu seiner politischen Mission steht. Die lautet seit Jahrzehnten: Abbau der Sozialsysteme zugunsten der privaten Versicherungswirtschaft.
So unterstützt Raffelhüschen aktuell auch Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), die sich für eine Rente mit 70 ausgesprochen hat: „Es ist vernünftig, die Beiträge konstant zu halten und das Rentenniveau abzuschmelzen“, erklärt Raffelhüschen. Alles andere sei eine unfaire Belastung der „zukünftigen und jungen Generation“.
Dieses sogenannte Argument verblüfft mich jedes Mal. Sollte die „zukünftige und junge Generation“ nicht auch ein Interesse an einer Rente haben, von der man leben kann? Die Gemeinten werden jedoch stets so gehandelt, als dürften ihnen nur die Rentenbeiträge wichtig sein, denn Hoffnung auf eine Rente bräuchten sie sich ohnehin nicht zu machen. Auch in linken Kreisen wird oft schnodderig-cool behauptet, die Rente sei quasi nur noch eine Luftspiegelung, verlorene Sache.
Demografischer Wandel und der Sozialabbau
Warum eigentlich?, sollte speziell diese „zukünftige und junge Generation“ lieber fragen, finde ich. Schließlich hat sich das gesetzliche Rentensystem bisher als relativ elastisch erwiesen. Man muss es eben verbessern, um es stabiler zu machen. Und man muss es gegen seine VerächterInnen verteidigen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein Freund von mir hat sich genau das vorgenommen und schreibt gerade ein Buch darüber, wie der demografische Wandel zum Sozialabbau benutzt wird. Kolossal kann er sich über die Fernseh-Rhetoriktricks der RentenexpertInnen auf Kapitaldeckungsticket aufregen. Darunter: die Denunziation der Sozialsysteme durch erschröckliche Riesenzahlen, wie es zum Beispiel auch der Bochumer Sozialökonom und Wirtschaftsweise Martin Werding bei der letzten Rentenreform gemacht hat.
Da werden dann Summen wie „500 Milliarden Beitragsmittel zusätzlich“, Ausrufezeichen!, „Wer soll das bezahlen?“, in den Raum geworfen – und es geht beinahe unter, dass ein Zeitraum bis 2039 beschrieben ist. Umgelegt aufs Jahr, sind 500 Milliarden dann gar nicht mehr so viel, gemessen daran, was die Rentenkasse so umwälzt.
Wer die Agenda-2010-Zeit unter Kanzler Gerhard Schröder noch im Gedächtnis hat, der wird im anlaufenden Privatisierungs-Bingo mühelos mithalten können: Die „zukünftige und junge Generation“ hatten wir schon. Damit untrennbar verbunden: „Wir werden alle immer älter.“ (Nur kurz: Nein – die Lebenserwartungen unterscheiden sich nach Einkommen.) Dazu gehören auch „explodierende Lohnnebenkosten“ und natürlich „gewerkschaftliche Betonköpfe“. Oh, Moment. Hat von den Gewerkschaften überhaupt schon jemand etwas gesagt? Gibt’s da noch SozialexpertInnen? Vielleicht denken sie alle: Das wird schon nicht so schlimm, wenn nach den Sommerferien die Umbaudiskussionen zu Rente, Gesundheit, Pflege so richtig losgehen.
Nach Lektüre des Koalitionsvertrags dachte ich auch (und schrieb es an dieser Stelle), dass die Kommissionen, die da befasst werden sollen, schon keinen allzu großen Druck aufbauen würden. Andererseits ist die 100-Tage-Bilanz des Kanzlers diese Woche derartig mies ausgefallen (abgesehen von der Außenpolitik), dass er auf Ideen kommen könnte. Nicht dass das Arbeitgeberlager noch von ihm abrückt. Ich wette, bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft prüfen sie schon die Entwürfe für eine dicke Herbstkampagne von der Sorte „Merz, mach uns den Schröder“.
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